Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
Скачать книгу
Abtretung Tripolitaniens und der Cyrenaika. Dieses Vorgehen erschien unbedenklich: Österreich-Ungarn war an einer Schwächung des Osmanischen Reiches interessiert, während Frankreich gerade sein Protektorat Marokko ausbaute. Als drei Tage später Sultan Mehmed V. die Forderung zurückwies, erfolgte die sofortige Kriegserklärung, da Italien vom schwachen Osmanischen Reich keinen nennenswerten Widerstand erwartete.

      Der sollte überraschenderweise von der einheimischen Bevölkerung kommen. Sie hatte unter der osmanischen Herrschaft relativ unabhängig gelebt und sah in den Italienern nichts anderes als feindliche Invasoren. Nach einem blutigen und verlustreichen Gefecht bei Sciara Sciat in der Nähe von Tripolis am 23. Oktober 1911 lagen die Nerven der Italiener blank. In den folgenden Tagen und Wochen wurden Tausende von Arabern erschossen, ihre Hütten verbrannt und das Vieh beschlagnahmt. Etwa 4000 Muslime wurden auf die Strafinseln Trementi und Ponza verschleppt. Mit den wenigen osmanischen Truppen zogen sich die lokalen Araber- und Berberstämme ins Landesinnere zurück. Lenin bezeichnete den Italienisch-Türkischen Krieg deshalb als »ein vervollkommnetes, zivilisiertes Massaker, ein Abschlachten der Araber mit neuzeitlichsten Waffen«, er nannte die Zahl von 14 800 getöteten Arabern.126

      Am 18. Mai 1912 stellte der Zentrumsabgeordnete Peter Spahn (1846–1925) im Reichstag fest, dass die Unruhe in der Welt fortdauere. Deutschland sei mit den Verhältnissen konfrontiert, die sich durch den Krieg in Tripolis ergeben haben. Auch würde Deutschland wirtschaftlich durch die Unruhen in China berührt. Außerdem seien die Verhältnisse in Marokko noch nicht geordnet. »Nach allem, was wir wissen,« so Spahn, »hat sich unser Auswärtiges Amt darauf beschränkt, in Gemeinschaft mit den übrigen Großstaaten bei der Türkei und bei Italien auf den Schutz des Verkehrs und die Herbeiführung des Friedens hinzuwirken, ohne eigene selbständige Schritte zu tun, und ich glaube, daß dieser Standpunkt der richtige ist, wobei ich nur betonen will, daß es für uns hauptsächlich darauf ankommen muß, einmal die Einmütigkeit der Großmächte im bezug auf ihr Verhalten zur Türkei und zu Italien zu erhalten, und dann daß die Betätigung dieser Einigkeit in der Richtung der Friedensbestrebungen zu gehen hat.«127 Weiter führte er aus, dass die Einigkeit vor allem dem Schutz des eigenen Handelsverkehrs nach der Türkei und den vom Krieg berührten Plätzen dienen solle. Mit Blick auf den am 30. März 1912 mit Muley Hafid, dem Bruder des Sultans, abgeschlossenen Vertrag über das französische Protektorat über Marokko würden die Schwierigkeiten nicht im Abschluss, sondern erst der Ausführung dieses Vertrages liegen. Wie visionär!

      In der gleichen Sitzung wies der national-liberale Abgeordnete Ernst Bassermann (1854–1917) die Behauptung, Deutschland habe die Spannungen in der Welt mit zu verantworten, als unrichtig zurück und stellte fest: »Deutschland hat in den 40 Jahren eine Friedenspolitik getrieben im Gegensatz zu manchen anderen Staaten. Welche großen Ereignisse sind in diesen 40 Jahren an uns vorübergezogen! Wie ist es England, Frankreich, Japan und heute Italien gelungen, ihren Besitz zu erweitern! Ich erinnere Sie demgegenüber an die Tatsache, daß, wenn irgend mal in der Welt die Mutmaßung auftauchte, daß Deutschland eine Kohlenstation erwerben wolle, wir dann sofort unsererseits Verwahrung, oft überflüssigerweise, eingelegt haben, daß wir solche Expansionsgelüste haben. Ich verweise Sie auch auf die unerfreuliche, aber doch durch das Gefühl der Notwendigkeit der Friedenserhaltung geleitete deutsche Politik in der Marokkofrage.«128 Hier erkannte der Abgeordnete, dass Frankreich in seiner Eroberung Marokkos nicht von kriegerischen Zusammenstößen mit diesen kräftigen Berberstämmen verschont bleiben würde – das konnte auch 2013 in Mali beobachtet werden, wo aufgrund von Al-Qaida-Terror die blutigen Fingerabdrücke einer weniger gut getarnten französischen Rekolonisierung des ehemaligen Französisch-Afrikas zu erkennen waren.129

      Bassermann sah jedoch eine Zeit kommen, »in der Marokko, das wertvolle Land, genau so pazifiziert sein wird wie Algier, das können wir wohl der französischen Energie, die in seiner Kolonialpolitik sich geltend macht, zutrauen.«130 Hier aber sollte Bassermann irren.

      Der sozialdemokratische Abgeordnete Eduard David (1863–1930) lenkte den Blick auf England und wies auf eine Änderung in der englischen Flottenpolitik hin. Dazu zitierte er aus der jüngsten Rede des britischen Marineministers Winston Churchill: »Wenn die Hauptaufgabe der Flottenentwicklung in den letzten zehn Jahren darin bestand, die britische Flotte an entscheidenden Orten zu konzentrieren, so scheint es mir nicht unwahrscheinlich, daß die Flottenentwicklung in den nächsten zehn Jahren ein Wachstum der Flottenstärke in den großen Dominions über See bringen wird. Dann werden wir sozusagen eine Arbeitsteilung zwischen dem Mutterland und den Töchterstaaten vornehmen können.«131

      Diese Überlegungen entsprachen durchaus den Ideen des US-amerikanischen Seestrategen Alfred Thayer Mahan (1840–1914; siehe Seite 141 sowie 313 f.). Aufgrund seiner Studien kam Mahan zu dem Schluss, dass Inselstaaten aufgrund ihrer geographischen Lage einen naturgegebenen Vorteil beim Wettbewerb auf dem Meer haben: »Die Geschichte hat schlüssig nachgewiesen, daß ein Staat selbst mit einer einzigen kontinentalen Grenze zum Wettbewerb im Aufbau einer Marine mit einem Inselstaat unfähig ist, auch wenn dieser Inselstaat nur über eine kleinere Bevölkerung und geringere Mittel verfügt.«132 So war Deutschland hinsichtlich der Flottenpolitik für Großbritannien kein ernstzunehmender Gegner, im Gegenteil, denn wertvolle strategische Ressourcen wurden durch den Flottenbau vernichtet.

      Erst im Herbst 1912 fand sich die Türkei zu Friedensverhandlungen bereit – nicht nur weil Italien die Truppen massiv verstärkt hatte und seine Kriegsflotte erfolgreich vor den osmanischen Küstenregionen operierte. Es formierte sich außerdem eine neue, größere und massivere Bedrohung als der italienische Kolonialismus an der Nordgrenze des Osmanischen Reiches: Die Schwäche der Türkei hatte weitere Begehrlichkeiten geweckt. Unter der seit 1909 propagierten Formel »Der Balkan den Balkanvölkern!« fassten Serbien und Bulgarien im Frühjahr 1912 einen »Balkanbund« ins Auge.133 Gemeinsam sollte eine Ausdehnung Österreich-Ungarns verhindert und Albanien sowie Makedonien von der Türkei befreit werden. Damit waren umfangreiche Konflikte vorprogrammiert, deren Lösungen sehr wesentlich vom Verhalten der Bündnispartner Serbiens und Österreich-Ungarns abhängen würden. An der Konstruktion des Bundes war maßgeblich der russische Gesandte in Belgrad, Nikolaus von Hartwig, beteiligt, der zwischen 1910 und 1914 als »ungekrönter König von Serbien« das Feld beherrschte.

image

      Dampfkessel Balkan: Den Deckel halten gemeinsam der russische Zar, der englische Premier, der Deutsche Kaiser, der französische Premierminister und der K.-u.-k.-Monarch (v. l. n. r.) (© Abb. 10)

      Bereits 15 Jahre zuvor, Anfang 1897, hatte der englische Staatsmann William E. Gladstone die europäische Öffentlichkeit mit der Frage verblüfft: »Why not Macedonia for Macedonians as well as Bulgaria for Bulgarians and Serbia for Serbians?«134 Damit hatte er nicht nur die Makedonier aus der Taufe gehoben – eine Nationalität, die sich allein über den Namen ihres Siedlungsraumes definierte –, sondern auch Serbien und Bulgarien in ihre Grenzen verwiesen. Hier liegt nun der Verdacht nahe, dass es ihm dabei weniger um die Bewohner dieser Region ging als vielmehr um die englischen Großmachtinteressen.135

      Am 13. März 1912 schlossen Bulgarien und Serbien einen Offensivvertrag gegen die Türkei, eine geheime Anlage wies alle Entscheidungen Russland zu. Dem folgte am 29. Mai ein bulgarisch-griechischer Vertrag, am 2. Juli die bulgarisch-serbische und am 25. September die bulgarisch-griechische Militärkonvention. Schon im Frühsommer 1912 hatte sich Serbien zudem der Hilfe des aufständischen Albaniens versichert. Am 8. Oktober erklärte Montenegro eigenmächtig der Türkei den Krieg, bis zum 17. folgten Bulgarien, Griechenland und Serbien.

      Entschlossen und umfassend griff der Balkanbund die Türkei an, welche sich im Südosten an der Tschataldscha-Linie behaupten konnte, im Westen aber herbe Niederlagen einstecken musste: am 24. Oktober Niederlage bei Kumanova, Serben besetzen die Adriaküste bei Durazzo; am 26. Oktober Räumung von Üsküb (Skopje); am 8. November ziehen Griechen und Bulgaren in Saloniki ein, am 18. November fällt Monastir, das letzte Ziel aber – Konstantinopel – blieb unerreicht. Der türkische Großwesir Kiamil Pascha bat die Großmächte um Friedensverhandlungen,