Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
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      Nach dem Waffenstillstand führte der serbische Gesandte Ristic Mitte Dezember 1912 in Bukarest ein aufschlussreiches Gespräch mit dem rumänischen Innenminister Take Jonescu (1858–1922). Dieser war überzeugt, dass die Großmächte keinen Krieg wünschten. »Wenn ich von Großmächten spreche«, so Jonescu, »meine ich nur diese drei: Deutschland als Militärmacht, England als Seemacht und Frankreich als Finanzmacht. Russland, Österreich-Ungarn und Italien, besonders letzteres, können als Großmächte nicht in Rechnung gezogen werden.« Dann versuchte Jonescu dem serbischen Gesandten ins Gewissen zu reden: »Wäre ich ein Serbe, so würde ich mich mit dem, was Serbien gemäß den in London getroffenen letzten Vereinbarungen erhalten hat, zufrieden stellen. Es ist klug, ein Maximum von dem zu verlangen, was erreichbar erscheint. Aber man darf nicht etwas noch darüber hinaus begehren, besonders das nicht, was man erwünscht. An eurer Stelle hätte ich z. B. Österreich-Ungarn nicht getrotzt und dem serbischen Heere nicht den Vormarsch zum Adriatischen Meere befohlen. Ich glaube nicht, wie ihr, dass in diesem Falle die Frage eures Hafens nicht einmal auf diese Weise geregelt worden wäre, wie dies jetzt tatsächlich geschehen ist.«136 Abschießend versuchte Jonescu Ristic die Bedeutung der in diesem Krieg gemachten serbischen Gewinne begreiflich zu machen: »Ihr dagegen habt euch im stillen und ohne Lärm zum Krieg vorbereitet und Siege davongetragen, die ihr euch wahrscheinlich selbst nie erhofft hattet.«

      Diese Siege erregten die Serben in Bosnien, sie fühlten, dass »ihnen der künftige Kampf gegen die Muselmanen und katholischen Serben – mit anderen Worten: gegen die Regierung – ganz leicht sein wird«, schreibt der serbische Gesandte Jovanović aus Wien an Pašić. »Die serbischen Siege – das gesicherte Kossovo, wie sie sagen – sind eine unerschöpfliche Kraftquelle für alle ihre Ziele.«137

      Ebenso wie Bismarck vertrat Kaiser Wilhelm II. für den Balkan die »Nicht-Intervention um jeden Preis«138. Um den Dreibund zu retten, brachte ihn Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856–1921) von dieser Position ab. Schon am 22. November 1912 erklärte der Kaiser dem österreichischen Generalstabschef Blasius von Schemua, dass Österreich-Ungarn »auf Deutschlands Unterstützung unter allen Verhältnissen voll zählen« könne.139 Das ging wiederum dem Staatssekretär des Äußeren, Kiderlen-Waechter, zu weit. Der ließ in der regierungsnahen Norddeutschen Zeitung einen Artikel veröffentlichen, in dem vor einem militärischen Vorgehen Österreich-Ungarns auf dem Balkan gewarnt wurde, was in Österreich-Ungarn zu Rückfragen, erheblichen Irritationen und verbitterten Kommentaren führte.

      In der Reichstagssitzung vom 2. Dezember 1912 war Bethmann Hollweg um Schadensbegrenzung bemüht: »Als wir den Kampf als unvermeidlich ansahen, haben wir vor allem darauf hingewirkt, ihn zu lokalisieren. Dies ist bis jetzt gelungen, und ich kann wohl die bestimmte Hoffnung aussprechen, daß dies auch weiter gelingen wird.« Deutschland wolle wie die anderen auch bei einer Nachkriegsregelung mitreden: »Denn an der ökonomischen Gestaltung im Orient sind wir sehr wesentlich direkt interessiert.« Zur Konfliktlösung zwischen den Großmächten finde ein lebhafter und erfolgversprechender Gedankenaustausch statt. Wenn aber »unsere Bundesgenossen bei Geltendmachung ihrer Interessen wider alles Erwarten von dritter Seite angegriffen und damit in ihrer Existenz bedroht werden sollten, dann würden wir, unserer Bündnispflicht getreu, fest und entschlossen an ihre Seite zu treten haben, – (lebhafter Beifall vom Zentrum und von den Nationalliberalen) – dann würden wir an der Seite unserer Verbündeten zur Wahrung unserer eigenen Stellung in Europa, zur Verteidigung der Sicherheit und Zukunft unseres eigenen Landes fechten.« Daraufhin ging der Kanzler auf den Konflikt zwischen der Türkei und den Balkanstaaten ein. Die deutsche Politik ziele seit Langem darauf ab, die guten wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu den Balkanstaaten und der Türkei zu erhalten und zu stärken. »Wir glauben, hierdurch der Türkei manchen Dienst geleistet zu haben, ohne daß wir dabei unsere guten Beziehungen zu anderen Mächten gefährdeten. Dieser Politik, die allerdings bei Ausbruch des türkisch-italienischen Krieges gerade bei uns heftig angegriffen wurde, möchte ich es als einen Erfolg vindizieren …, daß wir uns während des Kampfes zwischen einem Bundesgenossen und einem Freunde die Sympathien beider zu erhalten gewusst haben.« Bethmann Hollweg hoffe auf die Fortsetzung und Erstarkung dieser freundschaftlichen Beziehungen.140

      Der mit Haase und Liebknecht zum linken SPD-Flügel zählende Abgeordnete Georg Ledebour (1850–1947) warnte vor einer absoluten Bündnistreue und warf dem Reichskanzler vor, wenig zur Aufklärung der gegenwärtigen Situation beigetragen zu haben. Er erinnerte an Äußerungen Bülows und Wilhelms II., die seiner Meinung nach diplomatische Fehlgriffe darstellten, und an die unglückliche Tangerreise des Kaisers. Schließlich zitierte Ledebour aus dem Trinkspruch Wilhelms II. auf den Sultan am Ende seiner Palästinareise (8. November 1898): »Möge der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, die auf der Erde zerstreut leben, die in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der Deutsche Kaiser ihr Freund sein wird.« Dieser Toast habe beim Sultan wie bei den Türken den Glauben erweckt, dass sie bei Angriffen fremder Mächte auf die Unterstützung Deutschlands rechnen könnten. »Das war eine leichtfertige Festlegung Deutschlands auf eine werktätige Bundesgenossenschaft, die nicht durchgeführt werden konnte.« Ledebour ignorierte dabei wie viele andere den Umstand, dass der Trinkspruch in erster Linie von einem protestantischen Oberhaupt an ein anderes religiöses Oberhaupt gerichtet und keine Parteinahme im politischen Sinne war.

      Weiter führte er aus: »Diese Versicherung hat den Sultan und hat die Türkei und hat die 300 Millionen Mohammedaner, denen Kaiser Wilhelm II. und das Deutsche Reich Freundschaft versicherten, nicht davor behütet, daß nachher Marokko französisch, Tripolis italienisch geworden ist und die Türken jetzt aus Europa so ziemlich restlos herausgeklopft wurden.«141 Hier scheint Ledebour vergessen zu haben, dass der Kaiser beim Versuch, die Souveränität Marokkos zu retten, gerade vonseiten der Sozialdemokraten heftig angegriffen wurde.

      Die Ursachen der Kriege hatten, so Ledebour, ihre Wurzeln in kapitalistischer Ausbeuterei. Künftige Kriege könnten durch die Macht der Internationale verhindert werden. Der Abgeordnete Graf von Kanitz hielt das für eine Illusion und entgegnete: »Die beste Friedensgarantie ist die Einmütigkeit und Geschlossenheit eines hinter seiner Regierung stehenden Volkes.« Die jetzige Situation erinnere an das Frühjahr 1909: »Auch damals hatte Serbien im Vertrauen auf die russische Hilfe sich einen Weg nach dem Adriatischen Meere bahnen wollen, die russische Hilfe blieb aus, und obwohl die Brandfackel eines europäischen Krieges in Aussicht stand, gelang es dem Geschick unserer Diplomatie, das Feuer zu dämpfen, ehe es zu heller Flamme aufloderte.« Nun käme es darauf an, die für die Türkei unvermeidlichen Gebietsabtretungen auf ein vernünftiges Maß zu beschränken. Das könne schwierig werden, da sich der Balkanbund nicht zum Krieg gegen die Türkei verpflichtet, sondern schon im Voraus das Fell des Bären verteilt habe. Kanitz zeichnete ein Bild des Kriegsschauplatzes: »Griechenland hat Saloniki besetzt und hat offenbar die Absicht, Saloniki zu behalten, hat sogar noch den Hafen von Balona in Anspruch genommen oder wird ihn in Anspruch nehmen. In dem Bündnisvertrag zwischen den Balkanstaaten Bulgarien, Montenegro und Serbien aber heißt es, daß Saloniki den Bulgaren zufallen soll.« Nach Kanitz’ Überzeugung bestand die große Gefahr, dass nach einem Friedensschluss mit der Türkei die »hohen Verbündeten sich nachträglich in die Haare fahren, und daß hier noch ein sehr ernster europäischer Konflikt die Folge sein kann«. Auch würde sich das albanische Volk eingedenk seiner ruhmvollen Geschichte nicht aufteilen lassen. Das wäre aber die Voraussetzung für den serbischen Wunsch, einen Hafen am Adriatischen Meer zu besitzen – und zwar nicht bloß für seinen Handelsverkehr. Österreich und Italien wären sich in diesem Punkt einig und würden auch keine Teilannexion Albaniens zulassen. Kanitz zeigte Verständnis für den Wunsch Serbiens und brachte einen Vermittlungsvorschlag ein. Die Serben sollten einen Handelshafen am Adriatischen Meer erwerben und dort jeglichen Handelsverkehr abwickeln können. Damit wäre den wirtschaftlichen Wünschen Serbiens Rechnung getragen. Kanitz hatte jedoch die politischen Ziele Serbiens übersehen.142

      Nur vier Tage zuvor hatte Ministerpräsident Pašić dem serbischen Geschäftsträger143 Gruitsch in London die Anweisung Nr. 219 übermittelt, mit dem britischen Außenminister Sir Edward Grey über den Wunsch Serbiens nach einem Hafen an der Adria zu sprechen und Durazzo (alban. Duressi) als Hafen vorzuschlagen. »Auf die Frage Greys, ob dieser Hafen allein aus wirtschaftlichen