Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
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sowohl der »Berliner Vertrag« als auch die Rechte des serbischen Volkes schwer verletzt worden seien. Österreich-Ungarn habe nur eine »provisorische Mission am Balkan zu erfüllen« gehabt, es sei als »Wächter gegen Russland bestimmt« gewesen, »bis sich die Lage am Balkan gefestigt« habe. Da Russland am Balkan aber gar keine aggressiven Absichten verfolge, sei die Voraussetzung für die Unabhängigkeit der Balkanstaaten geschaffen worden und die »Mission Oesterreichs-Ungarns auf der Balkanhalbinsel« beendet.«99 Stattdessen wolle es dort ständig verbleiben. Da die russische Politik als zu wenig slawenfreundlich angesehen wurde – Hoffnungen wurden auf Iswolski gesetzt –, sah man die natürlichen Verbündeten in den romanischen Völkern und in England. Wiederum unter stürmischem Beifall schloss der Abgeordnete Brunović, für Serbien heiße es nun leben oder sterben. Sollte »der Urtheilsspruch Europas ungerecht sein«, dann würden die Serben »mit der Waffe in der Hand die Drina überschreiten und jedem Bruder zurufen: Zieh mit in den Kampf!«100 Vor einem bewaffneten Eingreifen zugunsten Serbiens und Russlands schreckten Frankreich und Großbritannien aber vorerst zurück.

      Einen Tag später ließ Iswolski Belgrad mitteilen, dass Serbien sich mit der Situation abzufinden habe und weitere Provokationen unterlassen solle. Nunmehr beistandslos, gab Serbien also am 31. Februar 1909 den Widerstand auf und kündigte an, gegenüber Österreich-Ungarn einen Richtungswechsel einzuleiten, »um von nun an in guter Nachbarschaft mit dem Habsburgerreich zu leben«101.

      Äußerlich schien sich die Narodna Odbrana von einer revolutionären in eine friedliche, der Kultur verpflichtete Organisation zu wandeln. Doch innen blieb alles beim Alten. Ein interner Bericht hielt fest, dass »Österreich unser größter Feind ist. … Heute heißt es, uns durch beharrliche, fanatische Arbeit und nochmals Arbeit auf die Erfüllung der Aufgaben und Pflichten vorbereiten, die uns der zukünftige Krieg stellen wird.«102 Dennoch wurde die aktive Ausbildung von Freischärlern eingestellt. Bei der Auflösung erhielt Trifko Krstanović von General Janković die Anweisung, nach Sabac zu gehen und dort in den Dienst des örtlichen Narodna-Odbrana-Residenten, Božo Milanović, zu treten.

      Diese nach außen hin zur Schau gestellte Politik missfiel einigen heißspornigen und fanatisch nationalistisch eingestellten Offizieren. Sie beklagten sich über die Hasenfüßigkeit der Narodna Odbrana und die Unzuverlässigkeit der Mlada Bosna und wollten sich nicht mit den Kriegsvorbereitungen Serbiens zufrieden geben, sondern sofort aktiv werden. Am 9. Mai 1911 versammelten sie sich im Hinterzimmer der Redaktion der Zeitung Piemont, um die Geheimorganisation »Ujedinjenje ili Smrt« (»Vereinigung oder Tod«) zu gründen – heute besser bekannt als »Schwarze Hand« (Crna Ruka). Unter den Verschwörern waren Dragutin Dimitrijević, der maßgeblich an der Ermordung des serbischen Königs Aleksandar Obrenović und dessen Gattin beteiligt war, sowie Vojislav Tankosić, welcher die Beseitigung der Brüder der Königin übernommen hatte. Beiden Offiziere hatten seit 1903 eine unglaubliche Karriere an den Tag gelegt: Dimitrijević war vom Hauptmann zum Oberst, Tankosić vom Leutnant zum Major befördert worden.

      Die Geheimbündler schrieben sich die Verwirklichung des völkischen Ideals auf die Fahne: die Vereinigung aller Serben in einem Nationalstaat. Terroristische Taten sollten künftig der geistigen Propaganda vorgezogen werden, so Artikel 2 ihres Statuts. Zudem sollte Einfluss auf Regierungskreise sowie alle Bevölkerungsschichten Serbiens genommen und eine möglichst große Zahl von Mitgliedern gewonnen werden.103 Geheimhaltung, Unterordnung und Gehorsam waren unabdingbar. In den Artikeln 23 bis 33 wurde es zur Pflicht gemacht, neue Kandidaten zu werben und mit seinem Leben für diese einzustehen. Die Mitglieder wurden über Geheimnummern geführt, die nur das Belgrader Hauptkomitee kannte. Verhängte es eine Todesstrafe, kam es nur darauf an, dass die Ausführung einwandfrei erfolgte.104

      Der serbische Diplomat Miloš Bogičević, Herausgeber von diplomatischen Geheimakten aus serbischen, russischen, montenegrinischen und anderen Archiven105 – Originalmitschriften, die seltsamerweise von vielen renommierten Historikern nicht einbezogen werden –, konnte dennoch weitere Mitglieder der »Schwarzen Hand« identifizieren, so Dušan Obtrkic (Nr. 166), ein intimer Freund des bereits erwähnten Ljuba Jovanović, Milan Ciganović (Nr. 412), bosnischer Emigrant, Komitatschi und späterer Eisenbahnbeamter, Michael Gifković (Nr. 442), Sekretär am serbischen Kassationsgerichtshof, Demetrius Novakovic (Nr. 471), Sekretär an der Universität Belgrad und andere mehr. Unter Nr. 406 fand Bogičević ein ganz wichtiges Verbindungsglied zur Regierung von Nikola Pašić: Dr. Milan Gavrilović.106 Als Sekretär im Ministerium des Auswärtigen ließ er sich 1912 inoffiziell beurlauben, um als Komitatschi im Balkankrieg zu kämpfen. Danach stieg er zu Pašićs Sekretär auf, der zu diesem Zeitpunkt Premier und Außenminister zugleich war.

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      Faksimile der letzten Seite der Gründungsstatuten der »Schwarzen Hand«. Unter Nr. 6 die Unterschrift Dragutin Dimitrijevićs, der von 1913 an als mächtiger Chef des serbischen Geheimdienstes wirkte. Das Siegel zeigt eine Fahne mit einem Schädel und gekreuzten Knochen, umrahmt von Bombe, Dolch und Giftflasche (© Abb. 8)

      Zwischen 1942 und 1943 fungierte Gavrilović als Justizminister der jugoslawischen Exilregierung. Auch wurde von ihm die Zeitschrift Politika herausgegeben.107 1950 übersiedelte er in die USA.108 An der schillernden Person Milan Gavrilovićs, der eng mit Oberst Dimitrijević und dem Regierungschef Pašić verbunden war, wird deutlich, dass alle Wege des Attentats von Sarajevo nach Belgrad führen.

      Die Mitgliederliste zeigt, dass sich die »Schwarze Hand« nicht ausschließlich aus dem Militär rekrutierte. Nur mit der Durchdringung auch aller zivilen Kreise konnte eine effektive Schlagkraft erzielt werden. Eine gemeinsame Schnittmenge findet sich mit der Narodna Odbrana. Da beide Organisationen das gleiche Ziel hatten, gibt es zwangsläufig Doppelmitgliedschaften. Diese Verbindungen verleitete die Carnegie-Kommission zu dem Irrtum, erst gar nicht zwischen den beiden Organisationen unterscheiden zu müssen.109

      Um die völkische Vereinigung aller Südslawen und die Vernichtung Österreich-Ungarns kämpften nun zwei Exponenten, die nicht unterschiedlicher sein konnten: auf der einen Seite der hagere und durchtriebene politische Fuchs Nikola Pašić, einflussreicher Führer der prorussischen Radikalen, und auf der anderen, der 31 Jahre jüngere stiernackige Karriereoffizier Dragutin Dimitrijević. Dieser populäre Held hätte mit seiner spätmittelalterlichen Einstellung wohl eher ins Lager Wallensteins gepasst als in die moderne Zeit des 20. Jahrhunderts mit ihren politischen Intrigen. 1917 wird der intelligente Generalstabsoffizier Opfer seines politischen Widersachers Pašić werden.

      Verschlangen in Deutschland die industriellen Neugründungen jedes Jahr die Gewinne, so hatten England oder Frankreich, deren Industrie über ein Jahrhundert länger bestand, in ihren Sparkassen Milliarden angehäuft. Vor diesem Hintergrund hatte Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1902 versucht, mit den französischen Banken eine Finanzallianz ins Leben zu rufen, denn Deutschland benötigte für die von Sultan Abdülhamid II. erhaltene Konzession zur Bagdadbahn disponible Gelder. Es kam zu einem deutsch-französischen Bankensyndikat mit Arthur von Gwinner, Präsident der Deutschen Bank, an der Spitze. Als Vizepräsident fungierte Adolphe Vernes, ein Mitstreiter der Rothschilds in der »Compagnie du Nord« sowie Aufsichtsrat der Banque de l’Union Parisienne, der Banque Ottomana und der Eisenbahn Saloniki-Konstantinopel.110 Nach der Verständigung der Bankiers bahnte sich auch die Einigung der Diplomaten an. Damit war ein deutsch-französisches Freundschaftsabkommen in Sicht. Und das musste London beunruhigen.

      Bereits nach seinem Amtsantritt im Jahr 1901 hatte der britische König Eduard VII., ältester Sohn von Queen Victoria und Onkel des deutschen Kaisers Wilhelm II., die Annäherung an Frankreich gesucht. Anfang des Jahres 1903 erschien er nun mit großem Pomp in Paris. Und die Pariser, die nur zwei Jahre zuvor während des Burenkriegs »Es lebe Krüger!« und »Nieder mit Chamberlain!« gebrüllt hatten, skandierten nun »Es lebe Eduard VII.!«. Am Tag des Abschieds wurde klar, was der britische König mit Außenminister Delcassé und Vernes verhandelt hatte: Die Finanzagenturen verkündeten, dass sich Vernes und seine Gruppe vom Bagdadbahn-Konsortium zurückziehen würden. Das