Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
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einen Namen gemacht hatten. Hier eröffnete sich der Kampfnatur von Dimitrijević-Apis ein unbegrenztes Betätigungsfeld.

      Im engsten Einvernehmen mit der serbischen Regierung verfolgten geheime Netzwerke das Ziel, die in Österreich lebenden Südslawen aufzuwiegeln. Besonders erfolgreich arbeitete man in der Studentenschaft und an den Realschulen. Die Zentrale all dieser Bestrebungen lag in Belgrad, wo die Regierung sich zu dem Ziel bekannte, Österreich-Ungarn zu zertrümmern. Schon 1904 war in einer auf Veranlassung von Pašić – seit dem Königsmord von 1903 der eigentliche Kopf der auswärtigen Politik Serbiens – verfassten Denkschrift als wichtigster Programmpunkt Folgendes formuliert worden: »Agitation in Bosnien behufs Anschlusses an Serbien. Diskreditierung der dortigen österreichisch-ungarischen Administration durch systematische publizistische Propaganda und Nährung der Unzufriedenheit der orthodoxen und mohammedanischen Bevölkerung Bosniens und der Herzegowina.«64 Später gab die serbische Regierung zu, dass sie seit 1903 alle Fäden der unitarischen Bewegung in Österreich-Ungarn in Händen gehalten habe.65 Die K.-u.-k.-Monarchie setzte einen Wirtschaftsboykott entgegen, ein – wie heute auch – hilfloses Instrument. Es erwies sich als zu unscharf, um die Integrität der Doppelmonarchie auf Dauer vor der panslawischen Bewegung zu schützen.

      Der durch König Peter geförderte serbische Nationalismus erhoffte sich Schutz und Ermutigung durch Russland. Dort hatte man aber noch andere Pläne und musste Zeit gewinnen, um zunächst die ostasiatische Frage lösen und ungestört die imperialen Ziele in Asien verfolgen zu können. Deshalb schloss der Zar im Oktober 1903 ein Abkommen mit Österreich über Makedonien. Offiziell sollte gemeinsam auf dem Balkan für Ruhe und Ordnung gesorgt werden, in Wirklichkeit ging es Russland jedoch um freie Hand für seine Eroberungspolitik in Ostasien.66

      Zugleich erhielt die allslawische Bewegung Unterstützung aus Russland. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten Russen, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Slowenen, Serben, Montenegriner, Bulgaren u. a. begonnen, gemeinsame Aktivitäten in allen kulturellen Belangen anzustreben. In den 1830er-Jahren bekam der Panslawismus durch Polen und Tschechen politische Impulse, die von russischen Slawophilen gefördert wurden. Am ersten Slawenkongress im Mai 1848 nahmen 340 Vertreter teil, darunter 237 Tschechen.67 Auf dem zweiten Kongress in Moskau im Mai 1867 fehlten die Polen – die inneren Gegensätze und die russisch-polnische Feindschaft waren doch weit stärker als die an sich schon lockere Sprachenverwandtschaft der Slawen vermuten ließ. So brachten beide Kongresse keine konkreten Ergebnisse hervor. Das hinderte Russland aber nicht, sich als Verfechter der panslawischen Ideale darzustellen und vornehmlich in der orientalisch-türkischen Frage den Protektor abzugeben. Denn neben ideellen Zielen gab es handfeste geopolitische Interessen.

      Russland, zu jener Zeit das größte und mächtigste Reich der Welt, umfasste ein Sechstel der Erde, barg unermessliche Reichtümer und war militärisch unbezwingbar. Aber: Obgleich die gewaltigsten Flüsse Asiens Ob, Jenissei und Lena in ihrem endlosen Lauf kein einziges Mal zaristisches Territorium verließen und die majestätische Wolga in das Kaspische Meer mündete, führten die Wasserwege nicht in die Weltmeere –, darin lag die geopolitische Tragik des Zarenreiches. So musste es in Port Arthur am Gelben Meer (heute Lüshunkou, ein Stadtbezirk der chinesischen Stadt Dalian) einen Flottenstützpunkt errichten. Im Februar 1904 griff Japan, angespornt durch England, den Stützpunkt erfolgreich an. Zwei Monate später, am 8. April, schlossen das Vereinigte Königreich und Frankreich die Entente cordiale68. Im Januar 1905 mussten die russischen Truppen in Port Arthur kapitulieren. Das wirkte sich auf die Heimat aus: Steigende Brotpreise veranlassten unzufriedene russische Bürger, am 22. Januar 1905 zum Winterpalais des Zaren zu marschieren – geordnet und unbewaffnet. Dort forderten über 150 000 Demonstranten bürgerliche Freiheiten und wirtschaftliche Verbesserungen. Völlig überraschend eröffneten die Wachmannschaften das Feuer. Dieser »Petersburger Blutsonntag« forderte über einhundert Todesopfer, löste eine Welle der Empörung aus und führte zu einer Radikalisierung der Bevölkerung. Am 27. Juni 1905 meuterte die Besatzung des Panzerkreuzers Potemkin. Auch kam es zu antijüdischen Pogromen. In dieser aufgeheizten vorrevolutionären Atmosphäre befürwortete der aus dem Exil zurückgekehrte Lenin den bedingungslosen Kampf gegen das Zarentum: »Von der demokratischen Revolution werden wir«, so Lenin im September 1905, »zur sozialistischen Revolution übergehen. Wir sind für die ununterbrochene Revolution.«69

      Als Gegenkraft entstand im gleichen Jahr der russische Geheimverband »Schwarze Hundert« (Tschernaja Soinja), ein Sammelbecken orthodoxer monarchistisch-nationalistischer Gruppierungen, in dem der »Bund des russischen Volkes« (auch »Verband des echt russischen Volkes«) die bedeutendste darstellte. Ähnlich dem angelsächsischen Vigilantismus oder dem Ku-Klux-Klan, wurde »sytemstabilisierende(n) Selbstjustiz unter dem populistischen Deckmantel der Verteidigung höherer Werte und des Staates«70 ausgeübt. Die Gewalt war nicht selten rassistisch motiviert.71 So flammten erneut Pogrome gegen die Juden auf. Hunderte von Ortschaften wurden von den Ausschreitungen erfasst. Sie verliefen weitaus blutiger als die der Jahre 1881/82. Vom russischen Innenminister Wjatscheslaw Konstantinowitsch von Plehwe (1846–1904) wurden diese Pogrome als Racheakte der christlich-patriotischen russischen Menschheit gegen die jüdischen Revolutionäre hingestellt. Die gewalttätigen Bünde, die vor allem zwischen 1904 und 1906 Träger des Terrors gegen die Revolutionäre und Anstifter von antisemitischen Pogromen waren, wurden jedoch ohne Zweifel von den zaristischen Behörden unterstützt. Diese Gruppierungen gehörten zu den modernen europäischen nationalistischen Bewegungen. In der Folgezeit wurden die »Protokolle der Weisen von Zion« in Umlauf gebracht72 – angebliche Pläne zur Errichtung einer »jüdischen Weltherrschaft«, deren eigentliche Herkunft weitgehend unbekannt blieb.

      Der Sieg der bisher unbedeutenden Japaner im Herbst 1905 über den bis dahin mächtigsten Herrscher wirkte sich auf Russland verheerend aus. Zur Kompensation suchte Russland nun die slawische Welt unter seiner Führung zu einigen. Diese jüngere Form des Panslawismus – auch Neoslawismus genannt – richtete sich vor allem gegen Österreich und die Türkei und mittelbar auch gegen Deutschland. In dieser Phase trat Russland der Entente cordiale bei, die dadurch zur Triple Entente wurde, und trachtete nun danach, seine Einflusssphären auf dem Balkan zu vergrößern, um endlich einen ungehinderten Zugang zum Mittelmeer zu erhalten, was sowohl England als auch die Habsburger-Monarchie zu verhindern suchte. Aus diesem Grund plante der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, den bisherigen Dualismus Österreich-Ungarn zu einem Trialismus Österreich-Ungarn-Südslawien zu erweitern. Die einzelnen slawischen Bevölkerungsgruppen sollten weitgehende innere Autonomie erhalten.

      In den westlichen Medien werden heute Wohlhabende, die Teile ihres Vermögens für politische Ziele einsetzen und dabei auch wohltätigen Zwecken genügen, als Philanthropen bezeichnet. Demnach gelten u. a. die Milliardäre und Börsenspekulanten John D. Rockefeller, George Soros, Bill Gates und Warren Buffett als Menschenfreunde. Das mag dann auch auf den 1858 in Chicago geborenen Charles Richard Crane zutreffen. Er arbeitete in der von seinem Vater Richard T. Crane gegründeten Crane Company, einem »Global Player« in Sachen Sanitärprodukte. Schon früh entwickelte Crane jr. ein starkes Interesse für die verschiedenen Regionen des Osmanischen Reichs und die Freiheitsbestrebungen auf dem Balkan. Besonders fühlte er sich zu den slawischen Völkern und deren Kultur hingezogen. 1902 besuchte er Prag und lernte dort den Philosophieprofessor und Politiker Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) kennen. Den Zusatznamen Garrigue hatte der 1878 nach seiner Hochzeit mit der Amerikanerin Charlotte Garrigue angenommen. Er besuchte oft die Vereinigten Staaten und dachte sogar daran, sich dort als Hochschullehrer oder Journalist niederzulassen.73

      Aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte der Sohn eines slowakischen Kutschers und einer deutschen Bauerntochter mithilfe des damaligen Polizeidirektors von Brünn das dortige deutsche Gymnasium und später das Akademische Gymnasium in Wien besucht. Das Studium der Philosophie in Wien und Leipzig schloss Masaryk 1876 mit Promotion ab. Nur zwei Jahre später habilitierte er sich mit einer Schrift über den Suizid. Politisch aktiv, zog er 1900 mit der von ihm gegründeten