Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
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neuen Hauptstadt und bezog im Palazzo del Quirinale Residenz. Diese Maßnahmen führten zu einem jahrelangen Streit zwischen dem Haus Savoyen und dem Papsttum, in dessen Verlauf Viktor Emanuel II. sogar exkommuniziert wurde.

      Großbritannien erlebte unter Königin Viktoria – sie regierte von 1837 bis 1901 – die viktorianische Ära, die Blütezeit des Empire. Das größte Weltreich der bisherigen Geschichte erstreckte sich über ein Viertel der Erde. Neben den klassischen Siedlungskolonien Kanada, Australien, Südafrika und Neuseeland wehte in Pakistan, Bangladesch, Burma sowie auf einer Vielzahl von atlantischen und pazifischen Inseln die britische Flagge. Die mächtigste Flotte der Welt hatte Stützpunkte in jedem Winkel des Erdballs und konnte mühelos die Verbindungslinien zu den Kolonien und Protektoraten sichern.

      Um den strategisch wichtigen Handelsweg nach Indien zu sichern, kaufte die konservative englische Regierung unter Benjamin Disraeli (1804–1881) die Aktienanteile des ägyptischen Herrschers Ismail an der Suezkanal-Gesellschaft auf. Damit stieg die Bedeutung der Kolonie Indien. Nach der grausamen Niederschlagung des »Großen Aufstandes« 1858 nutzte London die Gelegenheit, die private Ostindien-Kompanie aufzulösen und Britisch-Indien zu einer formellen Kronkolonie zu machen. Die autarke Dorfwirtschaft sowie das indische Baumwollgewerbe wurden vernichtet. Im Gegenzug erhielt Indien Errungenschaften der Moderne – Eisenbahnen, Bewässerung und Häfen. Zugleich durfte das Land als Rohstofflieferant wie als Käufer britischer Fertigprodukte herhalten.

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      Größte Kolonialmacht und zugleich »Weltpolizist«: die Briten und ihr Empire um 1897 (zugehörige Besitzungen dargestellt mit dunklem Rand) (© Abb. 4)

      Königin Viktoria, seit 1877 auch Kaiserin von Indien, verfolgte fürsorglich die Entwicklung ihres inzwischen 18-jährigen Enkels Wilhelm, der zugleich auch Enkel des deutschen Kaisers Wilhelms I. war. Die britische Regierung aber beobachtete mit Misstrauen die Außenpolitik Deutschlands. Gleichzeitig bestimmte die Angst vor der südlichen Expansion Russlands und dessen Streben in Richtung Mittelmeer die britische Politik. Als Reaktion auf Russlands Krieg gegen das kränkelnde Osmanische Reich und den vorangegangenen Krimkrieg (1854–1856) besetzte Großbritannien 1878 die Insel Zypern, zuvor schon zeitweise Afghanistan. Insgesamt führte es in Afghanistan drei blutige und erfolglose Kriege: Der erste endete mit einer der verheerendsten Niederlagen des viktorianischen Zeitalters, als die britische Armee 1842 beim Abzug aus Kabul durch paschtunische Stämme, die mit russischen Waffen ausgerüstet waren, fast vollständig ausgelöscht wurde. Weitere britische Kriege sollten sich noch über ein halbes Jahrhundert hinziehen.46

      Die nachhaltigen Siege des österreichischen Feldherrn Prinz Eugen über die Türken schwächten das Osmanische Reich. Aber erst infolge der Napoleonischen Kriege machten sich erste Anzeichen von Freiheitsbewegungen bemerkbar. Unter Führung des »Schwarzen Georg« (Kara Djordje) verjagten im Jahre 1804 die Bauern Mittelserbiens die Türken aus ihrem Lande. 25 Jahre später wurde Serbien als autonomes Fürstentum unter türkischer Oberhoheit anerkannt und Miloš Obrenović von der »Hohen Pforte«, dem Amtssitz des Großwesirs im Osmanischen Reich, als Erbprinz eingesetzt. Als Sultan Mohammed II. gegen seine christlichen Untertanen vorging und die unruhigen Janitscharen ermorden ließ, entfachten diese den griechischen Freiheitskampf,47 von Russland als »Beschützer der Orthodoxen« unterstützt. Aber auch die Westmächte retteten die Griechen aus einer bedrohlichen Lage: Ihre Flotte zerstörte die der Türken bei Navarino (1827), während die Russen bis Adrianopel vordrangen, wo 1830 die Grundlage für die griechische Unabhängigkeit unterzeichnet wurde. Dass sich die Türkei im 19. Jahrhundert noch auf europäischem Boden behaupten konnte, lag nicht zuletzt daran, dass sich Österreich und Russland nicht über die Aufteilung der von den Türken in Europa eroberten Gebiete einigen konnten.

      Je mehr sich Russland Konstantinopel und dem Mittelmeer näherte, desto mehr bangte England um die Sicherung seiner Indienverbindung – alarmierend erschien den britischen Staatsmännern Russlands Ausbreitung durch den Kaukasus nach Persien und durch Mittelasien nach Afghanistan und Indien. Um die Macht Russlands wie auch der Türkei im Sinne Englands auszubalancieren und dem russischen Streben ins Mittelmeer einen Riegel vorzuschieben, sprang England im zehnten Russisch-Türkischen Krieg – besser bekannt als Krimkrieg (1853-56) – nach bedrohlichen Geländegewinnen den Türken bei und verhinderte so den russischen Sieg. Auch das Nachgeben Russlands 1875 im Kurilenkonflikt mit Japan und die folgende erste russische Revolution ließen London nur kurzfristig aufatmen.

      Im Frühjahr 1876 erhoben sich Serben und Bulgaren gegen das osmanische Joch. Zum Sinnbild der Grausamkeiten an der slawischen Zivilbevölkerung, welche weltweit für Empörung sorgten, wurde das Massaker von Batak im Verlauf des bulgarischen Aprilaufstandes. Namhafte Persönlichkeiten wie Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Giuseppe Garibaldi und Victor Hugo protestierten. Letzterer verurteilte 1876 die Verbrechen vor dem französischen Senat und veröffentlichte in verschiedenen europäischen Zeitungen seinen Appell, das bulgarische Volk vor der Ausrottung durch die Osmanen zu retten.48 In der britischen humanitären Volksbewegung engagierten sich derweil Charles Darwin, Oskar Wilde, Florence Nightingale und der spätere Premierminister William Ewart Gladstone (1809–1898), dessen Buch »Bulgarian Horrors and the Question of the East« zum Bestseller wurde. Von ihm ist auch das denkwürdige Zitat überliefert: »Der Politiker denkt an die nächsten Wahlen, der Staatsmann an die nächste Generation.«

      In der Empörungswelle gegen das Osmanische Reich sah der serbische Fürst Milan I. die Chance, Serbien als souveränen Staat zu etablieren. Die nationale Stimmung war reif für einen Krieg gegen das Osmanische Reich, zumal die bulgarische Regierung Serbien zu Hilfe rief. So erklärte Serbien zusammen mit Montenegro dem Osmanischen Reich den Krieg, was in Russland große Begeisterung auslöste. Tausende an Freiwilligen aus Adel und Militär strömten nach Serbien, das dem erfahrenen russischen General Michail Grigorjewitsch Tschernjajew den Oberbefehl über die serbischen Truppen anvertraute. Pjotr Iljitsch Tschaikowski komponierte den Slawischen Marsch.

      Nach ersten heftigen Niederlagen drängte Russland Serbien zum Friedensschluss, doch anschließend schlug die Osmanische Armee den bulgarischen Aufstand blutig nieder. Die Popularitätswerte der panslawischen Bewegung schnellten weiter in die Höhe, außerdem verstand sich Russland als Schutzmacht der orthodoxen Christen im Osmanischen Reich. So fühlte sich Zar Alexander II. letztlich zu einem Krieg mit den Türken gezwungen. Im Dezember 1876 besetzte ein russisches Armeekorps die rumänisch-türkische Grenze.

      Eine Konferenz der Botschafter aller europäischen Großmächte in Konstantinopel von Dezember 1876 bis Januar 1877 suchte den Krieg noch zu verhindern. Von der türkischen Regierung wurde verlangt, mit Montenegro Frieden zu schließen und den Bulgaren ihre Autonomie zu geben. Doch Sultan Abdülhamid II. weigerte sich – das Signal für die englische Flotte, zum Schutz der Türkei in die Besika-Bay (Dardanellen) einzulaufen. Das alles hielt die Russen indes nicht davon ab, der Türkei am 14. April 1877 den Krieg zu erklären.49 Drei Monate zuvor hatte Österreich-Ungarn Russland im Budapester Vertrag für diesen Fall seine Neutralität zugesichert. Damit waren bis auf das Deutsche Reich alle großen europäischen Mächte involviert.

      Nach stürmischem Vormarsch erreichte Ende 1877 die Armee des Zaren das Marmarameer und Yesilköy, einen Vorort von Konstantinopel. Um die Besetzung der Hauptstadt zu verhindern, sah sich der Sultan im März 1878 gezwungen, den Frieden von San Stefano zu unterzeichnen. Darin erkannte das Osmanische Reich die volle Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros an. Zusätzlich sollten kleinere Gebiete an diese Länder abgetreten werden. Die Maximalforderung betraf jedoch Bulgarien: Ein großbulgarischer Staat quer über den Balkan, vom Schwarzen Meer bis an die heutige Grenze zwischen Albanien und Mazedonien sowie im Süden bis an die Ägäis, sollte entstehen. Damit verlor das Osmanische Reich fast sämtliche europäischen Besitzungen, während Russland mit Bulgarien als Marionette nun die Nachfolge der Osmanenherrschaft auf der Balkanhalbinsel antrat. Damit ging ein langgehegter Wunsch in Erfüllung: Russland konnte jetzt auf dem Mittelmeer Flagge zeigen.

      Großbritannien sah nun das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Balkan bedroht, welches es