Wiederkehr der Hasardeure. Willy Wimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willy Wimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783943007152
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verfügen, das sie brauchen wird, um ihren Handel auszuführen. Sie wird wohlhabender werden als jede Regierung zuvor in der Geschichte der Zivilisierten Regierungen in der Welt. Die Intelligenz und der Reichtum aller Länder werden nach Nordamerika gehen. Diese Regierung muss zerstört werden, oder sie wird jede Monarchie auf dem Planeten zerstören.«37

      Auch der preußische Kanzler Bismarck hielt sich mit Kritik nicht zurück: »Es kann nicht bezweifelt werden und ist mir mit absoluter Sicherheit bekannt, daß die Aufteilung der Vereinigten Staaten in zwei gleich starke Föderationen schon lange vor dem Bürgerkrieg von den stärksten Finanzmächten Europas beschlossen worden war. Diese Bankiers fürchteten, daß die Vereinigten Staaten, sollten sie vereinigt bleiben und sich zu einer einzigen Nation entwickeln, wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit erringen könnten, und diese hätte die weltweite finanzielle Vorherrschaft Europas bis ins Mark erschüttert. … Sie sahen eine Chance auf reichliche Beute voraus, falls es ihnen gelingen sollte, die starke, selbstbewußte, stolze und selbstversorgende Republik durch zwei schwache Demokratien zu ersetzen … Folglich sandten sie ihre Agenten aus, um das Thema der Sklaverei auszuschlachten und eine Kluft zwischen den beiden Teilen der Union zu schaffen. … Der Bruch zwischen dem Norden und dem Süden wurde unvermeidlich; die Herren der europäischen Finanz setzten alle ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte ein, um ihn zu bewerkstelligen und zu ihren eigenen Gunsten auszunutzen.«38

      Diese Zusammenhänge dürften Unionsgeneral Ulysses Grant unbekannt geblieben sein. Er glaubte gegen verbrecherische Separatisten kämpfen zu müssen, setzte Lincolns Strategie schonungslos um und sicherte damit dessen Wiederwahl.

      Für Arnold J. Toynbee drängte sich die Parallele auf, dass der Süden so plötzlich und vernichtend geschlagen wurde, wie einst die Holländer und Franzosen von den Engländern.39 Es war nicht nur der Sieg des industriellen Nordens über die Agrarstaaten des Südens, sondern auch der Sieg des mobilen Kapitals (Geld) über das immobile (Boden) und damit der Sieg kurzfristiger Spekulationsgewinne über nachhaltige Investitionen.40

      Unter US-Präsident Ronald Reagan entwickelte sich die Marktwirtschaft der USA immer mehr zu einem Marktfundamentalismus. Dabei wird dem ungebremsten Kapital eine sakrale Erlösungskraft zugeschrieben, die letztlich zerstörerischer sein dürfte als manch politischer oder religiöser Fundamentalismus. Oberstes Ziel ist der Gewinn des Aktionärs, sein »Shareholder Value«41. Dieser als »Neoliberalismus« verkleidete Raubtierkapitalismus ist inzwischen zum Maßstab aller Dinge geworden. Auf der Strecke bleiben die sozialen Marktwirtschaften. Zugleich wird die europäische Kultur demontiert. Dieser Marktfundamentalismus dringt immer mehr in Bereiche ein, in denen er nichts zu suchen hat: Bildung, Medizin, Kunst, Kultur, Sport, Recht, Privatsphäre und Familie. Am Ende steht eine irreparable Deformation der Gesellschaft.42

      Während Camillo Cavour durch geschicktes und beharrliches Lavieren zwischen den europäischen Mächten ein italienisches Königreich anstrebte, versuchte Otto von Bismarck (1815–1898), ehemals brandenburgischer Großgrundbesitzer, als Ministerpräsident die Hegemonie Preußens im Deutschen Bund zu verwirklichen. 1863 sicherte er sich durch seine Mithilfe bei der Niederwerfung des polnischen Aufstands ein gutes Verhältnis zum Zaren und griff ein Jahr später gemeinsam mit Österreich in den dänischen Konflikt ein, als Dänemark die Annexion Schleswigs anstrebte: Die Erstürmung der Düppeler Schanze – heute noch von den Dänen in lebendiger Erinnerung gehalten – wurde hier zum ersten Höhepunkt in einer Kette militärischer »Großtaten« Preußens.

      1866 führte die Verwaltung von Schleswig-Holstein zu Spannungen zwischen Preußen und Österreich, die Bismarck geschickt nutzte, um im Kräftefeld europäischer Politik Österreich zu isolieren. Nach einer von Cavour vermittelten Geheimallianz mit Viktor Emanuel II. – seit 1861 König von Italien – wurde Österreich in die Zange genommen. Am 1. Juli 1866 siegte Preußen bei Königgrätz klar über Österreich, für das der preußisch-österreichisch/bayerische Bruderkrieg mit einem Debakel endete – es musste Schleswig-Holstein, Hannover, Kurhessen, Nassau und die Freie Stadt Frankfurt abtreten. Auch Bayern, Württemberg und Baden mussten an Preußen Kriegstributionen zahlen, das durch Annexionen seine Bevölkerungszahl auf 20 Millionen vergrößerte.

      Bismarck hatte den Krieg ohne haushaltsrechtliche Genehmigung am Parlament vorbeigeführt und die finanzielle Absicherung dem Bankier Gerson Bleichröder übertragen.43 Später gestand Bismarck, dass er in dieser Situation dem Galgen ebenso nahe war wie dem Königsthron.44 Unter Preußens Führung wurde der Norddeutsche Bund gegründet. Nicht zuletzt wegen der territorialen Bedrohung durch Frankreich banden sich die süddeutschen Klein- und Mittelstaaten mit Schutzbündnissen an Preußen und passten ihre Heere dem preußischen Vorbild an. Das musste Napoleon III. beunruhigen. Der Kaiser, der gerade einen ganz überflüssigen Krieg in Mexiko verloren hatte, wollte nun die aufstrebende Macht jenseits des Rheins düpieren.

      Als im Juli 1870 Prinz Leopold aus der süddeutschen katholischen Linie des Hauses Hohenzollern (Sigmaringen) die spanische Krone annahm, protestierte Frankreich. Leopold stammte aus einer fernen und ständig katholischen Nebenlinie des längst protestantischen Hohenzollernhauses und war mit König Wilhelm von Preußen nur insofern verwandt, als sie 600 Jahre zuvor gemeinsame Vorfahren hatten.45 So verlangte Napoleon III. vom Oberhaupt der Hohenzollern, König Wilhelm I. von Preußen, dem Prinzen die Annahme der spanischen Krone zu verbieten, was dieser zurückwies. Doch der Vater Leopolds, Fürst Karl Anton von Hohenzollern, lenkte sofort ein und gab am 12. Juli 1870 die Verzichtserklärung seines Sohnes in Madrid und Paris bekannt. Frankreich gab sich damit nicht zufrieden. Nur einen Tag später stellte der französische Botschafter Vincent Benedetti König Wilhelm auf der Emser Kurpromenade und verlangte eine »Ewigkeitszusage« und dafür noch zusätzliche Garantien. Niemals dürfe ein Hohenzoller die spanische Krone annehmen. Wilhelm I., vom dem überfallartigen Auftritt Benedettis konsterniert, verwies auf die Verzichtserklärung und lehnte weitere Forderungen ab. Dieser Vorgang wurde nach Berlin telegrafiert, wo Bismarck den Bericht mit verschärfender Kürze zur so genannten »Emser Depesche« umformulierte. Das wurde von Napoleon III., der innenpolitisch unter Druck stand, zum Anlass für die Kriegserklärung an Preußen genommen, die am 19. Juli 1870 vom französischen Parlament gebilligt wurde. Anträge einiger Abgeordneter, vor der Abstimmung den Wortlaut der Depesche zu verlesen, wurden abgelehnt, da das für Frankreich ehrverletzend sei.

      Nun erhob sich überall in Deutschland nationale Begeisterung. Entgegen den Erwartungen der Franzosen schlugen sich alle deutschen Staaten auf die Seite Preußens. Wie von Generalstabschef Helmuth von Moltke d. Ä. (1800–1891) geplant, errangen die deutschen Truppen im saarländischen und Pfälzer Grenzgebiet Durchbruchsiege, die äußerst blutig und verlustreich erkämpft wurden. Bei dem Ort Sedan nahmen sie am 1. September neben französischen Heeresteilen auch Kaiser Napoleon III. gefangen. Frankreich wurde wieder Republik, und die deutschen Truppen stürmten weiter nach Paris, das am 28. Januar 1871 kapitulierte. In den zurückliegenden 250 Jahren war Frankreich noch nie so gedemütigt worden wie jetzt durch Bismarck. In der Folge sann die Grande Nation auf Rache …

      Zehn Tage zuvor hatte Bismarck in Versailles das deutsche Kaiserreich ausgerufen: ein Bundesstaat von 22 Monarchien sowie drei »Freien Städten«, Hamburg, Bremen und Lübeck. Der König von Preußen, Wilhelm I. – nunmehr »Deutscher Kaiser« –, erhielt per Verfassung das Recht, Bündnisse einzugehen und Krieg zu führen. Er konnte den Reichskanzler und die Staatssekretäre – Minister gab es nicht – ernennen. Im Bundesrat saßen die Vertreter der Länderregierungen; hier wurden Reichsgesetze und der Haushalt bewilligt. Die Volksvertretung, der Reichstag, wurde nach allgemeinem, gleichem oder direktem Wahlrecht gewählt; ihr stand jedoch nur Mitwirkung zu – ähnlich dem EU-Parlament in Brüssel. Der Sieg des protestantischen Preußen hatte die österreichische Schutzmacht aus dem Deutschen Reich gedrängt. Das empfand der politische Katholizismus als herben Rückschlag und gründete als Antwort darauf seine eigene Partei, das »Zentrum«.

      Wie Bismarck nutzte auch der italienische König Viktor Emanuel II. die Gunst der Stunde. Als Napoleon III. nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges seine Schutztruppen aus dem Kirchenstaat abzog, machte er den Weg für den Einmarsch