Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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Panik drückte ich meinen Unterarm, den ich zuvor gerade noch rechtzeitig angewinkelt hatte, gegen den Deckel. Der bewegte sich keinen Millimeter. Die hatten ihn offenbar sofort mit irgendetwas beschwert. „Nicht hektisch atmen, nicht hektisch atmen“, wiederholte ich in Gedanken unablässig, was Dschingis gesagt hatte. Dann sah ich, dass durch einen schmalen Schlitz unter dem überstehenden Deckel der Kiste etwas Licht und also auch Luft hereinkam. Am Kopfende der Kiste fühlte ich ebenfalls Löcher. Solange ich ruhig blieb, konnte die Luft reichen.

      Nach und nach bekam ich die akute Panik unter Kontrolle. Abduls Tritte gegen meine Füße hatten auch aufgehört. Ich machte ein fragendes Geräusch. Keine Antwort. Ich erschrak, aber dann hörte ich, wie er leise schluchzte. Mehrmals stieß irgendetwas gegen die Kiste. Die bauten sie offenbar zu, mit Säcken oder Kartons. Das Atmen in der heißen, staubigen Luft war eine Qual. Ich unterdrückte mühsam ein Niesen. Kurz waren noch gedämpfte Stimmen zu hören. Jemand lachte. Das Zuschlagen der Ladeklappe. Dann wurde es dunkel.

      Ich merkte es am wiederholten Bremsen, längeren Stehen und Wiederanfahren, dass unser Laster offenbar in einer Schlange stand, die langsam voranrückte. Ich hoffte flehentlich, dass dies endlich die Grenze wäre.

      Die ganze Zeit in diesem Sarg hatte ich mir immer dann, wenn ich merkte, dass die Panik wieder hochkommen wollte, intensiv Szenen aus meiner Kindheit ins Gedächtnis gerufen. Wie meine Mutter sich über mich beugt und ihre nach Rosenwasser duftenden Haare mir über das Gesicht streichen. Wie ich aus dem kühlen Wasser des Qargha-Sees auftauche und Baba mir vom Ufer aus zuwinkt. Wie ich vor Zoor Aba auf dem Teppich sitze und er mir Gedichte von Maulana Rumi vorliest.

      Jetzt ging ich dazu über, im Kopf immer und immer wieder das Gedicht aufzusagen, mit dem ich in der dritten Klasse den ersten Platz in einem Rezitierwettbewerb gewonnen hatte. Zwischendurch kamen mir auch Verse aus dem Koran in den Sinn. Damit hätte ich endlos die Zeit füllen können. Diese Verse aber verstärkten nur das Gefühl, erneut völlig ausgeliefert zu sein. Ich musste mich zurückzwingen zu meinem Lieblingsgedicht.

      Von Abdul war, nachdem sein Schluchzen aufgehört hatte, nur hin und wieder ein Flüstern zu hören. Wahrscheinlich betete er.

      Draußen ertönten auf einmal kurze Rufe. Eindeutig Anweisungen oder Befehle. Nach jedem Anfahren und Bremsen wurden die lauter. Die Grenze! Vor diesem kurzen, aber entscheidenden Moment meiner Flucht aus Afghanistan hatte ich so große Angst gehabt. Jetzt aber betete auch ich, dass es tatsächlich die Grenze war, und nicht nur eine normale Straßenkontrolle.

      Meine Kehle war ausgetrocknet, die Zuge klebte mir geschwollen am Gaumen. Jeder Atemzug war mühsam und schmerzte. Ich hatte das Gefühl, dass es immer stickiger wurde. Mein Hemd und meine Hose waren schweißnass. Dann stieg mir auch noch der beißende Geruch von Urin in die Nase. Mein kleiner Freund Abdul hatte es offenbar nicht mehr zurückhalten können.

      Ein lautes Kommando, diesmal ganz nah. Eine leichte Erschütterung. Jemand hatte die Tür des Führerhauses zugeschlagen. Nach kurzer Pause das Geräusch, das ich nur allzu gut kannte: Die Ladeklappe!

      Mit aller Kraft konzentrierte ich mich auf eine weitere Rezitation meiner Lieblingsverse von Rumi.

      Erst eine erneute Erschütterung, gefolgt vom Starten des Motors, holte mich zurück in die Gegenwart. War das etwa alles gewesen? Hatten Abdul und ich es geschafft?

      Ich merkte, wie wir anfuhren. Wie wir an Fahrt gewannen. Wie wir in eine scharfe Kurve nach links gingen. Ich rutschte ein Stück und stieß mit dem Kopf gegen das Ende des Sargs. Abdul trat heftig gegen meine so weit wie möglich angezogenen Füße, so dass auch noch meine Knie wieder heftig gegen das Holz gedrückt wurden. Nur mühsam konnte ich einen Schrei unterdrücken. Schon ging es in eine ebenso scharfe Kurve nach rechts. Hilflos rutschte ich gegen Abdul, der statt eines Aufschreis zu wimmern begann. Eine Zeitlang summte ich leise eine kleine Melodie und das Wimmern hörte auf.

      Ich merkte, wie meine Hose sich mit Flüssigkeit vollsog. Das erinnerte mich an den scharfen Geruch von Urin von zuvor, den ich inzwischen schon gar nicht mehr wahrnahm. Unsere Fahrt schien sich wieder zu verlangsamen. Ein kurzes Herumrangieren, dann standen wir wieder. Der Motor verstummte. Die eine Führerhaustür wurde zugeschlagen und gleich darauf auch noch die zweite. Dann wurde es still.

      Kurze Zeit später parkte ganz in der Nähe ein weiterer LKW ein. Wieder das Zuklappen der Türen und sich entfernende Schritte.

      Waren wir etwa doch noch in Afghanistan? Hatten die bei der Kontrolle Verdacht geschöpft und Dschingis angewiesen, seinen LKW erstmal irgendwo abzustellen, bis sie mit den Spürhunden kamen? Irgendwo hatte ich mal gehört, dass Laster oft tagelang an der Grenze standen. Vielleicht wurden die Fahrer dann festgesetzt, damit sie nicht in der Zwischenzeit fliehen konnten?

      Ich hatte das Gefühl, zu ersticken. Eben noch hatte mir jeder Knochen im Leib wehgetan, hatte mir die Haut am ganzen Körper gejuckt, hatte ich mich geekelt vor dem Schweiß und Urin. Jetzt plötzlich spürte ich gar nichts mehr. Ich kratzte am Holz vor meinem Gesicht, versuchte, die Beine zu strecken. Ja, es war doch noch Leben in mir.

      Von Abdul kam ein Wimmern. Hatte ich ihn etwa getreten? Wenn ich es nicht schaffte, ruhig zu bleiben, waren wir beide verloren. Ganz ruhig atmen. Ganz ruhig.

      Wieder begann ich zu summen. Das hatte zuvor schon geholfen, die Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Dass wir so kurz hintereinander zum zweiten Mal standen, war das nicht geradezu der Beweis, dass wir tatsächlich soeben die Grenze passiert hatten? Nach der Kontrolle auf afghanischer Seite kam ja sicher noch eine auf der iranischen. Dschingis hatte Ware geladen. Schon die Soldaten in den Bergen hatten ja nach Papieren dazu gefragt. Hier würden sie die auf jeden Fall auch kontrollieren wollen. Ja, Dschingis und Karim waren mit solchen Papieren zum Zoll!

      „Zoll, Stempel“, sagte ich laut. Abdul murmelte etwas. Er schien verstanden zu haben.

      Ich weiß nicht, wie lange wir dort gestanden haben, und wie oft ich im Stillen für mich das Wort Zoll wiederholt habe. Einige Male konnte man hören, wie in der Nähe Männer in schweren Stiefeln vorbeiliefen, wie Motoren angelassen wurden und wie Laster davonfuhren. Jedes Mal wurde meine Hoffnung enttäuscht, dass es Dschingis und Karim wären, deren Schritte sich näherten, und dass endlich auch wir einfach so davonfahren würden. Mit jeder Enttäuschung kam die Angst stärker zurück. Die wussten doch, dass sie uns hier eingesperrt hatten. Dass wir hier drin nicht mehr lange überleben konnten. Wenn sie immer noch nicht kamen, hatte man sie womöglich tatsächlich verhaftet. Nicht mal eine Flasche Wasser hatten sie uns mit in den Sarg gegeben. Wasser! Verzweifelt biss ich mir in die Faust.

      Und wieder: Sich nähernde Schritte, Stimmen von Männern. Ganz nahe liefen die auf meiner Seite vorbei. Das waren eindeutig mehr als zwei Männer, aber die tiefe Stimme von Dschingis Khan hatte ich nicht herausgehört. Also wieder nichts…

      Da aber blieben sie stehen. Offenbar direkt hinter unserem Laster. Das Poltern der Ladeklappe.

      Die waren gekommen, den Laderaum zu durchsuchen! Hatten sie Karim oder gar Dschingis etwa dazu gebracht, unser Versteck zu verraten? So oder so, wenn sie den Laderaum ernsthaft durchsuchten, würden sie uns hier mit Sicherheit finden.

      Ein Wimmern! Abdul hatte vielleicht gerade das Gleiche gedacht. Am Ende würde womöglich er uns verraten.

      Ganz vorsichtig tippte ich ihn mit dem Fuß an. Er drückte zurück. Soweit hatte er sich also noch unter Kontrolle.

      Jetzt musste die Erschütterung kommen, die man spürt, wenn ein Mann sich auf die Ladefläche heraufschwingt. Das Kratzen oder Poltern schwerer Stiefel auf Blech oder Holz. Worauf warteten die?

      Dann, plötzlich, ein dröhnendes Lachen. Nur einen hatte ich je so lachen gehört: Dschingis!

      Dann eine fremde Stimme: „Alles in Ordnung“, auf Farsi! Die Ladeklappe wurde wieder verriegelt.

      Unwillkürlich atmete ich so tief ein, wie es ging. Als ich den Staub schmeckte, war es zu spät. Mit aller Gewalt versuchte ich, ein Niesen zu unterdrücken. Mir platzte beinahe der Kopf. Ich wäre erstickt, wenn nicht doch noch dieses Prusten herausgeplatzt wäre. Im gleichen Moment schlug eine Tür im Führerhaus zu. Auch die zweite. Jemand rief etwas und dann spürte