Der Junge sprang hinterher. Auch er brüllte jetzt „Yallah, Yallah“ und trieb mich durch den schmalen Zwischenraum zwischen Brückengeländer und LKW nach hinten, löste mit einigen geübten Griffen die Plane, ließ die Ladeklappe herunter und warf meinen Rucksack in den schmalen Zwischenraum zwischen zwei großen Holzkisten, die gleich vorn auf der Ladefläche standen. Dann half er mir hinauf.
Ich quetschte mich zwischen die Kisten, die fast so hoch waren wie ich. Die Ladeklappe schloss sich mit einem Knall, die Plane fiel zu und wurde festgezurrt. „Mach dich unsichtbar“, hörte ich noch, dann stand ich im Dunkeln. Ich hatte gerade noch sehen können, dass weiter hinten Kartons und Autoreifen gestapelt waren. Kaum hatte ich mich zwischen den Kisten hindurchgezwängt und mir einen Sitzplatz zwischen den Autoreifen ertastet, erzitterte der Laster und setzte sich ruckartig in Bewegung.
Eigentlich hätte ich wütend sein sollen auf den jungen Kerl, der mich wie ein Stück Vieh vor sich hergetrieben und in dieses finstere, nach Motorenöl stinkende Loch eingesperrt hatte. Aber der hatte ja nur die Anweisungen seines Bosses befolgen müssen. Der befürchtete wohl, dass es vor Maydanschahr – den Namen der Stadt hatte ich kurz zuvor noch auf einem Hinweisschild gelesen – schon eine erste Kontrolle geben könnte. Bei dem Gedanken an eine mögliche Kontrolle und daran, dass meine Flucht ein Ende finden könnte, bevor sie richtig begonnen hatte, spürte ich ein Würgen im Hals. Außerdem hatte ich Durst.
Ich tastete nach meinem Rucksack, der zwischen die Reifen gerutscht war. Innerhalb kürzester Zeit war meine Feldflasche leer. Onkel Najib hatte mir gesagt, dass die Schlepper auch dafür bezahlt wurden, mich unterwegs mit Essen und Trinken zu versorgen. Aber bei dem Motorenlärm und Gerüttel hatte ich keine Chance, mich bemerkbar zu machen. Trotzdem arbeitete ich mich langsam über die Stapel von Reifen, Holzkisten und Kartons Richtung Führerhaus vor. Schließlich musste ich rechtzeitig vor der ersten Kontrolle auch noch ein Plätzchen finden, um mich unsichtbar zu machen. Direkt vor dem Führerhaus stieß ich auf eine ganze Wand aus Kartons, die mir bis unters Kinn reichte. Beim Herumtasten stellte ich fest, dass es dahinter noch einen Hohlraum gab, wohl gerade groß genug, um im Fall einer Kontrolle darin verschwinden zu können.
Es kam aber keine Kontrolle. Stattdessen ging der Laster kurz darauf plötzlich in eine so enge Rechtskurve, dass ich gegen eine der Kisten geschleudert wurde. Zum Glück hatte ich die dicke Jacke an, die den heftigen Stoß gegen meine Schulter abpolsterte. Sobald der Schmerz etwas nachließ, klemmte ich mich in eine Lücke zwischen einem Stapel Reifen und einem großen Karton, in der ich mich vor weiteren solchen Unfällen geschützt glaubte.
Dann erst fiel mir auf, dass unser Fahrer jetzt häufiger hupte, bremste und schaltete und gelegentlich Hindernissen oder Schlaglöchern auszuweichen schien. Das konnte nur eins bedeuten: Wir waren von der Fernstraße abgebogen. Wir nahmen die Landstraße durch die Berge! Ich war davon ausgegangen, dass wir bis Herat auf der A01 bleiben würden. Noch aus dem Erdkundeunterricht hatte ich den riesigen Bogen vor Augen, den diese Fernstraße durch den ganzen Süden Afghanistans macht, bevor sie wieder in Richtung Norden auf Herat zuführt und damit in die Nähe der iranischen Grenze kommt. Das war zweifellos die am besten ausgebaute und damit schnellste Strecke dorthin.
Herat 1.070 km. Auch das hatte ich auf einem Hinweisschild gelesen, als ich noch vorne gesessen hatte. Ich hatte mir ausgerechnet, dass wir so in gut zwei Tagen in der Nähe der iranischen Grenze sein könnten. Aber jetzt durch die Berge? Das konnte eine Woche dauern. Sogar länger. Mir wurde schwindelig. Der Fahrer wollte wohl die Gebiete im Süden vermeiden, die von den Taliban kontrolliert wurden. Ich aber wusste nicht einmal, wovor ich mehr Angst haben sollte: Vor einem Hinterhalt der Bärtigen oder vor einer Kontrolle durch die Armee.
Laute Stimmen weckten mich auf. Wir standen. Mir war kalt. Ich hatte Hunger. Schlimmer noch war der Durst. Außerdem musste ich pinkeln. Motoren wurden abgestellt oder angelassen. Es roch nach Benzin. Offenbar eine Tankstelle. Kaum war ich zu diesem Schluss gelangt, da spürte ich am Vibrieren des Bodens, dass auch unser Motor wieder angelassen wurde. Am liebsten hätte ich laut geschrien. Hatten die mich etwa vergessen?
Ich hatte zuvor festgestellt, dass die Bretterwand, die die Ladefläche nach vorne hin abschloss, bis ganz nach oben reichte. Es war also nicht möglich, direkt ans Führerhaus zu klopfen. Vielleicht würden die mich dort drin aber hören, wenn ich mit meiner Feldflasche gegen die Bretter schlug. Ich arbeitete mich ganz nach vorn durch und kletterte dort auf die großen Kartons. In dem Moment wurde der Laster so abrupt abgebremst, dass ich fast in den Zwischenraum gerutscht wäre, den ich vorher entdeckt hatte. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig festklammern.
Der Laster bog ab auf einen offenbar unbefestigten Weg, es schaukelte heftig, wir fuhren bergauf. Mehrmals ging es um die Kurve, abwechselnd nach links und nach rechts – Serpentinen. Endlich kam der Laster zum Stehen.
Jemand rief etwas. Dann ein Quietschen und Einrasten, als würde hinter uns ein Metalltor geschlossen. Ich tastete mich hastig wieder zurück Richtung Ausstieg. Dort hörte ich schon jemanden hantieren. Ich steckte noch in dem Zwischenraum zwischen den beiden Holzkisten, als bereits die Ladeklappe herunterfiel.
Auch draußen war es dunkel, aber ich erkannte die Umrisse des Jungen. „Komm raus“, rief er mir mit gedämpfter Stimme entgegen. Mit den Füßen voran rutschte ich auf dem Bauch von der Ladefläche. Ich musste mich abstützen, so wackelig war ich im ersten Moment auf den Beinen. Der Junge lachte. Dann zeigte er auf den schwachen Lichtschein, der aus der angelehnten Tür des schlichten Lehmhauses fiel, vor dem wir standen. „Essen“, sagte er und führte seine Fingerspitzen zum Mund, als hielte er bereits ein zur Kugel geformtes Reisbällchen dazwischen. Ich hätte ihn umarmen können. „Erst pinkeln“, sagte ich. Er wies auf eine Mauer gegenüber und verschwand dann im Haus.
Obwohl ich völlig erschöpft war, lag ich nach dem Essen noch länger wach. Der Besitzer dieser Herberge, der Fahrer, sein Helfer und ich lagen aufgereiht nebeneinander auf dem Boden in dem Raum, in dem wir gegessen hatten. Die beiden Frauen unseres Wirts, die uns bedient hatten, schliefen in dem kleinen Küchenanbau nebenan, in dem auch meine Sachen trockneten. Außer dem Schnarchen des Fahrers, dem gelegentlichen Grunzen unseres Wirts und hin und wieder Hundegebell in der Ferne war kein Laut zu hören. Es war, als hätte man mich in meine Zeit in den Bergen zurückversetzt. Seltsamerweise war der Gedanke daran in dieser Nacht mit so etwas wie einem Gefühl von Vertrautheit und Heimat verbunden.
Beim Essen hatte mich der Junge gefragt, wo ich eigentlich hinwollte. Nach Maschhad – da hätte schon ein Bruder von mir Arbeit in einer Ziegelei, hatte ich behauptet. Diese Antwort hatte mir Tante Khosala eingeschärft. Es solle bloß keiner auf die Idee kommen, dass ich eine längere Reise vorhätte und dafür vielleicht eine größere Summe Geld dabeihaben könnte.
Dschingis Khan hatte mich durchdringend angesehen. Dann hatte er mir mit seiner Pranke auf die Schulter geschlagen. Mit Mühe hatte ich einen Aufschrei unterdrückt, denn die tat immer noch weh. „Verdammt schwere Arbeit – da wünsche ich dir viel Glück“, hatte er gerufen. „Jedenfalls schwerer als das, was mein Neffe Karim bei mir zu tun hat.“ Damit hatte er seinem jungen Helfer auch einen kräftigen Klaps versetzt. „Dafür muss der dir aber gleich noch zeigen, wo du dich waschen kannst. Sonst haben wir noch die ganze Nacht diesen Geruch in der Nase“, hatte er mit einem vielsagenden Seitenblick auf mein eines Hosenbein hinzugefügt.
Offenbar war er gutmütiger, als ich gedacht hatte. Ab da war ich zuversichtlich, dass er alles tun würde, um mich sicher in den Iran zu bringen. Mit diesem Gedanken bin ich am Ende des ersten Tages meiner Flucht schließlich eingeschlafen.
Karim rüttelte mich wach. „Auf, Wasser holen“, sagte er und stellte einen großen Plastikkanister neben mir ab. Sein Onkel und unser Wirt tranken da bereits in aller Ruhe ihren Morgentee. Ich lief dem Jungen hinterher nach draußen, wo es im Osten gerade erst zu dämmern begann. Wir liefen den steilen Pfad hinter dem Haus hinauf zu der Quelle des Bergbachs, in dem ich mich am Abend noch schnell gewaschen hatte, und füllten dort unsere zwei Kanister mit dem eiskalten Wasser.
Bevor wir uns auf den Rückweg machten, zeigte Karim zu