Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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selbst wenn es nur die Hoffnung auf eine Ankunft irgendwo ist.

      Ja, ich musste alles hinter mir lassen und nur noch nach vorne schauen. Das war ich schließlich auch meiner Tante Khosala schuldig. Trotz allem hatte ich es nur ihr zu verdanken, dass es noch einmal so etwas wie eine Hoffnung gab. Najib, ihr Mann, hatte mich schon an der Haustür davonjagen wollen. „Aber sieh dir den Jungen doch einmal an“, hatte Tante Khosala gerufen. „Und jetzt, im Dunkeln, hat ihn bestimmt auch keiner gesehen.“ Damit hatte sie Onkel Najib beiseitegeschoben, mich ins Haus gezogen und schnell die Tür zugeworfen. Da war ich zusammengebrochen.

      Als ich wieder zu mir gekommen bin, habe ich auf dem Bauch gelegen, auf etwas so kühl und so glatt, wie ich es noch nie zuvor gefühlt hatte. Etwas hat an meinen Haaren gezupft, da war ein metallisches Klicken zu hören und irgendjemand atmete schwer. Endlich habe ich die Kraft aufgebracht, meine Augen zu öffnen. Erst habe ich nur schwarze Haarbüschel auf weißglänzenden Fliesen liegen gesehen, dann einen schwarz-rot gemusterten Stoff, über ein paar Knie gespannt. Dann erst habe ich erkannt, dass das Tante Khosala war, die vor meinem Gesicht gekniet hat. Sie war dabei, mir die struppigen Haare zu scheren wie einem Schaf. Ich war nackt! Sie hatten mir die schmutzigen Kleider vom Leib gezogen, bevor sie mich auf ihren sauberen, weißen Fliesen abgelegt hatten. Haben sie etwa gedacht, sie könnten mir so meine Vergangenheit abstreifen?

      Tante Khosala hat wohl gemerkt, wie ich mich verkrampft habe. „Keine Angst, Adib. Jetzt bist du erst einmal sicher“, hat sie leise gesagt. Das Mitleid in ihrer Stimme brachte etwas tief in mir zum Schmelzen. „Lass die Tränen nur fließen. Die duschen wir dann auch gleich mit ab.“

      Ich hatte das Haus von Onkel Najib und Tante Khosala im Stadtteil Karta-i-Seh erst gar nicht wiedererkannt. Damals, als sie geheiratet hatten, war es ein etwas heruntergekommenes Haus auf einem großen Grundstück gewesen. Inzwischen war daraus eine prächtige Villa geworden. Ich erinnerte mich, dass Onkel Najib noch in meiner Zeit in Kabul den Auftrag erhalten hatte, in seiner Druckerei die Schulbücher für das ganze Land zu drucken. Welch ein Wunder, dass man durch Bücher reich werden konnte.

      Die glatten Fliesen, diese herrliche Dusche, aus der heißes Wasser kam, alles glänzend und neu. Und dann erst das Bett. Als ich das erste Mal in diesem Hause gewesen war, am Abend von Tante Khosalas Hochzeit, sieben Jahre zuvor, hatten wir als die engsten Verwandten des Brautpaars uns um das riesige Bett im Hochzeitszimmer gedrängt und gestaunt. Ich, damals gerade neun Jahre alt, hatte an einer Ecke des Fußendes heimlich über die seidig glänzende Überdecke gestrichen und mir vorgestellt, wie es sich wohl anfühlen würde, in so einem Bett zu liegen.

      Inzwischen gab es anscheinend mehrere Schlafzimmer im Haus, in denen richtige Betten standen wie in einem amerikanischen Film. In eines dieser Zimmer im ersten Obergeschoß hat mich Tante Khosala geführt, nachdem sie mit mir fertig gewesen ist. Hemd und Hose von Onkel Najib sind mir lose um den Körper geschlottert. Ich habe mich in das Bett fallen lassen. Als die weiche Decke über mir zufiel, war es, als versänke ich in einem tiefen, warmen See. Ich müsse die ganze Zeit leise sein, hat Tante Khosala gesagt. Damit mich die Mädchen nicht hörten.

      Die drei Tage und Nächte, die ich in diesem Zimmer weggesperrt war, habe ich die meiste Zeit nur geschlafen oder gedöst. Nicht einmal Alpträume hatte ich. Kann man zu erschöpft sein, um Alpträume zu haben? Als ich das erste Mal wieder aufgewacht bin, hat eine ganze Schüssel Kabuli Pilau mit Lammfleisch und vielen Rosinen auf dem Stuhl neben meinem Bett gestanden. Später, wenn ich zwischendurch wach lag, habe ich kaum gewagt, mich zu rühren. Ich hatte Angst, durch eine unbedachte Bewegung herauszufallen aus diesem watteweichen Traum, diesem Zustand zwischen Tod und Paradies.

      Vom Kampf um mein Schicksal habe ich immer nur Bruchstücke mitbekommen: Wortfetzen einer etwas lauteren Diskussion unten, ein kurzes, heftiges Wort direkt vor meiner Tür, Austausch gemurmelter Argumente nebenan in der Nacht: „…muss sofort aus dem Land… kommt er nie durch… Flug von Peschawar nach Maschhad… Paschtunengebiete…wissen doch, wie er aussieht… geht nicht, in seinem Zustand… Landweg… Straßensperren… ohne Papiere…“ Ja, sie hatten Angst, aber sie wollten mir helfen.

      Und dann auf einmal: „Nauroz…“ Ein Wort aus einer anderen Zeit, ein Wort, wie ein Versprechen, ein Wort, das sie einem aus dem Kopf schlagen und aus dem Körper peitschen wollen, weil es all das verheißt, was ihnen ein Gräuel ist: Musik –Tanz – die Feier des Lebens. Als Tante Khosala mir das nächste Mal Essen ins Zimmer gebracht hat, habe ich nachgefragt. Ja, in zwei Tagen war der einundzwanzigste März. An dem Abend kämen Gäste ins Haus. Eine Party zur Feier des Frühlingsfests. Wichtige Gäste. Bis dahin müsse ich aus dem Haus sein. Ich habe noch die Tränen in ihren Augen gesehen, als sie sich umgedreht hat, um aus dem Zimmer zu gehen. Nach Großvater zu fragen und ob sie etwas von ihm gehört hätten, habe ich gar nicht gewagt. Und ihnen ist es in der restlichen Zeit ja ohnehin nur noch darum gegangen, mir einzuschärfen, was ich für die Flucht wissen musste.

      Plötzlich schreckte ich hoch. Etwas Heißes breitete sich aus, unten am Bein. Ein großer, magerer Köter stand da – mit dem Hintern zu mir und einem Bein in der Luft. Der heiße Urin sickerte mir durch die Hose und bis in den Schuh. Einen Aufschrei konnte ich gerade noch unterdrücken. Später begann ein kalter Nieselregen aus der Finsternis über mir herniederzugehen. So tief es ging, habe ich mich in meine neue, gefütterte Jacke verkrochen. Gegen Morgen haben meine Zähne vor Kälte so laut zu klappern begonnen, dass ich Angst bekam, jemand könnte mich hören. Da habe ich mich hochgerappelt und habe mich auf den Weg gemacht.

      Ich hatte schon über eine Stunde an dem Kreisel gestanden, da endlich näherte sich ein Lastwagen mit Kennzeichen aus Herat. Auch die fünfstellige Zahl hinter dem HRT stimmte. Ich begann, wild zu winken. Ich hatte Angst, der Fahrer könnte mich übersehen. Er bremste erst in letzter Minute. Ich rannte, als ginge es um mein Leben. Die Tür des Fahrerhäuschens flog auf, ich wurde nach oben gerissen und im nächsten Moment schon presste mich die zuschlagende Tür an den kräftigen Jungen, der mich hochgehievt hatte.

      Der Fahrer fluchte und trat aufs Gas. Gleichzeitig langte er an seinem Beifahrer vorbei und riss mir die Baseball-Kappe vom Kopf. „Sowas hier vorne bei uns, und die winken uns an jedem Kontrollpunkt an die Seite. Und dann auch noch kahlgeschoren – wie ein entlaufener Soldat. Gib ihm deine Pakol.“ Sein junger Helfer grinste, zog seine schmutzig braune Mütze ab – eine von der Art, wie sie bei uns Leute aus den Bergen tragen – und drückte sie mir auf den Kopf. „Außerdem stinkt er nach Hundepisse. Bei der nächsten Gelegenheit muss er nach hinten.“

      Der Fahrer schien mich nicht zu mögen. Er war ein vierschrötiger Typ mit rundem Gesicht, breiter Nase und schmalen Augenschlitzen, der mich an ein Bild von Dschingis Khan aus einem meiner alten Kinderbücher erinnerte. Offenbar ein Hazara. Das einzige, was mich beruhigte, war das Wissen, dass er erst dann voll bezahlt werden würde, wenn er mich unversehrt über die iranische Grenze gebracht haben würde. Das hatte mir Onkel Najib gesagt. Ansonsten wusste ich nur, dass die Reise bis Endstation Italien ‚gebucht‘ und entsprechend Geld hinterlegt war. Danach würde ich mich allein durchschlagen müssen. Am besten bis nach Deutschland, hatte mir Onkel Najib geraten. Angeblich bekam man dort als Flüchtling gleich eine Wohnung und sogar ein Gehalt vom Staat. Das hatte er mir aber wohl nur erzählt, um mir die Angst vor der langen und gefährlichen Reise zu nehmen. Ich aber wollte sowieso lieber nach Frankreich. Ein Stoß in meine Seite schreckte mich aus meinen Gedanken.

      „Hey, willst du nicht langsam mal deinen Rucksack abnehmen? Oder hast du da einen Goldschatz drin?“ Der Gehilfe Dschingis Khans zwinkerte mir zu. Er schien kaum älter zu sein, als ich, war aber viel kräftiger. Wie sein Boss hatte auch er die typischen Gesichtszüge der Hazara. Er half mir, meinen Rucksack herunterzunehmen und zwischen meinen Füßen zu verstauen.

      Je weiter wir aus dem Stadtgebiet von Kabul herauskamen, desto mehr lichtete sich der Verkehr. Wir fuhren ein Stück weit an einem Flüsschen entlang. Das Wasser glitzerte in der aufgehenden Sonne. Beim Anblick der bereits rosa und weiß blühenden Obstbäume am Ufer und der dahinter in frischem Grün leuchtenden Felder entfuhr mir ein Seufzer. Der lange Winter war endlich zu Ende. Das Leben kehrte zurück.

      Die Autobahn machte eine scharfe Rechtskurve und unmittelbar danach trat der Fahrer erneut voll auf die Bremse. Auf einer Brücke über ein ausgetrocknetes