Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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Sonne eine Reihe schneebedeckter Berggipfel rosa erglühen. „Koh-i Baba“, sagte er, „dort hinüber fahren wir jetzt weiter.“

      Als ich kurz darauf wieder in den düsteren Laderaum kletterte, reichte er mir noch einige zusammengerollte Brotfladen zu und stellte einen der beiden Wasserkanister zu mir auf die Ladefläche hinauf. Er schärfte mir ein, möglichst wenig zu trinken. Wahrscheinlich würden wir wieder den ganzen Tag und bis in die Nacht ohne Halt durchfahren. Und wenn sein Onkel eines hasste, wäre das ein vollgepinkelter Laderaum. Außerdem würde das bei einer Kontrolle auch sofort auffallen. Wie lange wir wohl brauchen würden bis Herat, fragte ich noch schnell. Sechs, sieben Tage – wenn wir Glück hätten, war die knappe Antwort. Dann fiel die Plane zu und es wurde dunkel im Laderaum.

      Die folgenden Tage kamen mir endlos vor. Wir fuhren meist den ganzen Tag durch und hielten erst nach Einbruch der Dunkelheit, manchmal an einer ähnlichen Herberge, wie in der ersten Nacht, manchmal aber auch nur irgendwo abseits der Straße, wo ich kurz austreten durfte, aber zum Schlafen wieder in den Laderaum musste. Die meiste Zeit über hatte ich Durst. Ich versuchte, den ganzen Tag mit dem einen Liter Wasser auszukommen, den ich mir morgens aus dem großen Plastikkanister in die Feldflasche abfüllte. Auch die Kälte war schlimm, vor allem nachts in meinem nur durch die dünne Plane geschützten Versteck. Je höher wir in die Berge hinaufkamen, desto eisiger wurde es. Oft zog ich mir die schmutzige, nach Motoröl stinkende Decke, die Karim mir vor der ersten Nacht draußen im Laster zugeworfen hatte, sogar bis über das Gesicht. Noch schlimmer war, dass die Straße immer schlechter wurde. Über weite Strecken war es nur eine aus lauter Schlaglöchern bestehende Piste. Über Stunden wurde ich durchgeschüttelt und musste mich, wenn der Laster um irgendwelche Hindernisse herumkurvte, immer wieder längere Zeit irgendwo festklammern, so dass mir bald jeder Knochen und jeder Muskel weh tat.

      Während eines nächtlichen Halts, bei dem ich kurz austreten durfte, war es mir in einem unbeobachteten Moment gelungen, eine der Schnallen zu lockern, die an der Rückseite des Lasters ringsum die Plane verschlossen. Ab da konnte ich wenigstens hin und wieder einen Spalt öffnen und schräg nach hinten hinaussehen. So kam ich mir nicht mehr ganz so eingesperrt vor und der Tag verlor seine Eintönigkeit.

      Über weite Strecken folgte die Straße den Flusstälern. Manchmal konnte ich direkt in tosende Bergbäche hinuntersehen. Dann wieder glitten auf meiner Seite schroffe Felswände so nah vor meinen Augen vorbei, dass ich sie beinahe hätte berühren können. Wenn ich dann starr geradeaus auf den vorbeihuschenden Fels blickte, schien es kein Halten mehr zu geben. Das schroffe Gestein wurde zu einem flatternden Band, und es gefiel mir, an die Helden meiner Kindheit zu denken, wie sie in wildem Ritt durch die Steppe ihren Feinden davongaloppierten.

      Ich musste geschlafen haben. Ich schreckte hoch, weil ich laute Stimmen hörte. Wir standen. Ein feiner Streifen Licht verriet mir, dass es draußen noch hell war. Anscheinend hatte ich meinen Sehschlitz nicht sorgfältig genug verschlossen. So viele Stimmen auf einmal hatte ich schon seit Tagen nicht mehr gehört. Jemand lachte laut. Ein Kontrollposten war das nicht. Autotüren wurden zugeschlagen. Dann auch die unseres Lasters, wie ich am kurzen Erzittern meines Gefängnisses merkte. Wir fuhren an, nur um nach wenigen Minuten rüttelnder Fahrt wieder stehen zu bleiben. Es hatte sich angefühlt, als hätte Dschingis Khan irgendwo rückwärts eingeparkt.

      Jemand stieg aus und dann hörte ich, wie mein Name gerufen wurde. Laut, denn im Hintergrund rauschte es. Dann machte sich jemand an der Plane zu schaffen. Ich erschrak. Jetzt haben sie meinen Sehschlitz entdeckt, dachte ich. Mit angehaltenem Atem wartete ich im Schutz der großen Holzkiste vor der Ladeklappe. Dann fiel Licht in den Laderaum und ich erkannte Karims Stimme. „Hier für dich“, rief er. Ich wagte mich hinter meiner Kiste hervor und dann erkannte ich, was er mir da unter der Plane entgegenstreckte: Ein ganzes Bündel Kebab-Spieße! Ich konnte es nicht glauben. „Nimm schon, wir müssen weiter“, hörte ich ihn rufen. Ich zwängte mich zwischen den Kisten hindurch. Hinter Karims grinsendem Gesicht strömte ein schäumender Fluss unterhalb einer Felswand vorbei.

      „An der Brücke gab es einen Stand. Wohl die letzte solche Gelegenheit für längere Zeit“

      „Wie weit ist es denn noch?“, fragte ich.

      „Noch ein paar Tage. Wir sind ja erst in Tschaghtscharan. Der schwierigste Teil der Strecke liegt noch vor uns.“ Damit ließ er die Plane herunter. Ich stand wieder im Dunkeln, eingehüllt in den köstlichen Duft meines Kebabs.

      Plötzlich saßen wir fest. Vor uns ein Laster, der wegen eines Steinschlags nicht weiterkam, wie ich kurz darauf von Karim erfuhr. Wir hatten das Flusstal schon vor längerer Zeit verlassen. Seitdem hatte sich die Piste in Serpentinen hinauf und hinunter durch schroffe, baumlose Berge gewunden, immer wieder an schwindelerregenden Abgründen entlang.

      Hinter uns stauten sich bald weitere Fahrzeuge. Als die Fahrer endlich die Strecke freigeräumt hatten, fuhren wir in Kolonne. Für mich bedeutete das: Ich durfte auch bei den seltenen kurzen Zwischenstopps mein finsteres Versteck nicht mehr verlassen. Karim kam dann und tat so, als müsse er nach der Ladung sehen oder die Trinkflaschen für sich und seinen Boss auffüllen, um mir unauffällig in Zeitungspapier eingewickelte Brotfladen oder getrocknete Feigen zu hinterlassen. Nicht einmal meinen Sehschlitz konnte ich mehr nutzen. Jede ungewöhnliche Bewegung der Plane hätte den Männern im Laster hinter mir auffallen können.

      Wir fuhren nun Tag und Nacht durch. Offensichtlich wechselten sich die Fahrer und ihre Beifahrer ab. Auch Karim übernahm zeitweise das Steuer, wie er mir mitteilte. Wahrscheinlich hatte ich ihn wegen seines weichen, runden Mogolengesichts jünger geschätzt als er war.

      Ich verlor endgültig jegliches Zeitgefühl und schließlich auch jedes Gefühl für meinen durchgerüttelten Körper. Manchmal schien jede Muskelfaser und jeder Knochen zu schmerzen, dann wieder musste ich in dem harten Nest aus Reifen, das ich mir gebaut hatte, meine Position immer wieder in kurzen Abständen ändern, um überhaupt noch etwas zu spüren. Manchmal glaubte ich hellwach zu sein, nur um im nächsten Moment aus einem wirren Traum zu erwachen.

      Nach etwa zweieinhalb Tagen überquerten wir einen besonders hohen Pass. Für mehrere Stunden wurde es eiskalt. Anschließend ging es eine längere Strecke steil bergab. Plötzlich begann unser Laster zu schlingern und blieb schließlich stehen. Es war wie eine Erlösung. Kein Gerüttel mehr, kein Motorenlärm, kein Warten auf den nächsten Stoß, bei dem man blitzschnell Halt suchen musste. Ich hörte die Männer draußen werkeln und fluchen. Offenbar eine Reifenpanne. Ich versuchte krampfhaft, nicht in den Schlaf zu fallen, aus Angst, dass ich schnarchen könnte und die mich draußen hören würden.

      Ich wurde erst wach, als wir bereits wieder fuhren. Es ging weiter rüttelnd und schüttelnd bergab. Ich lag nur noch teilnahmslos zwischen den Reifen. Selbst dass es allmählich wärmer wurde, war mir gleichgültig. Es kam mir vor, als wäre ich schon seit Wochen unterwegs, und immer noch war ich in Afghanistan. Dass ich in wenigen Wochen in Italien sein würde, hatte Onkel Najib offenbar nur gesagt, um mich möglichst schnell und problemlos loszuwerden. Ob oder wann mich dieser Laster über die Grenze in den Iran bringen würde, machte letztlich auch keinen Unterschied mehr. Dort würden die Probleme ja wohl erst richtig beginnen. Auf einmal erschien die Lage mir aussichtslos. Nur mit Mühe konnte ich mich noch dazu bringen, weiter den kleinen Blechkanister zu benutzen, den Karim mir nach hinten gebracht hatte, statt einfach in die Ecke zu pinkeln. Es war ja doch alles egal.

      „Aussteigen!“ Ich wusste erst gar nicht, wo ich war. Schwere Stiefel knallten auf Pflaster. „Los, los!“ Das kam von vorne. Eine Kontrolle!

      Die Türen des Führerhauses wurden mit so einem Schwung zugeworfen, dass der ganze Laster erzitterte. Vielleicht wollte Dschingis sicherstellen, dass auch ich wach war. Hektisch tastete ich nach meinem Rucksack. Der musste hier irgendwo dazwischengerutscht sein. Endlich bekam ich einen Riemen zu fassen.

      Die Stiefel kamen näher. Jemand schlug von außen an die Plane. „Aufmachen!“ Ich turnte über Reifen und Kisten Richtung Führerhaus.

      „Beeilung! Wir haben nicht ewig Zeit.“

      „Komm ja schon.“ Das war jetzt Dschingis Khans laute Stimme. Offenbar wollte er Zeit gewinnen. Trotzdem war ich gerade erst auf die vorderste Reihe von Kartons