Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
Скачать книгу
du wirst doch wohl nicht am Ende noch unnötig unsere Zeit verschwenden wollen.“ Dabei sah er mich durchdringend an.

      Seltsamerweise hatte er Persisch gesprochen. Gingen die davon aus, dass ich tatsächlich Iraner wäre? Ein Fünkchen Hoffnung glimmte in mir auf.

      „Name?“

      „Adib.“

      „Alter?“

      „fünfzehn.“

      „Geburtsort?“

      „Gonabad.“

      Der Schnauzbart wischte den Pass vom Tisch. Klatschend fiel der neben mir auf den Boden. „Du willst uns also tatsächlich weismachen, dass du iranischer Staatsbürger bist! Dann erklär uns mal, wieso dein Persisch wie Dari klingt.“

      Mit dieser Frage hatte ich gerechnet. Belal und ich hatten uns auch schon eine passende Antwort darauf überlegt. „In der Baufirma meines Vaters gibt es viele afghanische Arbeiter. Mit deren Kindern bin ich aufgewachsen. Mein Vater sagt immer, ich bin ein halber Afghane.“

      „Na, dann können wir dich ja immerhin schon mal halb nach Afghanistan abschieben. Sag bloß, du kannst uns auch noch etwas über deinen Geburtsort Gonabad erzählen.“

      Ich dachte an das, was Dr. Ponyandeh über diese Stadt gesagt hatte, die man in Van einfach aus meinem gefälschten iranischen Ausweispapier in den neuen iranischen Reisepass übernommen hatte. „Das ist die Stadt des Safrans“, sagte ich. “Und für die Sufis ist es eine heilige Stadt.“

      Halb amüsiert, halb verblüfft sah mich der Vernehmungsoffizier an. „Du hältst dich wohl für besonders schlau – und uns für Idioten!“ Die letzten Worte brüllte er. „Du glaubst tatsächlich, du könntest uns mit einem primitiven Kartoffelstempel täuschen, der aussehen soll wie ein türkisches Touristenvisum?“ Er legte die Fingerspitzen an seine Schläfen, als dächte er nach. „Na, dann gebt ihm mal einen Vorgeschmack auf unser spezielles Programm für Touristen wie ihn.“

      Ich wurde von beiden Seiten an den Haaren gepackt, mein Kopf mit der Stirn auf den Tisch geschmettert und sofort wieder hochgerissen. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen und fast wäre ich von meinem Hocker gekippt. Vor Schmerz konnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Durch einen Tränenschleier hindurch sah ich den Schnauzbart nur noch verschwommen. Durch das Dröhnen in meinen Kopf hörte ich, wie er sagte, „Spätestens morgen wirst du uns alles erzählen.“ Dann sagte er noch etwas auf Türkisch zu den anderen. Die packten mich unter den Armen, schleiften mich hinaus auf den Flur und ließen mich an der Wand fallen wie einen Sack Mehl.

      Ich hatte schon alles zugegeben, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatten. Jetzt aber wollten sie immer noch mehr. Es waren ganz andere diesmal. Der Offizier mit dem Schnauzer war nur noch als Dolmetscher dabei. Sie haben erst von mir abgelassen, als sie sich abreagiert hatten. Vielleicht waren sie auch einfach nur erschöpft.

      Dabei hätte ihnen doch von Anfang an klar sein müssen, dass man von einem knapp Sechzehnjährigen nicht erwarten kann, dass er sich an jedes Detail einer wochenlangen erschöpfenden Reise erinnert, an jeden Namen, jeden Ort und sogar an Adressen. Am Ende war mir alles egal. Ich hatte schließlich gelernt, wie man sich ganz in sich selbst verkriecht – so weit, dass man außen fast gar nichts mehr spürt und einfach fließen lässt, was nicht mehr zu halten ist.

      Als sie mich zurück in die Zelle brachten und den anderen vor die Füße warfen, haben die sich sogar ein wenig um mich gekümmert und mir einen Platz an der Wand freigemacht. Von denen, die sie an diesem Morgen zum zweiten Mal ‚verhört‘ hatten, muss ich wohl so ziemlich am schlimmsten zugerichtet gewesen sein.

      Als man uns Flüchtlinge in diese Zelle gepfercht hatte, waren die zwei Doppelstockbetten in der einen Ecke schon mit vier türkischen Kriminellen belegt gewesen – Drogendealern, wie wir später erfuhren. Am Abend des Tages, an dem man mich zum zweiten Mal verhört hatte, sprangen die vier plötzlich wie auf Kommando von ihren Betten und arbeiteten sich mit ihren Ellenbogen bis zur Zellentür vor. Minuten später wurde klar, warum. Die Zellentür wurde aufgeschlossen und ein Wärter schob mit dem Fuß einen großen Topf Reis und einen Stapel Blechschüsseln herein. Die Vier bildeten vor den Augen des grinsenden Wärters sofort einen Schutzwall um ihre Beute und begannen, in aller Ruhe große Portionen Reis in sich hineinzustopfen. Als der Wärter von außen die Tür verschloss, lachte er immer noch.

      „Los, denen zeigen wir’s“, rief einer. Mit unserer Übermacht wäre es in der Tat ein Leichtes gewesen, diese Gauner zu überwältigen. Wir hatten seit fast zwei Tagen nichts mehr zu essen bekommen.

      Ein älterer Paschtune aus Kandahar hielt alle zurück. „Wollt ihr etwa, dass diese Kerle um Hilfe schreien? Die da draußen warten ja nur darauf, sich nochmal mit ihren Knüppeln auf uns zu stürzen.“

      Ich lag in meiner Ecke und konnte mich sowieso noch kaum rühren. Aber als ich jemanden sagen hörte, „Jetzt spucken diese Schweine auch noch auf den restlichen Reis in der Schüssel“, drehte sich mir nochmal der Magen um.

      Mir war klar, dass ich mich damit abfinden musste: Wenn ich diese Gefängnishölle jemals verlassen würde, dann nur, um nach Afghanistan abgeschoben zu werden – dorthin, wo zweifellos nur noch Schlimmeres auf mich wartete. Seltsamerweise wünschte ich mir trotzdem nichts sehnlicher, als dass das möglichst schnell passieren würde. Nichts ist schlimmer, als auf das Unausweichliche auch noch warten zu müssen.

      Wie es um unsere Sache stand, erfuhren wir dann ausgerechnet mit Hilfe dieser vier Gauner. Jedes Mal, wenn die Wärter hereinkamen, fingen die an, zu lamentieren, wann denn endlich dieses ‚dreckige Pack‘ aus ihrer Zelle verschwinden würde. Zum Glück hatten wir noch den älteren iranischen Kurden bei uns, den mit der Augenbinde, der schon in dem Keller in Van für Belal und mich aus dem Türkischen übersetzt hatte. Der gab an uns weiter, was er von dem Austausch zwischen den Gaunern und den Wärtern mitbekam.

      So erfuhren wir, man erwarte nur noch einen Konsularbeamten unserer Botschaft in Ankara, um die Rücknahme der afghanischen Staatsbürger zu bestätigen. Dann würde alles ganz schnell gehen. Am dritten Tag unserer Gefangenschaft hieß es dann aber, die Botschaft könne zurzeit Niemanden schicken. Das Ganze könne sich noch um Tage, wenn nicht um Wochen verzögern.

      Das nächste Gerücht, das sich herumsprach, elektrisierte mich geradezu: Die Botschaft verlange, dass die Abzuschiebenden ihren Flug nach Kabul selber bezahlten. Wer das Geld für den Flug nicht aufbringen könne, werde in den Iran abgeschoben.

      In meinem Kopf begannen sich die Gedanken zu überschlagen. Gab es vielleicht doch noch einen Ausweg aus meiner so hoffnungslos erscheinenden Lage? Meinen Rucksack mit den hundert Dollar von meiner Tante Khosala konnte ich abschreiben. Gleich bei unserer Ankunft in der Polizeistation hatte man uns unsere Habseligkeiten abgenommen. Bei meinem zweiten Verhör hatten sie auch noch den Brustbeutel mit den weiteren einhundert Dollar entdeckt und ihn mir vom Hals gerissen. Blieben die hundert Dollar, die in meinem Gürtel eingenäht waren. Die würden sicher nicht reichen, den Flug zu bezahlen. „Wenigstens nicht gleich nach Afghanistan“, jubelte eine Stimme in mir. Die iranischen Behörden würden uns auf dem Landweg weiter bis zur afghanischen Grenze befördern. Da könnten sich ja Möglichkeiten ergeben, zu fliehen. Vielleicht sogar nahe Maschhad. Dann könnte ich versuchen, noch einmal bei Dr. Ponyandeh Unterschlupf zu finden. Es gab so viel, was ich von dem noch würde lernen können.

      Natürlich war mir klar, dass das alles vollkommen unrealistische Träumereien waren. Und doch, ab diesem Tag – es muss mein fünfter oder sechster im Gefängnis gewesen sein – spürte ich tatsächlich wieder einen winzigen Funken der Hoffnung in mir.

      Wenige Tage später hatten die Gefängniswärter auf einmal gute Neuigkeiten für unser Gaunerquartett. So wie die reagierten, verstanden wir das auch schon ohne die Übersetzung unseres Iraners. Der erklärte uns dann, man wolle uns in ein Gefängnis nach Ankara verlegen. Die seien dort besser eingerichtet für größere Gruppen von aufgegriffenen Flüchtlingen und die Botschaften zur raschen Bestätigung unserer Staatsbürgerschaft seien vor Ort.

      Der Tag unserer Verlegung begann mit einer großen Überraschung: