Das Buch der Bücher. C. D. Gerion. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: C. D. Gerion
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969173244
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von ihrer Autorität eingebüßt.

      Mit angehaltenem Atem lauschten wir alle auf die Geräusche, die zu uns heraufdrangen.

      Irgendwas polterte unten gegen die Wand.

      Ein Schrei.

      Weitere Kommandorufe.

      Mitten in die folgende Stille hinein ein Kratzen an unserer Tür, das uns alle vollends erstarren ließ. Ein Schlüssel wurde leise ins Schloss geschoben. Ein klickendes Geräusch und die Tür schwang auf. Im schwachen Licht der Notbeleuchtung auf dem Flur erkannten wir einen unserer Bewacher.

      „Los, alle abhauen!“, rief er gedämpft in der uns inzwischen bestens vertrauten Mischung aus Persisch und Kurdisch. Er rannte voran auf die Nottreppe zu und alles rannte hinterher.

      „Die Rucksäcke“, rief Belal mir zu und stürzte zurück in unser Zimmer. Ich ließ mich mitreißen und griff mir auch noch schnell meine Sachen. So kam es, dass wir zu den Letzten gehörten, die ins enge, spärlich beleuchtete Treppenhaus drängten.

      Belal vor mir wand sich ungewohnt flink zwischen den vor uns Laufenden hindurch und war auf einmal verschwunden.

      Als ich den ersten Treppenabsatz erreichte, wurde direkt vor mir die Tür aufgestoßen. Ein Mann mit Maschinenpistole und kugelsicherer Weste versperrte den Weg. Er brüllte etwas und richtete den Lauf seiner Waffe auf mich.

      Ich konnte gerade noch rechtzeitig stoppen und riss meine Hände hoch

      Der neben mir stürzte dem Bewaffneten direkt vor die Füße. Der brüllte erneut und trat zu, einmal, zweimal, wobei die Mündung seiner Waffe mich jedes Mal von unten bis oben bestrich. Ich stand wie festgefroren und spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.

      Wie in Zeitlupe sah ich, wie sich der Polizist umdrehte, nur um festzustellen, dass der letzte von denen, die vor uns gelaufen waren, unten gerade um die Ecke verschwand.

      Wieder dieses Brüllen. Daraufhin stürzten weitere Bewaffnete durch die Tür hinter ihm und machten sich auf sein Kopfnicken hin an die Verfolgung nach unten.

      Während sich das Trampeln und Brüllen weiter unten im Treppenhaus verlor, befahl der Beamte mir und den zwei weiteren, die er noch abgefangen hatte, uns auf dem Treppenabsatz auf den Boden zu legen, mit dem Gesicht nach unten und den Händen über dem Kopf. Dabei verlieh er seinen uns unverständlichen Worten mit dem Lauf seiner Waffe unmissverständliche Klarheit.

      Als ich wegen der Enge auf dem Treppenabsatz gegen den älteren Afghanen stieß, der zuvor gestürzt war, stöhnte der auf, was ihm einen weiteren Tritt in den Rücken eintrug.

      Noch heute sehe ich den gezackten Verlauf des feinen Risses in aller Deutlichkeit vor mir, der sich dort unmittelbar vor meinen Augen durch den Betonboden zog.

      Das Schlimmste waren die Stunden, bevor sie endlich auch mich zum Verhör holten. Wir mussten aufgereiht an der Wand eines langen Korridors auf dem Boden sitzen, im hellen Licht nervös flackernder Neonröhren, bewacht von mehreren Polizisten mit ausdruckslosen Gesichtern.

      Einige von uns hatten es offenbar geschafft, zu entkommen. Gaffar zum Beispiel fehlte in unserer Reihe. Auch nach Belal hatte ich schon vor dem Appartementhaus, wo sie uns am Ende zusammengetrieben und in die Gefangenentransporter verfrachtet hatten, vergebens Ausschau gehalten. Sicher hätte ich mich etwas weniger verlassen gefühlt, hätte auch er dort in diesem trostlosen Flur bei mir gesessen.

      Die ganze Zeit, während ich auf mein Verhör warten musste, hatte ich das Bild des kleinen Pakistani vor Augen, den sie sich als Ersten vorgenommen hatten, und - noch schrecklicher - die Geräusche im Ohr, die durch die gepolsterte Tür des Verhörzimmers ganz am Ende des Korridors zu uns gedrungen waren.

      Nach nur wenigen Minuten war diese Tür wieder aufgestoßen worden. Zwei auffallend muskulöse Polizisten hatten den dürren Jungen über den Korridor an uns vorbei in den Fahrstuhl geschleppt. Als sie ihn wiedergebracht hatten, hatte er aus dem Mund geblutet und am ganzen Körper gezittert.

      Sie hatten ihn ein zweites Mal in das Zimmer am Ende des Korridors gebracht. Diesmal war kaum etwas zu hören gewesen. Nur gelegentlich etwas, das wie ein Wimmern klang, zwei Mal unterbrochen durch einen kurzen Bums, als setzte jemand einen wassergefüllten Tonkrug grob auf einer hölzernen Tischplatte ab. Dann hatten sie ihn zu uns auf den Korridor hinausgeschleift und nicht weit von mir am Ende der Reihe auf den Boden sacken lassen.

      Die ganze Aufführung hatte insgesamt wohl nicht mal zwanzig Minuten gedauert, aber das war mehr als genug, um uns alle in eine Art Schockstarre zu versetzen.

      Wir hätten den Jungen gerne gefragt, was die von ihm hatten hören wollen und wohin sie ihn zwischendurch gebracht hatten. Aber selbst wenn seine untere Gesichtshälfte nicht so geschwollen gewesen wäre, wäre er kaum in der Verfassung gewesen, uns vernünftig zu antworten. Normalerweise hätte er mir leidgetan, aber in dieser Situation flößte mir sein Zustand nur Angst ein.

      Als nächster war Zabiullah an der Reihe. Als er seinen Gang antrat, zeigte er keinerlei Anzeichen von Nervosität oder gar Angst. Die Polizisten hatten ihn beiderseits an den Oberarmen gepackt, aber es wirkte, als sei er derjenige, der das Tempo bestimmte, in dem die drei auf die ominöse Tür zumarschierten. Diesmal dauerte es lange, bis sich diese Tür wieder öffnete, ohne dass wir in der Zwischenzeit mehr als ein gelegentliches lauteres Wort gehört hätten. Unser Mann – diesmal in Begleitung von drei Beamten – trat so aufrecht auf den Gang hinaus, wie er hineingegangen war. Als er an der Stelle vorbeikam, wo Faizal saß, wurde dieser aufgefordert, mitzukommen. Mir warf Zabiullah im Vorbeigehen einen kurzen Seitenblick zu. Sein leises „Allah-u aqbar“ schien auch mir zu gelten. Sein üppiger Bart sah zerzaust aus, aber sonst konnte ich an ihm kein Anzeichen grober Behandlung erkennen. Die fünf verschwanden im Fahrstuhl.

      „Vielleicht ist es am besten, man sagt einfach die Wahrheit“, flüsterte ich meinem Nachbarn zu, einem der beiden älteren Afghanen.

      „Willst du etwa, dass sie dich direkt wieder nach Afghanistan abschieben?“, fragte er leise zurück. „Dann sollen sie mich lieber gleich hier erschießen.“

      „Ist es etwa besser, in den Iran abgeschoben zu werden?“ Ich wusste, auch ihn hatten Kadérs Leute mit einem iranischen Pass ausgestattet.

      „Von da aus ist es eine Grenze weniger bis nach Europa“, stellte er nüchtern fest. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber der Blick eines unserer Bewacher brachte ihn zum Schweigen.

      Eine Grenze weniger. Ich beschloss, dem Rat dieses Landsmanns zu folgen. Wieder und wieder ging ich im Kopf die ‚Geschichte‘ durch, die mir Belal anvertraut hatte.

      Gespannt wartete ich, in welcher Verfassung mein Nachbar aus dem Verhörzimmer zurückkommen würde. Als sie ihn schließlich brachten und ich sah, wie er ganz am anderen Ende der Reihe zusammensackte, wusste ich, dass sie ihm seine Geschichte nicht geglaubt hatten. Dabei hatten sie sich, so wie es aussah, nicht mal die Mühe machen müssen, ihn zu misshandeln. Jetzt aber war es zu spät. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich nicht mehr in der Lage gewesen, mir in der Kürze noch etwas Neues zurechtzulegen.

      Die beiden Polizisten, die mich abgeholt hatten, blieben hinter mir stehen, nachdem sie mich auf den niedrigen Hocker hinuntergedrückt hatten. Der Vernehmungsbeamte auf der anderen Seite des Tisches war ein breitschultriger, drahtiger Mann. Mit seinem hellen Khakihemd und dem kurz getrimmten Schnauzbart erinnerte er mich an das Bild eines britischen Offiziers in einem Buch meines Vaters über die Geschichte Afghanistans. Er lehnte scheinbar entspannt in seinem bequemen Bürostuhl und sah mich schweigend an.

      Ich bemühte mich, extra gerade zu sitzen, so wie früher, wenn ich vor Großvater saß, und der mir etwas mitzuteilen hatte. Der Offizier klopfte mit der Spitze seines Kugelschreibers einen unregelmäßigen Rhythmus auf den dunkelroten iranischen Pass, der vor ihm auf dem Tisch lag. Ich dachte schon, ich halte dieses Schweigen nicht länger aus, da hörte das Klopfen auf. Mit einem Ruck richtete sich mein Gegenüber auf – wie eine Schlange, bevor sie zuschlägt.

      „Du bist die Nummer 28“, sagte er. „Alle vor dir haben am Ende die Wahrheit gesagt.“ Nach einer kurzen Pause,