Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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ängstliche Schnauben und Röcheln eines verletzten Pferdes. Er mühte sich, eine Lücke zwischen den vielen Gaffern zu finden, fand mehr schlecht als recht eine Gasse, wurde zur Seite geschubst und landete kurz auf dem schneebedeckten Boden, der sich an einigen Stellen bereits schmutzig rot gefärbt hatte.

      Zwischen den Beinen der Umstehenden erspähte er das gescheckte Fell eines der Zugpferde. Das Tier war gestürzt und lag hilflos auf einer Seite. Von Zeit zu Zeit zuckten seine Hinterläufe und in verzweifelter, sinnloser Anstrengung strampelten dann die Hufe. Nur Hals und Kopf, die noch im Geschirr steckten, vermochte es zu erheben, weiter reichten seine Kraft über die eigenen Gliedmaßen nicht. Blut trat aus den schwarzen Nüstern, und in den weit aufgerissenen Augen standen so viel Schmerz, Leid und Todesangst, wie eine Kreatur nur empfinden konnte. Eine Welle tiefen Mitleids stieg in ihm auf: Das Tier war dem Tod geweiht, und er hoffte nur, dass sich bald ein Soldat einfand, ihm mit der Muskete den Gnadenschuss zu geben.

      Ulrich wandte sich ab und schaffte es endlich, sich aus dem Reigen der Menschen zu befreien. Er folgte ein Stück der kreuzenden Straße, hielt sich rechts und hatte bald den Platz bei dem Rathause erreicht. Zur Linken, an der Trostbrücke, lag die Börse, geradeaus vor ihm erstreckte sich hinter einem vergitterten Zaun die Front des Alten und Neuen Rathauses. Da er sich mit der Ordnung der Räume dahinter nicht auskannte, steuerte er auf gut Glück das Hauptportal an. Die Namen der 21 Kaiser, deren Standbilder die Fassade schmückten, hatte er sich einst als kleines Kind so spielend leicht gemerkt, dass Johann Hesenius nicht umhin konnte, väterlichen Stolz zu empfinden. Jetzt, da er über diese Schwelle treten sollte, empfand er leise Beklemmung, und er hoffte inständig, dass seine Zungenfertigkeit in den nächsten Stunden seinem Gedächtnis nicht nachstehen würde. Der Wachmann ließ ihn mit Blick auf das Amtssiegel seines Briefes anstandslos durch, doch in der Vordiele hieß man ihn dafür so lange zu warten, dass er am Ende fast schon nicht mehr glaubte, überhaupt vorgelassen zu werden. Endlich, als er längst müde geworden war, die Schnitzereien und Wandgemälde an den Wänden zu mustern, führte ihn einer der Bediensteten eine Treppe hinauf ins nächste Stockwerk. Auf halbem Weg begegneten sie einem jungen Burschen, fast noch ein Knabe, der oben auf einer Leiter stehend, in einer engen Nische den Wandputz säuberte oder für eine neue Bemalung vorbereitete. Hinter der Tür, auf die sie zugingen, schien eine lebhafte Debatte im Gange zu sein, denn er hörte widerstreitende Stimmen.

      Dann durfte er eintreten, und Ulrich atmete ein wenig auf. Dies war nicht der große Ratssaal, in dem eine Hundertschaft von Bürgern und Kaufleuten Platz fand, sondern eine viel kleinere Stube, in der sich genau elf Herren aufhielten. Wenn es hier zuvor eine Sitzordnung gegeben hatte, so war sie jetzt, in der Pause, die gerade herrschte, aufgelöst worden. Vor den Fenstern standen die Beteiligten in kleinen Gruppen, und man unterhielt sich gerade über die verschiedensten Dinge.

      In dem größeren Pulk rechts sah er Lengsdorp, der seine Zuhörer mit einem launigen Schwank erheiterte. Irgendein leichtgläubiger Trottel hatte sich nach seiner Erzählung übervorteilen lassen und Delfter Steingut zum Preis von echtem Chinaporzellan angekauft, und die Runde amüsierte sich allenthalben über so viel Unbedarftheit.

      Als er Hesenius bemerkte, kam der Kaufmann mit jenem gewinnenden Lächeln auf ihn zu, dass Ulrich schon kennengelernt hatte. Lengsdorp bedankte sich, dass Ulrich so rasch erschienen war. Er lobte voll Überschwang die Gründlichkeit seines Totenberichts, wie auch die Umsicht, mit der er den Bericht über das seltsame Licht davon gelöst und ganz für sich beschrieben hatte.

      Erstaunt vernahm Hesenius, wie die Ergebnisse seiner Beschau die hohen Herren in nicht geringe Aufregung und Verlegenheit gestürzt hatten und wie sie sich anschließend beraten und mehrheitlich zu dem Beschluss gekommen waren, die Angelegenheit sei hinreichend bedeutsam, sie in einem kleineren Ausschuss weiterzuverfolgen.

      Außer ihnen beiden, so flüsterte Lengsdorp ihm zu, kannten in diesem Raum nur Joachim Borsfeld, dem die Wedde unterstand, und Hieronymus Schilling, der als Ältester den Ausschuss führte, auch den Sonderbericht über das seltsame Leuchten, den er, Ulrich, aufgeschrieben habe, dazu noch Nicolaus Jarre, der Bürgermeister, der jedoch seiner vielen anderen Aufgaben wegen im Ausschuss nicht zugegen war.

      Da Lengsdorp seinem gelehrten jungen Freund, wie er Ulrich bisweilen zu nennen pflegte, nunmehr die wichtigsten Dinge mitgeteilt hatte, übernahm er es, ihn mit den übrigen Anwesenden bekannt zu machen. So wurde Ulrich nacheinander den Ratsherren Harderust, Bruwer, Ker-kring und Mölln vorgestellt, die alle ihren schwarzen Ornat mit dem großen Mühlsteinkragen trugen. Der Talar von Schilling war zudem mit grauem Pelz besetzt, was dem weißhaarigen Mann, der aber unverkennbar noch mitten im Leben stand, unter den in der Ratsstube Versammelten heraushob und seine natürliche Autorität und Würde unterstrich.

      Moritz Rinck, ein Kaufmann, der ebenso wie Lengsdorp nicht dem Rat angehörte, jedoch wie dieser ein enger Freund des verstorbenen Heinrich von Brempt gewesen war, lächelte ihm bei der Begrüßung aufmunternd zu. Dem älteren, beleibten Borsfeld, dessen rundes Gesicht fortlaufend von Lachfältchen gerunzelt wurde, stand ein bedeutend jüngerer, desto ernster dreinblickender Adlatus zur Seite. Cunradus Haich, wie er vorgestellt wurde, versprühte für Ulrich erkennbar Ehrgeiz und den Willen, fest zuzupacken, wenn es gegeben schien. Einfache Gemüter hätten seine Erscheinung einfach als finster beschrieben. Ulrich fand sogleich, dass der andere für die Kunst des Verhörs geeignet schien wie kein Zweiter unter den Anwesenden. In dem Gesicht, das von eindrucksvoll langem Haupthaar umrahmt war, standen dichte Augenbrauen, die zudem leicht zusammengewachsen waren und überwölbten ein waches Augenpaar. Das Dunkle dieser Augen erschwerte es anderen, in ihnen zu lesen, was seinen Blick bohrend machte und ihn selbst unnahbar wirken ließ.

      Lorentz Nybur, ein Rechtsgelehrter mit unbewegtem Gesicht, und Cornelis van’t Hok, eine überaus hagere, fast dürre Gestalt mit Adlernase und kräftigem Schnurrbart, vervollständigten die Runde, der er gegenüber stand. Van’t Hok, der ein Paar Augengläser trug, war als erster Schreiber in der Wedde Borsfeld und Haich unterstellt. Seine Aufgabe hier bestand denn auch darin, das Protokoll zu führen. Er notierte beinahe unentwegt, was vorgetragen wurde, versagte sich aber angesichts dieser Beschäftigung eigene Fragen zu stellen.

      Die Herren nahmen nach der vorherigen Unterbrechung ihre Plätze an der großen Tafel im Raum wieder ein und während Ulrich ihnen gegenüber stand, sollte die Sitzung fortgeführt werden. Lengsdorp sprach eine kurze Einleitung, in der er hervorhob, wie in Ulrichs Bericht einige beunruhigende Dinge geschildert seien, welche sonst bei keinem der drei weiteren Ärzte Erwähnung fanden. Aus diesem Grund sei man nunmehr hier zusammengekommen, um die Angelegenheit gemeinsam weiter zu erörtern. Er bedankte sich noch einmal im Namen aller Anwesenden, dass Ulrich sich so rasch für ihre Fragen zur Verfügung gestellt hatte.

      Cunradus Haich, der Hesenius seit dessen Eintritt in den Saal nicht aus den Augen gelassen hatte, richtete sich gleich zu seiner ersten Frage auf. „Zunächst würde ich gerne hören, wie Ihr eigentlich dazu kamt, über die Beschau des Toten, die Euch als einziges aufgetragen war, hinaus weitere Untersuchungen vorzunehmen, Untersuchungen, die niemand verlangt hatte und die, wie ich leider feststellen muss, zuvörderst in den Amtsbereich der Wedde fallen“, erklang sein Vorwurf.

      „Ihr werdet meine Unwissenheit über die genauen Zuständigkeiten in diesen Dingen wohl nicht als Entschuldigung gelten lassen“, gab Ulrich zurück, „aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass am Tag, an dem die Beschau vorgenommen wurde, niemand von der Wedde zugegen war, den ich hierfür hätte um Erlaubnis fragen können. Vielmehr war es so, dass der Tote in den Räumen der Stadtwache aufgebahrt lag, und da es überdies Soldaten des Regiments gewesen waren, die von Brempt gefunden hatten, schien es mir rechtens, die Erlaubnis des Hauptmanns vor Ort einzuholen, um mit einem seiner Männer noch eine weitere Erkundung vorzunehmen. Die Untersuchung der Kleider des Toten war schon allein deshalb notwendig, weil die Wundverteilung am Körper selbst schwer zu erklären war.“

      Schilling schien die Richtung, in die Haich mit seiner Frage zielte, zu missbilligen und er unterbrach mit einer kurzen Handbewegung, noch ehe dieser eine weitere Anmerkung hinterherschicken konnte.

      „Wir wollen hier nicht über den Eifer eines jungen Mannes richten“, tadelte er, „denn dass wir hier überhaupt in diesem Ausschuss versammelt sind, hat seine Ursache darin, dass wir für bedenkenswert halten,