Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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da die Kerze vor ihm so weit heruntergebrannt war, dass sie zu flackern und zu rußen begann, legte er die Feder beiseite. Er wusste nicht recht, wie viel Zeit vergangen war, doch war es einerlei. Alle anderen mussten sich längst schlafen gelegt haben. Elsbeth verwahrte die Kerzen so wohl wie die Dochtschere, und selbst wenn sie noch wach gewesen wäre, so hätte sie keineswegs eingewilligt, etwas davon herzugeben, um ihn bei seinem nächtlichen Treiben zu unterstützen. Es gehörte zu ihren unverrückbaren Grundsätzen, dass Gottes Hand Tag und Nacht geschieden hatte und dass es des Menschen Aufgabe sei, sich in dieser Ordnung einzurichten, anstatt, wie er es unternommen hatte, sein Tagwerk inmitten der Nacht fortzusetzen.

      Kaum dass er dies überdacht hatte, spürte er, wie Müdigkeit ihn überfiel. Ebenso wurde er gewahr, dass der Rest Ascheglut, der den Weg vom Küchenherd in die alte Schüssel zu seinen Füßen genommen hatte, längst erloschen war und dass die Kälte der Nacht sich bereits merklich in der Kammer ausgebreitet hatte.

      Fröstelnd ging er zu Bett und fiel sogleich in einen unruhigen Schlaf. Es träumte ihm, er müsse unentwegt seine rechte Hand vor anderen Menschen verbergen, da sie von einem fahl leuchtenden Schimmer überzogen war. Vergeblich suchte er das verräterische Mal abzuwaschen, doch es trotzte all seinen Bemühungen.

      Als er noch vor der Morgendämmerung aus diesem Traum hochschreckte, pochte sein Herz so heftig wie von einer großen Anstrengung. Leicht verwirrt, doch mit einem augenblicklichen Gefühl tiefer Erleichterung sank er zurück auf das Kissen. Der gestrige Tag hatte ihm mehr aufregende Dinge beschert als all die Monate zuvor, seit er nach Hamburg zurückgekehrt war.

      Beim morgendlichen Beisammensein erfuhren Elsbeth, Agnes und Gerdt von den Begebenheiten des Vorabends, was er sich selbst zu schildern erlaubt hatte, und wenn er auch vieles verschwieg, so nahmen sie dennoch lebhaften Anteil an seiner Erzählung. Agnes’ Kinder, die Martin und, nach der Großmutter, Elsbeth gerufen wurden, waren gar so in Bann geschlagen, dass ihnen immerfort neue Dinge einfielen, die sie erfragen mussten, und darüber vergaßen sie ganz, ihren Brei zu löffeln.

      Zurück in seiner Kammer, ging ihm die weitere Arbeit an diesem Vormittage recht flott von der Hand: Zur Mittagsstunde befand er, alle seine wesentlichen Erkenntnisse und Mutmaßungen über den Tod Heinrich von Brempts seien nunmehr hinreichend dargelegt.

      Er hatte sich jedoch überlegt, noch eine zweite Schrift aufzusetzen, welche ausschließlich einer Beschreibung des geisterhaft fahlen Lichtschimmers an der Hand des Toten vorbehalten war. Und so schilderte er die Umstände seiner Entdeckung und, so gut seine Worte es vermochten, die unerklärliche Natur dieser Erscheinung, auch wie er selbst und Lengsdorp schließlich das Mal tilgten, damit sich der Anblick nicht verbreite und böse Nachrede in das Gedenken an den Toten floss. Indem er diese so überaus seltsamen Begebenheiten gesondert zu Papier brachte, hatte er das seinige dazu beigetragen, sie weiterhin geheim zu halten. Er war sicher, dass Lengsdorp die Niederschrift nur an ausgewählte Amtsträger weiterreichen würde.

      So trug er also statt einem Brief deren zwei mit sich, als er sich schließlich am Nachmittag zurück auf den Weg machte zu des Vaters Kontor. Es war ihm, als sei er nie weg gewesen. Der alte Harm bewachte die Eingangshalle, Johann Hesenius machte gerade seinen täglichen Rundgang durch die hinteren Speicherräume und gab Jacob und Fokko, die hier tätig waren, Anweisung, den Bestand verschiedener Waren zu prüfen.

      Als Ulrich hinzutrat, wurde er nicht anders begrüßt, als sei er eben seiner kleinen Schreibstube entstiegen, um hier unten sein Tintenfass frisch zu füllen oder einen Stoß Papiere aufzunehmen.

      Gerne hätte er noch den Gang durch die Stadt gemacht, um seinem Auftraggeber selbst die beiden Briefe zu überreichen, doch Johann Hes-enius beschied, dass Jacob mit seinen flinken Beinen dies ebenso gut erledigen könne. Tatsächlich wusste Ulrich seine Papiere bei ihm in guten Händen. Er kannte jeden Winkel der Stadt und war als Bote so zuverlässig, wie man es sich nur wünschen konnte.

      Sein Vater stellte wenig Fragen nach dem, was Ulrich widerfahren war, doch nahm er die Nachricht vom Tod Heinrich von Brempts mit betroffener Miene auf. Wenngleich er den Ratsherrn nicht näher kennengelernt hatte, so wusste er natürlich um Bekanntheit und Ansehen des Mannes.

      Ulrich fand es nicht eben einfach, nach den vergangenen Ereignissen seine Arbeit dort wieder aufzunehmen, wo er sie verlassen hatte: Die Aussicht, über Monate hin Briefwechsel zu führen, von denen kein einziger sein Herz berührte oder seinen medizinischen Verstand und seine Neugier so forderte, wie er es am gestrigen Tag erlebt hatte, bekümmerte ihn mehr, als er geglaubt hatte.

      Dabei gestand er sich ein, dass er, verglichen mit jenem Teil der Buchführung, der sich dem Bestand an Waren, den Ankäufen und Verkäufen oder Umrechnung und Subsidien widmete, noch mit Aufgaben betraut war, die man abwechslungsreich nennen durfte. Da gab es etwa ein Schreiben vom Haushofmeister des Großfürsten und Kanzlers von Litauen, und dennoch erschien ihm sein Inhalt nunmehr öde und belanglos. Noch vorgestern hatte ihm das holprige Französisch des Mannes einiges Vergnügen bereitet und wie er umständlich sein Interesse an weiteren Gold-ledertapeten aus der Werkstatt von Le Maire bekundete, da des Kanzlers Frau und den Damen des Hofes die im Vorjahr erworbenen Wandbehänge so ausnehmend gut gefallen hatten. Jetzt spottete er innerlich über den umständlichen Tonfall des Mannes, der zwischen den Zeilen bereits zum Feilschen ansetzte. Im Ganzen war es ohnehin zweifelhaft, ob Johann Hesenius hiervon weitere Ware aus Amsterdam erhalten würde.

      Spät am Nachmittag ließ Ulrich die Schreibfeder sinken. Von unten her vernahm er großen Trubel im Kontor, so dass er verwundert seine Stube verließ, um nachzusehen, was vorgefallen sei.

      Auf der Treppe drang ein Gewirr von Stimmen aus der Halle hinauf, dazu vernahm er allerhand Lärm und tobende Kinderschritte.

      Erst als er ein ihm wohlvertrautes lautes Lachen hörte, kam ihm zu Bewusstsein, was er doch hätte ahnen können: Seine Stiefmutter war mit den Kindern von ihrer Reise nach Lübeck zurückgekehrt. Volle drei Wochen hatte er Tilda nicht gesehen, und ohne sie und die Schar seiner Halbgeschwister war das Haus so ruhig gewesen, dass er häufiger als eigentlich notwendig, die Schreibstube des Vaters aufgesucht hatte, nicht so sehr um sich der richtigen Vorgehensweise mit all den vielen Papieren auf seinem Tisch zu vergewissern, als vielmehr, um zwischendurch über sein Tagwerk reden zu können und dabei die vertraute Stimme zu hören. Bisweilen war es gar vorgekommen, dass sie von den alltäglichen Dingen der Arbeit abschweiften und alte gemeinsame Erinnerungen hervorkehrten. Alles in allem hatten sie sich besser verstanden in den letzten Wochen als zuvor, und er wusste, dass es nun wieder so sein würde wie immer, wenn Tilda zugegen war. Er ging ihr und damit auch den anderen aus der Familie aus dem Weg, einfach indem er sich hoch oben in seiner Kammer vergrub.

      Furcht und Scheu waren die ersten Empfindungen, die er ihr damals entgegenbrachte, an jenem Tag, als Johann Hesenius mit der ihm fremden Frau nach Hause zurückkehrte, und da seine Kinderseele sogleich zu spüren meinte, wie sie hinter ihren anfangs freundlichen Worten doch ganz anders über ihn dachte, verschloss er sich ihrem falschen Werben. Er gewöhnte sich an, sie zu strafen, indem er so wenig wie möglich mit ihr sprach, und brachte es zur Meisterschaft darin, ihre Fragen an ihn einfach zu überhören. Wenn es nicht zu vermeiden war, antwortete er unwillig, schüttelte aber meist nur den Kopf oder sprach die Worte doch wenigstens in Richtung des Vaters statt in ihre, als bedeute es zuviel Anstrengung, auf ihr drängendes Fragespiel einzugehen und sie zugleich anzublicken.

      So lautete bald ihre Klage an Johann Hesenius, dass der Junge in jeder Hinsicht verstockt sei und seiner neuen Mutter in tausend Kleinigkeiten Verdruss zu bereitete. Jede neue Klage, die sie erhob, nährte seine Gewissheit, dass sie ihn im Grunde ihres Herzens hasste, und es war daher für ihn keine Frage, dass er recht daran tat, ihre Gefühle in gleicher Weise zu erwidern.

      Als sie die ersten eigenen Kinder gebar, wurde es leichter für ihn, sich abzusondern, und dass seine Halbbrüder bald jene aufrichtige Zuneigung und Aufmerksamkeit von ihr erfuhren, die er selbst entbehrte, nahm er als Auszeichnung.

      Johann Hesenius ertrug diesen Zwist in stillem Kummer. Früh hatte er die Hoffnung auf eine Besserung zwischen ihnen beiden aufgegeben. Bisweilen wies er seine Frau zurecht, wenn sie sich in Zorn geredet hatte, häufiger jedoch sah Ulrich sich gezwungen, Abbitte zu leisten, wenn er es an Respekt hatte