Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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der die Verteilung der Totenflecke beschreibt. Ich bitte diese Blutmale nicht misszuverstehen: Es sind keine Wunden, sondern einfach Stauungen des Blutes unter der Haut, welche nach dem Tod einsetzen. Da das Herz nicht mehr schlägt, endet der ständige Kreislauf des Blutes, und es sinkt ab, so wie es Flüssigkeiten sonst überall zu eigen ist. An von Brempts Leichnam war die Haut jedoch vor allem an Kopf, Armen und Beinen blutunterlaufen, so als wären diese Teile nach dem Tod tiefer gelegen als der restliche Körper: Ich habe lange nach einer Erklärung hierfür gesucht und glaube sie heute geben zu können.“

      „Wurde diese blutunterlaufene Haut auch von anderen bemerkt?“, unterbrach ihn Haich, der vor der Sitzung offenbar nicht alle Berichte gelesen hatte. Bruwer, Mölln und andere am Tisch versicherten ihm, wenigstens Doktor Winckel und der Regimentsarzt Scharf hätten die gleiche Beobachtung niedergeschrieben, jedoch ohne hieraus weitere Schlüsse zu ziehen.

      „Nach meiner vorherigen Darlegung wird es wohl niemanden hier überraschen, wenn ich sage, dass Heinrich von Brempt nicht an der kleinen Fleetbrücke gestorben ist. Den Ort, wo er umkam, kennen wir nicht, aber ich werde gleich erläutern, dass er ein gutes Stück Weg entfernt war von dort, wo man den Leichnam später auffand.

      Der Ratsherr ist an diesem Abend also allein unterwegs, vermutlich auf dem Weg nach Hause zu seiner Familie. Irgendwo unterwegs lauert ihm jemand auf. Von Brempt wird, dafür spricht die Lage der Schädelwunde, vermutlich hinterrücks erschlagen – mit einer stumpfen Waffe oder auch nur einem schweren Knüppel und fällt zu Boden.

      Doch nun geschieht etwas Seltsames: Der Unbekannte, oder vielleicht sollten wir besser sagen, die Unbekannten, denn ich halte es für wahrscheinlich, dass die Tat wenigstens von zwei Schurken verübt wurde, berauben ihr Opfer nicht etwa und verschwinden wieder – nein, sie lassen den Geldbeutel und auch die anderen Dinge von Wert, die der Ratsherr bei sich trägt, unangetastet. Irgendwie scheinen sie erschrocken über ihre eigene Mordtat: In der ersten Regung versuchen sie den Körper auf plumpe Art zu verstecken. Sie zerren ihn in ein Gebüsch oder etwas Ähnliches.“

      „Habt Ihr einen Beweis für diese Behauptung?“, warf Haich zweifelnd ein.

      „Sofern Kleidung und Hut des Toten, wie von mir angeraten, sorgfältig aufbewahrt wurden, werdet ihr daran vielerlei Schlieren finden, weniger am Beinkleid, wohl aber am Mantel, dazu verkrusteten Schmutz, der sich tief unter dem Kragen verfangen hatte.“

      „All das könnte ebenso erst später entstanden sein, durch das unachtsame Betragen der Männer, die ihn schließlich fanden.“

      „Oh nein! Die drei Soldaten, die von Brempts Leiche fanden, führten eine einfache Tragbahre mit sich, auf dass sie im Notfall einen Verletzten bergen konnten. Einer von ihnen, der alte Krayenbrinck, versicherte mir, dass sie den toten Ratsherrn in der Nacht ohne Unschicklichkeit aufluden und forttrugen. Der Mann sprach aufrichtig. Ich bin sicher, dass diese einfachen Menschen auch über den Tod hinaus Ehrfurcht und Scheu vor dem hohen Amt und der Würde eines Ratsherrn bewahrt haben. Folglich waren es von Brempts Mörder, die ungewollt seine Kleider verunstalteten.“

      Haich machte eine Handbewegung, dass Ulrich fortfahren möge.

      „Einer von ihnen packt das Opfer also an den Stiefeln, hebt die Beine hoch und zerrt es ein Stück weit hinter sich her. Von der scheußlichen Behandlung ist der Pelz nun ordentlich beschmutzt, und allenthalben werden Schnee, Erde, Blätter und kleine Äste unter den Kragen gekehrt. Von Brempts Hut hat sich unterdessen von seinem Kopf gelöst. Als der Getötete im Gebüsch liegt, probieren die Täter, den Hut wieder aufzusetzen. Der Haarfilz wird dabei mit dem Blute beschmiert, das aus der Schädelwunde austritt. Nach dieser ganzen überhasteten Anstrengung aber überlegen die Täter es sich anders. Sie beschließen, dass alles wie ein tragisches Unglück aussehen soll, ein einfacher, folgenschwerer Sturz, wie er sich mitunter bei winterlicher Glätte ereignet, und als Ort hierfür wählen sie die Anhöhe der kleinen Fleetbrücke, weil diese so einsam gelegen ist, dass sie dort ungestört alles herrichten können.

      Doch auf dem Weg dorthin muss ihr Opfer – und es ist ein stattlicher Mann, den sie gefällt haben – getragen werden. Ihr werdet fragen, wie sie dies bewerkstelligten? Nun, es eignet sich besser zu zeigen als dass man versucht, es in Worte zu fassen. Mit Erlaubnis des Vorsitzenden Ratsherrn Schilling und aller anderen hier, würde ich gern für einige Augenblicke jemand von außen zu uns herein bitten, einzig für eine stumme Vorführung.“

      Schilling blickte nicht weniger überrascht als alle anderen, aber da er in die Runde schaute und niemand Einwände erhob, nickte er schließlich und bedeutete Hesenius mit einer Handbewegung, er möge sein Glück versuchen, hinter der Türe jemanden zu finden für seine Zwecke.

      Ulrich huschte also hinaus, und es dauerte keine Minute, da sah man ihn wieder eintreten mit eben jenem Handwerksburschen aus dem Treppenhaus, der nun von seiner hohen Leiter gestiegen war. Er stellte den jungen Jean vor, dessen Eltern aus La Rochelle den Weg nach Hamburg gefunden hatten, und alle sahen, dass Hesenius ihn vor allem anderen gewählt hatte, da er klein und leicht war und er sich folglich gut eignete, getragen zu werden. Auf Ulrichs Anweisung hin stand er ganz still und ließ alles folgende mit sich geschehen. Ulrich ergriff seinen rechten Arm oberhalb des Handgelenks und hob ihn ganz in die Höhe. Dann duckte er sich, ging ein Stück in die Hocke, und als er sich wieder aufrichtete, trug er den Jungen, dessen Körper nunmehr bäuchlings über Nacken und Schulter geworfen war. Sein linker Arm umfasste die herunterbaumelnden Beine, mit der Rechten hielt er weiterhin des Jungen Unterarm gepackt, so dass der Getragene nicht herunterrutschen konnte. Alle am Tisch staunten ob dieses Anblicks, und Ratsherr Brouwer sprang, von Erregung gepackt, so hastig auf, dass er seinen Stuhl umwarf.

      Ulrich tat, bepackt mit seiner menschlichen Last, einige Schritte, machte kehrt und ging wieder zurück und bat die anwesenden Herren nur darum, sich die Einzelheiten der ganzen Haltung einzuprägen. Als er den jungen Jean wieder absetzte, sah man, wie diesem leicht schwindelte, da er zuvor kopfüber gehangen hatte und nun, da er wieder aufrecht stand, das vermehrt in den Kopf gestiegene Blut wieder von dort abfloss. Ulrich bedankte sich bei seinem Gehilfen für sein Mitwirken und führte ihn anschließend wieder zur Tür hinaus, ohne dass der Junge sich auf das gerade Erlebte einen Reim machen konnte. Wenn er erst wieder oben auf seiner Leiter stand, würde er sich recht ausgiebig wundern über die Grillen der hohen Herren hinter der Saaltür.

      Als Ulrich wieder vor die Ausschussmitglieder trat, verstummte das Flüstern, mit dem sie ihre Eindrücke untereinander austauschten. Niemand stellte zweifelnde Fragen, und er konnte ungestört fortfahren in seinem Bericht: „Was wir eben gesehen haben, erklärt alles, was an von Brempts totem Körper sonst noch auffällig war: die ungewöhnliche Verteilung der Totenflecke an Armen, Beinen und Gesicht, die unterbrochene Rotfärbung der Haut oberhalb des Handgelenks, wo jemand den Arm fest gepackt hielt, und sogar die drei kleinen Wundmale dort, die ich bei der Aufzählung der Verletzungen in meinem Bericht erwähnte und deren Ursache mir lange Zeit unklar blieb.“

      Nybur, der offenbar über ein ausgezeichnetes Gedächtnis verfügte, warf für die Anwesenden kurz ein, dass der Regimentsarzt dieselben Male auch in seinem Bericht aufgeführt hatte.

      „Es waren ganz einfach die Fingernägel desjenigen, der den Getöteten trug. Sie gruben sich, während der Unterarm gepackt wurde, post mortem in Haut und Fleisch. Ich kann nicht sagen, wie lange dieser schaurige Transport dauerte, aber er verrät uns einiges über von Brempts Mörder. Der Ratsherr war, wie schon erwähnt, um vieles schwerer als der kleine Jean, den ich eben, gleichsam passend zu meiner eigenen Körperkraft, wählte. Wer immer den Toten auf diese Weise hochheben und forttragen konnte, muss von wahrhaft großer und sehr kräftiger Gestalt sein. Ebenso ist die Hand dieses Riesen überaus groß, da sie auf halber Länge des Unterarmes das Austreten des Blutes unter der Haut durch das Zupacken verhinderte. Dieser Hüne, nun er muss, wie gesagt, wenigstens einen, vielleicht auch mehrere Helfer zur Seite haben, er geht also hinter dem anderen her, der vorausspäht, in der Dunkelheit, achtgibt auf den Weg und hier und da mit der Laterne leuchtet und die Richtung weist. Nachdem sie so heimlich marschiert sind, gelangen sie endlich zu dem kleinen Fleet, begeben sich zur Mitte der Brücke und lassen den Leichnam von dort oben hinunter fallen auf die schneebedeckte Eisfläche. Des Ratsherrn Hut aber stecken sie unten an der Böschung gut sichtbar