Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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ich, so mundfaul, dass wir statt ihrer ebenso gut einen Ochsen befragen könnten.“ Er lachte über seinen eigenen Witz, läutete eine Schelle auf seinem Tisch und trug dem eintretenden Burschen auf, den von ihm ausgesuchten Mann herbeizubringen.

      Da die Sache sich besser anließ, als er erhofft hatte, unterbreitete Ulrich dem Hauptmann sogleich, worauf er eigentlich abzielte.

      „Wenn ihr gestattet, würde ich mich von eurem Soldaten gern an den Ort führen lassen, wo sie den toten Ratsherrn gefunden haben“, führte er seine Bitte fort.

      „Soviel ist gewiss“, erwiderte van Horn mit einer Miene, die weiterhin Wohlwollen verhieß, „Ihr zählt unter diejenigen, die nicht ruhen, ehe noch die letzte Begebenheit zur vollen Zufriedenheit erkundet wäre, wie? Nun, Lengsdorp hält große Stücke auf eure Klugheit, und wir wollen nicht zurückstehen hinter seinem Urteil. Ihr bekommt euren Mann und er mag Euch führen, wohin immer Ihr es wünscht, sofern er nur seinen nächsten Dienst nicht versäumt!“

      Er lachte erneut und Ulrich stimmte zaghaft mit ein, denn die heitere Natur des Hauptmanns vermochte auch sein gedankenschweres Gemüt ein wenig aufzuhellen.

      Bald darauf trat er einem älteren, schmächtigen Soldaten gegenüber, dessen wettergegerbtes Gesicht an der linken Wange wie von einer alten Brandwunde vernarbt und verfärbt war. Seine Erscheinung war so schäbig, dass man nicht umhin konnte, Bedauern für ihn zu empfinden. Wenn sein Rock auch ausreichend sauber schien, so war er doch mit allerlei Flicken geradezu übersät und das Tuch dabei so ausgeblichen, dass seine ursprüngliche Färbung kaum mehr zu erahnen war. Ein leichtes Hinken beschwerte den Gang des Mannes, doch rührte es nicht von einem Leiden her, schuld war vielmehr sein schlechtes Schuhwerk, denn wie Ulrich bei genauerem Hinsehen erkannte, war der Absatz seines rechten Stiefels herausgebrochen.

      Ulrich verabschiedete sich vom Hauptmann. Krayenbrink hatte Anweisung erhalten, ihn nach Kräften zu unterstützen, und er tat wie geheißen, beantwortete Ulrichs Fragen und machte einzig ein erstauntes Gesicht, als dieser ihn bat, sie möchten doch neben einer Laterne auch einen Reisigbesen und eine Schaufel mitnehmen.

      Wenn etwas Zögerliches in seiner Haltung war, so konnte man dies Scheu und Unsicherheit zuschreiben. Ulrich nahm an, dass es seit den Ereignissen der vergangenen Nacht niemand für nötig befunden hatte, ihm oder seinen Kameraden dafür zu danken, dass sie den Leichnam des Vermissten entdeckt hatten.

      So ging er betont freundlich auf seinen Begleiter ein, wusste sich zu entschuldigen für alle Ungelegenheiten, die seinen Wünschen entsprangen, und er bestand darauf, von ihrer kleinen Ausrüstung wenigstens den Besen selbst zu tragen, derweil sein Weggefährte voranschritt und ihren gemeinsamen Weg ausleuchtete. Sie bildeten ein seltsames Gespann, da Ulrich fortwährend die eine oder andere Frage an den vor ihm Marschierenden richtete, woraufhin Krayenbrink mit der ihm eigenen, heiseren Stimme antwortete. Hierbei wendete er jedoch nie den Kopf, so dass es schien, als spräche er zu der finsteren Umgebung, die sie beide umgab. Sein Führer ging langsam aber stetig, nur bisweilen hielt er kurz inne, schwenkte die Laterne höher als sonst, um sich an einer Häuserzeile zu orientieren, eine Gabelung abzupassen oder auch nur, um Ulrich auf eine Ungelegenheit ihres Wegs hinzuweisen.

      Bald hatte er den Eindruck, das Vertrauen dieses Veteranen gewonnen zu haben. Was Krayenbrink unterwegs von der nächtlichen Begebenheit schilderte, deckte sich mit dem, was er zuvor von Lengsdorp über die Suche erfahren hatte. Vor Mitternacht hatte sie danach der Wachhabende angewiesen, bei der Suche nach einem Vermissten zu helfen, und alsbald waren sie in eilig zusammengestellten Häuflein jeweils zu dritt ausgeschwärmt.

      Während der Alte Einzelheiten ihrer nachfolgenden Suche schilderte, steuerten sie schließlich auf einen Graben zu, an dem ihre Wanderung ein vorläufiges Ende fand.

      Ulrich schätzte, dass sie jetzt ein gutes Stück nördlich des großen Rundbogens am Alten Wall standen. Die letzte Häuserzeile lag hinter ihnen und der hier verlaufende Graben musste durch ein Stück Brachland führen, um dann weiter weg irgendwo in das ungleich breitere Alsterfleet zu münden. Vorsichtig schritt Krayenbrink das Ufer ab und bedeutete Hesenius, zu ihm aufzuschließen. Das Licht der Laterne erhellte die schneebedeckte Eisfläche vor ihnen. Ulrich hatte insgeheim gehofft, er könne aus den verbliebenen Spuren im Schnee etwas herauslesen, aber den Tag über mussten bereits andere hier gewesen sein. ob nun vor allem Freunde des Toten, die Männer der Wedde, neugierige Anwohner oder bloß spielende Kinder sich eingefunden hatten – die Schneedecke war an vielen Stellen zertreten und scheinbar wahllos führten verschiedene Pfade über das Eis. Hinter dem Lichtschein, der die Spuren dieses Durcheinanders erhellte, vermochte Ulrich starke Pfeiler zu erkennen, welche die Balken einer hölzernen Brücke stützten. Von dort herab, so berichtete Krayenbrink, hatten er und seine Kameraden einen dunklen Körper auf dem Eis entdeckt, waren sofort umgekehrt und dann hier, an einer eher flachen Stelle der Böschung, hinunter geeilt, nur um einen Unglücklichen zu finden, für den jede Hilfe zu spät kam.

      Ulrich entschied, dass sie zuerst ihr Glück auf dem Eis versuchen sollten. Krayenbrink ging voraus und die Laterne des Alten tanzte beim Abstieg unruhig hin und her, leuchtete dann aber von unten her stetig und einladend, so dass er sicheren Schrittes hinunter gelangte.

      Die stumpfe Schneedecke machte das Eis gut begehbar. Kein Knacken war zu hören, nur ein sanftes Knirschen begleitete jeden ihrer Schritte.

      „Wir wollen nun sehen, wo unser Mann von der Brücke gestürzt sein könnte. Wollt ihr mir daher, so genau es Euch möglich ist, bedeuten, an welcher Stelle der Körper gelegen hat“, fragte Ulrich.

      Krayenbrink nickte und ging ohne zu zögern auf die Mitte der schmalen Brücke zu. Etwa zwei Schritte davor blieb er stehen und schwenkte die Laterne auf eine Weise hin und her, dass Ulrich erahnen konnte, in welcher Ausrichtung sie den Leichnam vorgefunden hatten. Genau hier, so erklärte der Soldat, sei es gewesen. Aber, dachte Ulrich, war die Erinnerung seines Begleiters tatsächlich so genau oder hatte er die Stelle mehr aufs Geratewohl angezeigt, um den beharrlich fragenden jungen Mann nicht zu enttäuschen?

      „Wie könnt Ihr Euch so sicher sein?“, forschte er weiter, „der Brückenbogen ist alles in allem gut vier Klafter breit. Da könnte der Mann doch ebenso gut hier oder dort herüber gelegen haben. Was meint Ihr?“

      „Nein, nein, junger Herr“, widersprach der Alte, „gerade hier herüber hat er gelegen, ganz einfach so, wie unsereins schlafen möchte, auf dem Rücken“, beschrieb er, während die Hand mit der Laterne nun eine kleine Kreisbewegung vollführte, „und dabei war sein Kopf grad’ hier.“

      Und da er in Ulrichs Blick den Zweifel nicht ausgelöscht sah, setzte er noch ein weiteres hinzu. „Nein, seht nur, junger Herr“ sprach er und stieß dabei mit dem Stiefel mehrfach gegen einen recht spitzen und offensichtlich harten Buckel zu seinen Füßen, „hierauf hat der Vinzenz noch gemeint, was für ein Glück es gewesen sei, dass der Mann mit dem Kopf gerade neben dem Grat aufgekommen wär’, weil er sich andernfalls doch grad noch mal böse verletzt hätte“. Und das sei, so fügte er hinzu, doch arg töricht gewesen, solches zu sagen, da der Mann schließlich doch schon tot vor ihnen gelegen sei.

      Ulrich nickte zustimmend. Die Schilderung des Alten schien aufrichtig. Er besah sich den Wulst genau. Er war noch leicht von Schnee bedeckt und ließ nicht die kleinste Blutspur erkennen. Er nahm den reisigbesen und entfernte einiges vom Schnee. Bald ahnte man, was es war: Ein Stück Treibholz musste sich hier einst im Schlick niedergelassen haben, und sein schwarzgefärbtes Ende ragte nun gleich dem Maul eines erstarrten, unförmigen Fisches durch die Eisdecke.

      Er trat ein paar Schritte zurück und versuchte sich vorzustellen, was sich an diesem ort abgespielt haben mochte. Wie viel einfacher wäre seine Untersuchung doch gewesen, wenn er den Toten hier unberührt vorgefunden hätte, doch hatten Krayenbrink und seine Kameraden wohl kaum anders handeln können, als ihn sogleich von hier fort zu tragen.

      Wenigstens hatte er Vorsorge getroffen, dass sie einer Sache, die ihn beschäftigte, nunmehr nachgehen konnten. Dem Gewirr der vielen Spuren im Schnee war nichts weiter zu entnehmen, doch etwas Verborgenes darunter wollte Ulrich dennoch betrachten.

      „Wollt Ihr mir nun helfen, dass wir mit Schaufel und Besen ein