Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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Augen die Welt zu erkunden, war er wenigstens an schlimmen Tagen überzeugt, dass es auf dem Erdball keinen Menschen geben könne, den er mehr hasste als die Frau, die sich selbst vor anderen seine Mutter nannte. Als er endlich soweit herangewachsen war, dass sie zurückscheute, die Hand gegen ihn zu erheben, war er bereits besonnener in seinen Ansichten. Das Gefühl, dass er ihr im Grunde einfaches Wesen und ihre ewig gleichen Ränke gegen ihn leicht durchschauen konnte, stimmte ihn insoweit milde. Seit damals beließ er es dabei, dass er einfach verdeckten Spott in seine Rede einfließen ließ, wenn sie ihm Vorhaltungen machte.

      Er wusste, dass die Liebe des Vaters zu ihr nicht tief war, doch die Verbindung mit Tilda aus der Lübecker Kaufmannsfamilie Hoop war nützlich und gut, und vor allem hatte sie ihm die Söhne geschenkt, die das Geschäft eines Tages übernehmen und fortführen würden. Im Grunde hätten Dietrich und der junge Johann ihm dankbar sein müssen, dass er, Ulrich, sich so früh von solchen Aussichten losgesagt und seinen angestammten Platz geräumt hatte, doch auch jetzt, da die Brüder ihm nach dem Erlebnis der Familienreise wieder gegenüber standen, maßen sie ihn mit jenem finsteren, abschätzigen Blick, den sie der Mutter abgeschaut hatten.

      Sie tauschten keine falschen Umarmungen, aber er begrüßte Tilda mit der gebotenen Höflichkeit. Sie war bis auf ihr langes hellblondes Haar, das sie stets tadellos gekämmt und geflochten trug, vielleicht nicht als Erstes schön zu nennen, aber sie wirkte noch jung, war kräftig und gesund anzuschauen. Auch jetzt stand sie wie selbstverständlich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, verteilte kleine Geschenke, richtete ihrem Gatten den Hemdkragen neu und erteilte zwischendurch Anweisungen an Ursel, ihre Magd, und an einen Diener, der die Reisenden wohl von Lübeck her begleitet hatte und den er nicht kannte.

      Mehr als um alle anderen, die sich nun in der großen Halle drängten, war es Ulrich aber um eine kleine Gestalt zu tun, die sichtlich verloren dabei stand. Anders als ihre Brüder war Katharina, die Jüngste, bösen Einflüsterungen gegen ihn nicht zugänglich: Freudestrahlend ließ sie sich hochheben und küssen und freute sich, dass sie einen Zuhörer ganz für sich hatte, dem sie von ihrer wundersamen, zweitägigen Schlittenfahrt erzählen konnte. Es war am Ende die einzig schöne Erinnerung, die er von diesem Abend im Kontor mitnahm.

      Die restlichen Tage der Woche dünkten ihn so eintönig, dass ihn unbewusst das Gefühl überkam, sein vorheriges Erlebnis müsse auf Einbildung beruhen. Es waren kleinere Dinge, die daran erinnerten, dass an diesem Tag im Gewölbe des Neuen Zeughauses wahrhaftig etwas Ungewöhnliches in sein Leben getreten war: Ein kurzes Dankschreiben von Hermann Lengsdorp traf ein für seine Berichte, und dann war da der Umstand, dass allenthalben in der Stadt über den ganz unerwartet verstorbenen Heinrich von Brempt gesprochen wurde. Die Neuigkeit war angereichert mit dem, was man über den großen Reichtum des Ratsherrn gehört hatte, oder man sprach von der jungen Witwe des Mannes, die, wie einige wussten, aus Venedig stammte. Als schließlich die Beerdigung anstand, sah man in St. Nikolai einen schier endlos langen Trauerzug. Alle hohen Herren und ihre Familien hatten sich eingefunden, um dem Gottesdienst beizuwohnen, und wer nicht zu den Bekannten und Freunden gehörte, wollte wenigstens dabei sein, um einen Blick auf den so schön geschmückten Sarg zu werfen.

      Nach diesem Ereignis war es Sonntag geworden, und es gehörte zu den Freuden seiner Tante, dass er sie zur morgendlichen Messe begleitete. Er tat es ihr zu Gefallen, nicht etwa, weil er die Predigten übermäßig schätzte, die Caspar Mauritius von der Kanzel unter das Kirchenvolk ausschickte. Für die Zeit, da Elsbeth auf seinen Arm gestützt ging und er sie nach St. Jacobi zu ihrem Platz führte, war es für sie beinahe, als habe das Leben ihr verspätet doch noch zu einem Sohn verholfen. Der Pastor empfahl die Seele des verstorbenen Ratsherrn der göttlichen Gnade, und Ulrich dachte, wie bestenfalls eine Handvoll Leute nach seinem Bericht sich Gedanken anderer Art über diesen Tod machte. Er nahm innerlich Abschied von dem rätselhaften Aussehen des Leichnams und von dem noch rätselhafteren kalten Licht, bei dessen Anblick das versammelte Kirchenvolk wohl einen Teufelsspuk ausgemacht hätte.

      Die jungen Leute hatten sich den Sonntagnachmittag zur Zerstreuung und allerlei fröhlichem Zeitvertreib eingerichtet, und es tat ihm gut, mit Agnes und Gerdt Freunde zu besuchen. Einige aus der geselligen Runde, die so zusammenkam, waren im gleichen Alter und er kannte sie zum Teil noch aus Kindertagen. Seine Tante setzte sogar gewisse Hoffnungen in diese Zusammenkünfte und wurde nicht müde, Ulrich zu schildern, wie vorzüglich fromm und tüchtig vor allen anderen jungen Frauen doch Gundel sei, eine der Töchter der befreundeten Familie Engelbrecht. Aber wenn Ulrich sich ihre Aufmerksamkeiten und ihr helles Lachen auch gerne gefallen ließ, so war es ihm doch nicht bedeutender als das anderer hübscher Mädchen, und keinesfalls kam ihm der Gedanke, er könne um ihretwillen für immer in Hamburg verweilen.

      Die neue Woche begann für ihn nicht weniger trübe und eintönig, als die alte geendet hatte, doch am Morgen des folgenden Tages fand er alles seltsam verändert. Kaum hatte er das Kontor betreten, wurde er auch schon von Tilda aufgehalten, was für gewöhnlich der Auftakt für eine ihrer langen Belehrungen darstellte, die, wie sie wohl wusste, ihm zuwider waren. Diesmal jedoch teilte sie ihm in einem langen Wortschwall mit, dass am Abend vorher noch ein amtliches Schreiben für ihn eingetroffen und hinterlegt sei. Nachdem sie zu Ende geredet hatte, ließ sie sich diesen Brief, um die Angelegenheit noch bedeutsamer zu gestalten, umständlich vom alten Harm reichen, bevor sie ihn endlich aushändigte.

      Das Siegel der Hansestadt war Ulrich bereits vertraut. Er entfaltete den Bogen und überflog rasch, was darauf geschrieben stand. Die Zeilen verhießen eine Wendung der Dinge, mit der er nicht gerechnet hatte, und plötzlich ahnte er, dass mehr darin sein mochte als nur, dass sich das Geschehen des heutigen Tages für ihn änderte. Ein Seefahrer, der auf ein unbekanntes Eiland zu steuerte ohne rechte Kenntnis von den Untiefen und Strömungen vor Ort, mochte sich ähnlich fühlen wie er in diesem Augenblick.

      Soviel stand fest, dass man seinen Bericht über den Leichnam von Brempts gelesen hatte, und hohe Würdenträger im Rathaus baten ihn nun umgehend zu einer vertraulichen Sitzung, damit er ihnen auf ihre Fragen antworte.

      Seiner Stiefmutter stand die Neugier ins Gesicht geschrieben. Zu anderen Zeiten hätte ihn dies nur gereizt, alles vor ihr zu verbergen, aber er war milde gestimmt und verriet zwar nicht eben viel, gab aber wahrheitsgemäß an, dass er einigen Herren im Rathaus seinen Totenbericht der vergangenen Woche erläutern solle.

      Eigenartigerweise schien Johann Hesenius weder sonderlich überrascht, noch äußerte er Unmut, darüber, dass sein Sohn aufs Neue der Arbeit fern bleiben würde. Ulrich war hierüber froh, konnte sich seine Stimmung aber nicht recht erklären. Irgendwie war es, als sei das Band der festen Gewohnheiten, das zwischen ihnen bestand, eingerissen und etwas anderes, noch Unbestimmtes wäre an seine Stelle getreten.

      Da er aufgefordert war, sogleich vorzusprechen, blieb keine Zeit, sich auf die angekündigte Befragung vorzubereiten, aber was er zum Tode von Brempts niedergeschrieben hatte, war fest in seinem Kopf verankert, dazu manches mehr, das ihn die Untersuchung gelehrt hatte.

      Draußen hatte es inzwischen zu schneien begonnen, aber die Flocken fielen nicht sonderlich dicht und der bitterkalte Wind der vergangenen Tage war eingeschlafen. Bald stiefelte er vorbei am Dom, dessen Inneres in der alten Zeit vor der Reformation, wie man sich erzählte, so prachtvoll geschmückt war wie kein zweites Gotteshaus im Norden. Aber das lag weit zurück und bedeutete längst nichts mehr. Eine Kirche ohne Gemeindevolk hatte etwas Bedrückendes, wie Ulrich fand. Kleine Behausungen rankten am Kirchenschiff empor. Sie füllten allmählich jede Nische zwischen den Mauervorsprüngen, hässliche Anbauten, die wucherten wie schorfiger Pilz an der Rinde eines alten, kranken Baumes. Der Turm wenigstens erhob sich unverändert, hoch und trutzig ragte er auf wie ein steinerner Zwilling, den man St. Petri mit seiner spitzen Haube zur Seite gestellt hatte.

      Am Ende des langen Straßenzugs, auf dem er unterwegs war, wurde er unerwartet aufgehalten. In einer aufgeregten Menschenmenge standen die Leute dicht an dicht und versperrten ihm den Weg. Inmitten des Rings, in dem Männer, Frauen und Kinder alles umstanden, sah man zwei Wagengespanne, die hoffnungslos ineinander verkeilt waren, wobei sich eines von beiden widernatürlich weit zur Seite neigte, als sei die Zeit für das Gefährt angehalten und kurz vor jenem Moment, da es zu Boden krachen müsse, alle Bewegung eingefroren. Der schlimme Unfall konnte nur einige Minuten zurück liegen.