Das kalte Licht. Ludger Bollen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludger Bollen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783863935436
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in einer der dunklen Ecken der Kammer. Doktor Winckel, der am Vormittag die erste Untersuchung durchgeführt hatte, oder jemand anderes, musste sie dort abgelegt haben. Daneben lehnte eine einfache Tragbahre an der Wand, vermutlich jene, auf der man von Brempt in der vergangenen Nacht hierher gebracht hatte.

      Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Betrachtungen. Einer der beiden Soldaten reichte ihm eine zur Hälfte mit Wasser gefüllte Schüssel. Der zweite hatte nur eine unhandliche Laterne auftreiben können, aber Ulrich nahm sie ergeben und bedankte sich. Er hätte hier unten den hellen Lichtkegel einer Schusterkugel gebrauchen können, aber es galt mit dem vorliebzunehmen, was die Männer herbeischaffen konnten.

      Ulrich schloss die Tür, nahm das Tuch vom Leichnam und ließ das Bild des toten Heinrich von Brempt auf sich wirken. Er hatte viele unbekleidete Leichen gesehen, doch war er diesmal allein auf sich gestellt, auf eine Weise, die er zuvor noch nicht erfahren hatte. Beinahe fehlte ihm der eigentümliche, schwer zu beschreibende Leichengeruch, der während der Anatomiestunden im großen Schautheater der Universität hing. Er schrieb es der besonderen Kühle in den Kellergewölben zu, dass der Tote in dieser Hinsicht unscheinbar blieb. Die Stille des Augenblicks rief weitere Erinnerungen in ihm wach: an die allerersten Stunden, in denen er sich eigenhändig in der Sezierkunst üben durfte, und an den leichten Schauder, den er verspürt hatte.

      In den Übungsstunden waren sie wenigstens zu zweit gewesen. Hier gab es keinen Mitstudenten, der sich der Aufgabe unterzog, seine laut gesprochenen Beobachtungen niederzuschreiben, aber er hatte Notizbuch und Griffel bereitgelegt und würde einfach abwechselnd den Leichnam untersuchen und die Resultate niederschreiben.

      Er hatte nicht nach von Brempts Alter gefragt, aber der vor ihm ausgebreitete Körper konnte nicht älter als Mitte dreißig sein. Annähernd sechs Fuß groß, hatte die vormals zweifellos schlanke und athletische Gestalt an Fülle zugelegt, jedoch nicht im Übermaß. Wäre er von Brempt vor der Unglücksnacht begegnet, so dachte Ulrich, er hätte den Kaufmann zweifellos als eindrucksvolle Erscheinung wahrgenommen.

      Die Augen des Toten waren friedlich geschlossen. Vorsichtig bewegte er ein Lid soweit, dass er einen Blick auf Iris und Augapfel werfen konnte. Anschließend vermochte er mit einiger Mühe Zunge und Mundhöhle einzusehen. Er fand keine Verfärbungen oder Schwellungen, wie sie von mancherlei Giften hervorgerufen werden, noch bemerkte er andere Eigentümlichkeiten.

      Die Haut hatte im Ganzen jene unnatürlich helle, fast weiße Färbung angenommen, die sich üblicherweise mit dem Ableben einstellte und erst viele Stunden später, wenn die Totenstarre wieder ganz gewichen war, von einem wachsweichen fahlen Gelbton abgelöst wurde.

      Jedoch herrschte dieser helle Hautton nicht überall vor. Nachdem das Herz zu schlagen aufgehört hatte, bildeten sich durch das Absinken des Blutes am Leichnam Totenflecke aus. Statt der üblichen blauvioletten Verfärbung erschien die Haut hier an den betroffenen Stellen in einem stumpfen Rotton, aber Ulrich glaubte sich zu erinnern, dass eine kalte Umgebung diese Änderung bewirken konnte.

      So war es nicht die Farbe, wohl aber die Art, wie die Flecke am Körper verteilt waren, die ihm ganz und gar ungewöhnlich dünkte. Während der Rumpf im Ganzen fast fleckenlos weiß erschien, waren Arme und Beine übermäßig betroffen, wobei er fast keinen Unterschied zwischen Vorder-und Rückseite feststellen konnte. Am Kopf waren vor allem Nase, Stirn, die Augenhöhlen und, so weit unter dem Haaransatz erkennbar, die obere Kopfhaut verfärbt.

      Am dunkelsten aber erschienen Hände und Füße, und er notierte in lateinischen Stichworten, dass die Livores mortis sich distal häuften.

      Nachdem er den Leichnam mit einiger Mühe auf die Seite gewälzt hatte, vermochte er einen Blick auf dessen Unterseite zu werfen: Auch an Schulter und Gesäß erschien die Haut fleckenlos weiß.

      Daraus ließ sich schließen, dass von Brempt vermutlich auf dem Rücken liegend gestorben war oder wenigstens, dass er nach dem Tod längere Zeit in solcher Haltung dagelegen hatte, denn wo der Leichnam mit vollem Gewicht auf dem Untergrund ruhte, wurden alle Körpersäfte weggedrückt, und entsprechend konnte auch das Blut dort nicht mehr in die Haut austreten.

      Etwas an dieser glatten weißen Haut dünkte ihn jedoch eigenartig, ohne dass er sogleich benennen konnte, was seinen Argwohn geweckt hätte. Er grübelte eine Zeit lang, ohne recht zu einem Ergebnis zu kommen und gestand sich endlich ein, alles sei normal. Doch kaum dass er dies in Gedanken ausgesprochen hatte, wurde es ihm bewusst, dass eben hierin das Eigentümliche lag.

      Von Brempt sollte die Fleetbrücke hinab auf das Eis gestürzt sein, doch wo waren die Hinterlassenschaften eines solchen Sturzes? Ob an Becken, Schultern, Arm oder Bein: Nirgendwo schien die Haut abgeschürft oder geschwollen und verfärbt, wie es doch beinahe unvermeidlich geschah, wenn jemand einen schweren Sturz erlitten hatte. Streckte ein im Fall befindlicher Mensch nicht unwillkürlich die Arme aus, in dem Bemühen sich irgendwie abzufangen? Und doch bemerkte er weder Spuren einer Verstauchung noch gar Anzeichen dafür, dass Glieder gebrochen waren.

      Wenn er die üblichen Veränderungen, denen jeder Leichnam unterworfen war, außer Acht ließ, so wirkte der ganze Körper nahezu unversehrt. Ulrich notierte nur drei kleine, eng begrenzte Blutmale unter der Haut des linken Handgelenks, deren Ursache er sich nicht recht erklären konnte, die andererseits aber auch nicht von der Gewalt eines Sturzes zeugten. Auch Hals und Nacken zeigten keine blutunterlaufenen Schwellungen, das Genick konnte keinesfalls gebrochen sein.

      Allein am Hinterhaupt, etwa zwischen der Schädelmitte und dem rechten Ohr, klaffte jene Verwundung, die den Tod herbeigeführt haben musste. Er rückte beide Kerzenleuchter und seine Handlaterne so weit an des Kaufmanns Kopf heran, wie es möglich war, ohne dass er selbst geblendet wurde. Ausgetretenes Blut war in das dichte Haupthaar gesickert und hatte die Strähnen stellenweise zu schwärzlichen Klumpen verklebt, so dass ihm der Blick auf die darunter liegende Kopfhaut verwehrt wurde. Er tränkte ein Tuch mit Wasser aus der Schüssel, beträufelte die Klumpen wieder und wieder, um das Haar anschließend mit Hilfe einer kleinen Bürste, die er seinem Ranzen entnommen hatte, soweit zu lösen, dass er es auseinander streichen konnte. Schließlich glaubte er, Ausdehnung und Art der Kopfwunde erfassen zu können, und notierte mit rascher Hand die vor seinem Auge sichtbaren Einzelheiten.

      Der Schädelknochen war auf gut zwei Zoll Länge und etwa in gleicher Breite zertrümmert und eingedrückt, jedoch war kein tiefes Loch entstanden, wie es etwa nach einem mit spitzer Waffe geführten Hieb der Fall gewesen wäre. Mit einer Pinzette ertastete er größere und kleinere Knochensplitter, die in der Wunde obenauf verblieben waren. Es war offensichtlich, dass der Kopf einen ganz und gar stumpfen, jedoch mit tödlicher Wucht auftreffenden Schlag erlitten hatte.

      Die Wunde selbst sprach nicht gegen einen Sturz, doch fand er ihre Lage am Schädel eigenartig. Er versuchte sich verschiedene Arten vorzustellen, von einer Fleetbrücke zu stürzen, aber es gelang ihm nicht gut, und in den Bildern, die er heraufbeschwor, ruderte der Fallende stets verzweifelt mit den Armen und Beinen.

      Aufflackerndes Licht riss ihn aus seinen Überlegungen. Wie um das Ende der Untersuchung anzumahnen, erlosch gleich darauf eine der bereits tief herabgebrannten Kerzen im Raum. Es war Zeit, die Beschau zu beenden. Den Körper wieder auf den Rücken zu wälzen, erwies sich als einfach. Er begann gerade seine Utensilien einzusammeln, als ihm einfiel, es könne vielleicht hilfreich sein, auch das in der Ecke abgelegte Kleiderbündel in Augenschein zu nehmen.

      Doktor Winckel oder seine Helfer musste es Mühe bereitet haben, den Körper inmitten der Totenstarre zu entkleiden, wie er einer völlig zerrissenen Ärmelnaht am Gehrock entnehmen konnte. Beinkleid und Mantel des Toten waren feucht und klamm und überaus schmutzig. Breite, schwarze Schlieren zeichneten sich an Wollstoff und Leinen ab, und Ulrich fragte sich, warum die Soldaten den Leichnam achtlos durch allerlei Unrat geschleift hatten, ehe sie ihn auf ihre Bahre luden. Am Mantel waren selbst die Haare des gewiss kostbaren Pelzkragens schlammgetränkt und dadurch büschelweise verklebt.

      Als er die umgeschlagene Innenseite des Kragens betastete, erfasste seine Hand modrige, dunkle Erdklumpen, vermischt mit kleinen Stein-chen, Blättern und Gras. Er wollte die Hand gerade wieder säubern, als ihm der Gedanke kam, wie doch selbst dieser Unrat von den Kleidern des Toten auf seine