»Na, weil …« Ich schnaubte. »Das ist echt bescheuert! Könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Ich weiß nicht, können wir das? Was meinst du, Damian?«
»Na ja, sie hat uns zwar geholfen, aber sie hat mich heute Morgen auch angelogen«, erklärte Damian in meinem Nacken. »Das war schon irgendwie komisch und … äußerst verdächtig.«
»Höchst verdächtig«, pflichtete Aaron ihm bei.
Ich seufzte und schwieg einen Moment lang. Doch Damian hielt mich noch immer in eisernem Griff gefangen und auch Aaron machte keinerlei Anstalten, mich laufen zu lassen. Mit verschränkten Armen starrte er mich an. Ohne eine Erklärung kam ich hier nicht weg, so viel stand fest.
»Ich habe Angst«, flüsterte ich schließlich ehrlich. »Ich … kann keine Hexe mehr sein, okay?«
Aaron betrachtete mich weiterhin mit dieser undurchdringlichen Miene. Glaubte er mir? »Nehmen wir an, du sagst die Wahrheit und du bist nicht diejenige, die diese Bestien auf die Stadt losgelassen hat«, begann er nach einer Weile. »Es ist nämlich so, hier an der Oberfläche gibt es nicht mehr viele Hexen. Die meisten von ihnen sind uralt und verlassen den Leuchtturm so gut wie gar nicht mehr. Du weißt schon, weil die Meeresspiegel steigen und die Wetter …« Er atmete aus. »Die Alten können kaum noch die normalen Zauber ausführen. Diese Drachenplage wird also wohl oder übel an Damian und mir hängen bleiben und … wir könnten dabei durchaus ein wenig Hilfe gebrauchen.«
»Verstehe«, sagte ich und Aaron nickte.
»Dann bist du dabei? Um die Menschen zu retten, bei denen du lebst?«
Ich presste die Zähne aufeinander und dachte an meine Schule. Wie viele Tote hätte es wohl gegeben, wenn die Donnerdrachen tagsüber anstatt mitten in der Nacht über sie hergefallen wären? Trotzdem … Ich versuchte, Aarons Blick auszuweichen. Das konnte ich einfach nicht tun.
»Du willst also ernsthaft tatenlos dabei zusehen, wie dieser Ort mitsamt all seinen Bewohnern Stück für Stück dem Erdboden gleichgemacht wird?«
Inzwischen biss ich mir so fest auf die Unterlippe, dass ich Blut schmeckte. Als ich blinzelte, verfing sich plötzlich eine Träne in meinen Wimpern. Natürlich konnte ich nicht zulassen, dass Andere diese Stadt zerstörten und Menschen verletzten, aber … Scheiße!
Scheiße, Scheiße, Oberscheiße!
Aaron legte den Kopf schief und während er mich weiterhin unverwandt ansah, stahl sich ganz langsam das Lächeln zurück auf seine Lippen. Es huschte bis zu seinen Augen hinauf und verwandelte sich allmählich zu einem breiten Grinsen, das seine Züge aus dem Gleichgewicht brachte und dieses niedliche Grübchen erscheinen ließ. »Wusste ich’s doch! Schön, dass wir das klären konnten, findest du nicht?«
Ich funkelte ihn an, bis er Damian einen Wink gab und dieser mich endlich losließ.
»Willkommen im Team, Robin aus dem Ostmeer«, sagte Aaron schließlich feierlich und schüttelte meine nun wieder freie Hand. »Dann zeigen wir den Biestern mal, was die Hexenwelt von ihnen hält!« Er wandte sich dem Köder im Schlick zu. »Und als Erstes schicken wir dieses Mistding auf den Grund des Marianengrabens, ha!« Er beugte sich über das Gebilde aus Tang und Knochen.
Ich schluckte und rieb mir die schmerzenden Handgelenke, wo Damian mich gepackt hatte. Derweil rief Aaron bereits nach dem Südwind und ich wusste noch immer beim besten Willen nicht, was ich von alldem halten sollte.
2. Strophe
Wettervorhersage
Ein waghalsiges Unterfangen geht in eine sternenklare Nacht über.
Tagsüber bedeckt, bei Temperaturen von vier bis acht Grad.
Genervte Winde.
Örtliche Gewitter.
Und Blitze – Blitze in Robins Händen.
6
Karottenkaffee
Die Luft war erfüllt von einer Mischung aus Gischt und aufgewirbeltem Sand. Und von Aarons samtiger Stimme natürlich. Er sang mit dem Südwind ein kompliziertes Lied, ließ ihn über den Strand peitschen und lenkte ihn schließlich zu dem Drachenköder im Schlick.
Sofort begann das Ding, sich zu wehren. Es zischte und zuckte, als wäre es lebendig. Als wollte es nach der Bö schnappen, die es nun in die Höhe hob, um es auf die See hinauszutragen. Weit fort von hier. Fort von den Menschen und allem, dem die Drachen nicht zu nahe kommen sollten.
Aarons Ruf war stark und der Südwind gehorchte ihm aufs Wort. Dennoch gelang es dem Köder, sich loszuwinden. Schon sank er wieder in Richtung Boden. Die Knochensplitter glühten dunkel, während schwarzes Blut aus den sieben mal sieben Knoten quoll und in die Wellen tropfte, um auszuschwärmen und –
»Ach du Kacke, der macht noch jeden Drachen im Umkreis auf uns aufmerksam!«, schrie Damian gegen das Heulen des Windes an.
»Ich weiß.« Aaron stemmte die Füße in den Sand und wiederholte seinen Ruf, diese Tonfolge, die weniger eine Melodie als vielmehr eine Kampfansage war. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Hände zu Fäusten geballt. Der Klang seiner Stimme verband sich mit dem Rauschen der See. Eine Gänsehaut kroch über meinen Nacken. Windlieder waren pure Magie.
Erneut riss es den Köder in die Luft. Und erneut versuchte das Biest, sich zu entziehen. Weitere Blutstropfen besprenkelten die Wasseroberfläche. Es musste eine mächtige Hexe gewesen sein, die diesen Zauber gewirkt hatte. Oder zumindest eine, die nicht vor Blutopfern zurückschreckte.
Ich hielt den Atem an, während der Köder weiter gegen den Südwind ankämpfte, sich fauchend auf Aaron stürzte und ihm ins Gesicht klatschte.
»Jetzt wäre ein guter Moment für ein wenig Unterstützung«, nuschelte dieser nun zwischen Algen und Knochen hindurch. Schwarzes Blut rann ihm über die Wangen wie Tränen. Mit beiden Händen packte er den Köder und zerrte daran.
Mein Blick wanderte zu Damian, doch der rührte sich nicht. »Mich hat er nicht gemeint!«, rief er. »Ich wurde ohne Kräfte geboren.«
»Du wurdest was?«, fragte ich verwirrt. Als Kind hatte ich natürlich Geschichten davon gehört, Geschichten von Hexen, denen die Wetter einfach nicht gehorchen wollten, aber ich hatte sie immer für Märchen gehalten. »Deshalb hast du heute früh nicht den Wind herbeigerufen, um diesen Betonbrocken –«
»Hm…hm…hmpf!«, unterbrach mich Aaron, dessen Gesicht sich noch immer in den Fängen des Köders befand.
Er deutete auf den Horizont, an dem sich bereits Gewitterwolken zusammenballten, die zu einem Sturm der anderen Art zu gehören schienen. Die Drachen hatten unsere Fährte aufgenommen.
Ich schluckte und schloss für einen Moment die Augen.
Dann lächelte ich plötzlich und überraschte mich selbst damit, wie ich zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden nach dem Ostwind rief.
Bei Neptuns Bart, was war nur los mit mir? Ich verhielt mich so unvernünftig. Und war trotzdem so … erleichtert. Auch der Ostwind schien sich zu freuen. Genau wie gestern umtoste er mich stürmisch,