Und wahrlich: sie hören, durch die Entfernung zur Feinheit gemildert, über die Klostermauern den gläubigen Sang ungebrochener Stimmen hereindringen. Erst ganz leise, wie unwahrscheinliche Engelslieder; dann anschwellend wie das Jubilieren von Lerchen, die das Glück der Erde dankbar dem Himmel entgegentragen. Und dazwischen einzelne Laute von einer schreienden Inbrunst.
Sie lauschen.
Ein Frühling lebt in diesen Tönen, den ihnen kein Frühling wiederbringt. Dort draußen klingt der Strom jungen Lebens vorbei; und sie staunen und starren hier wie nebenausgeschwemmte Schiffbrüchige, die auf ihrer Sandbank festsitzen. Wallfahrten diese Kinder wirklich nach Jerusalem? Sie suchen das heilige Land unberührter Gefühle, das sie, ohne es zu wissen, in sich selber tragen.
Sie lauschen.
Der eine stützt den Ellenbogen auf den Tisch und schmiegt nachdenklich die Wange in die Hand. Ein anderer beugt sich über seine Knie und preßt die knochigen Finger vor das zerfurchte Gesicht, so daß ihm die ergrauten Haarsträhne über die Gelenke fallen. Ein dritter umgreift sich mit beiden gespreizten Händen das kahlweiße Schädelrund, als fragte er sich: »Ist es möglich?« Ja, sie alle beten, fasten, kasteien sich; aber sie haben kein himmlisches Jerusalem mehr in ihren Seelen, wie es mit goldenen Zinnen aus diesen Tönen glänzt! Und nun wissen sie es plötzlich; und sie erschauern in Verzweiflung vor dem kargen Gewinn ihres Lebens, das ihnen wie ein Traum vorübergeflogen ist. Nur einige wenige von ihnen lassen, in Ergebung begreifend, die ineinandergelegten Hände in ihrem Schoße ruhen und schauen mit leicht seitwärts geneigtem Haupte, das erst teilweise angegraut oder gelichtet ist, auf die noch nicht allzuferne Jugend zurück. Einer aber hat den Kopf völlig auf die Knie fallen lassen, wie erdrückt von dem Schicksal, dem er doch weiterhin geduldig den Nacken als Amboß scheint darbieten zu wollen.
Sie lauschen.
Irgendwo im All schweben sie mit ihrem Leid, das größer ist als sie und sie zu zersprengen droht. Wie eine weißblühende Wolke auf der blauen Himmelsau zieht der silberne Gesang an ihnen vorbei: sie möchten ihn halten, ihm nacheilen; aber er entschwindet ihnen und läßt sie in der dumpfen, dunklen Stille ihres Schmerzes zurück, aus welcher allmählich ein heimliches Schluchzen aufsprießt und ihnen in dem Maße bewußt wird, als die singenden Kinderstimmen draußen vor der Mauer sich entfernen. Die Hingabe an ihre Schwermut lockt sie, die hoffnungslos Nachblickenden, wie eine letzte Süßigkeit des Lebens; aber einer nach dem andern erfährt an sich die Bitternis einer verhärteten Seele, die nicht nur das Lachen, sondern auch das Weinen verlernt hat, und schämt sich vor sich und den Brüdern des dürren Sturmes, von dem er widerstandslos geschüttelt wird . . .
Der Pförtner sieht und hört von der Türschwelle aus, wo er immer noch wie gebannt steht, erschrocken die göttliche Heimsuchung, welche auf die Brüderschaft herabgesunken ist und sichtbar in ihren Köpfen, Armen, Händen und unsichtbar in ihren Herzen als in einem zur Unfruchtbarkeit verdammten Acker wühlt. Selbst der Abt blickte eine Zeitlang wie entrückt in die Höhe: in einer Mädchenstimme, die hell und rein aus dem Chor hervor tönte, hat ihm etwas von einem Leben entgegengeglänzt, das einmal auch sein Leben war. Er zuerst aber von allen faßt sich, winkt dem Pförtner, daß er sich entferne, und beginnt seine gewohnte Ansprache.
Auch von den Mönchen kommt einer nach dem andern wieder zur Besinnung; und auf einmal sitzen alle in einer großen Stille da, in welcher zu ihnen nur noch die Stimme ihres Oberhauptes spricht. » . . . Nun aber frage ich euch, meine Brüder: ist das ein Werk Gottes oder des Teufels? Kann diese verblendete Jugend etwas anderes tun, als in ihr Verderben rennen?« Und der Abt preist die Würde des Klosterlebens mit seiner gesicherten Hingabe des Geistes an das Göttliche; und die Mönche wagen wieder, ihre Blicke aufzuheben. Und am Bilde des Gekreuzigten bleiben sie hangen.
Einzig Bruder Augustin hat die selig leuchtenden Augen, mit denen er dem Gesang der Kinder lauschte, auch jetzt noch behalten. Er begibt sich nach der Mahlzeit in seine Zelle, kramt aus einer alten Truhe einen mit kleinen Muschelschalen besetzten Hut hervor und verbirgt ihn unter seiner Kutte. Ein grau verstaubtes Palmenblatt zerbröckelt ihm, wie er es zur Hand nimmt, wie Asche zwischen den Fingern. Eine rötliche Riesenmuschel aber packt er sorgsam in seinen Sack; und dann noch etwas seltsam Klingelndes. Auch er ist einmal im heiligen Lande gewesen; auch er kämpfte einst gegen die Heiden, bis ein feindlicher Speer ihm derb den Schädel streifte und ihn aus einem wilden Haudegen zum ewig lächelnden Jüngling machte.
Er will den jungen Kreuzfahrern den Weg weisen! Er wandert zur Klosterpforte hinaus, als ob er seinen gewohnten Gang anträte, um die Gaben Mildtätiger einzusammeln. Er bricht sich im Walde einen Wanderstab, setzt den Muschelhut auf und schreitet mit seinen siebzig Jahren fürbas wie ein Junger, in Sehnsucht und Hoffnung.
21. Gerold als Kreuzritter
Er reitet und reitet und reitet.
Schon sind es über acht Tage her; und es läßt ihn immer noch nicht los. Warum, wenn er doch nur jene eine Nacht für sie sorgen wollte, denkt er mit jedem neuen Tag aufs neue an sie? Aber sie ist ihm ohne Dank und Gruß heimlich vor Sonnenaufgang entflohen; und eben darum eilt er ihr nach und möchte ihrer wieder habhaft werden.
Seltsam! Um ihren Dank in Worten entgegenzunehmen, nachdem ihm während des Rittes so lange der süße Druck ihres Leibes gedankt hatte?– Nein: Nur damit etwas zwischen ihnen zum Austrag gebracht würde, das – er fühlt es – wie ein Schicksal über ihnen steht. Sie haben sich noch etwas zu sagen, sich etwas anzutun – ein Liebes oder ein Leides!
Wenn sie freilich, in der Voraussicht seiner Verfolgung, den einen oder andern der Höhenzüge überstieg, so folgt er vergebens dem von ihnen eingefaßten Talgrund. Vergebens mustert er noch immer jedes Kindertrüppchen, das er einholt, nach dem roten Haarschopf und fragt die des Weges Kommenden über eine junge Kreuzfahrerin aus, deren Haupt wie eine Krone glänze, deren Haut heller als Elfenbein leuchte. Man lacht über ihn und läßt ihn auf seinem Roß als einen angehenden Halbnarren des Frauendienstes weitertraben.
Ritter pflegen den überwundenen Gegner ihrer Dame zu schicken . . . Will er die Magd etwa der geliebten Frau senden, damit sie ihr für den gewährten ritterlichen Schutz danke, weil nur die fortglühende Liebe zu seiner Herrin ihn so selbstlos machte, daß er sich einer Verirrten brüderlich annahm? Oder will er doch wenigstens, daß sie um den Grund seiner Selbstbeherrschung weiß und seine zurückgelassene Geliebte um ihn, den so adelig Liebenden, beneidet?
Er ist sich nicht klar, was er will; nur soviel ist ihm klar, daß in ihm selber etwas unklar ist. Und das beginnt zuweilen in ihm wie eine Gärung, zwingt ihn, sein Pferd immer mehr anzuspornen und einen immer schärferen Trab zu reiten. Und dann mischt sich ihm in den Verdruß, daß er die Gesuchte doch nicht mehr finden wird, die schmerzliche Gewißheit, sich von der Geliebten, die sich ihm so hold erwies, immer weiter zu entfernen. Und zuletzt sprengt er in einem tollen Galopp davon.
Aber darf er sich von solchen Gefühlen beherrschen lassen? Trägt er nicht das Kreuzeszeichen auf der Brust; und hat er sich nicht vorgenommen, nach dem Grabe des Erlösers zu wallfahrten? Was geht ihn die Frauenliebe vor und hinter ihm noch länger an, wo er ein Streiter für den Glauben sein möchte? Floh er in der Burg die Gefahr des Entdecktwerdens nur deshalb, um nun in der Welt den Gefahren der Lächerlichkeit zu verfallen?
Er kürzt die Zügel und zwingt sein Pferd und seine Gedanken in gemessenen