Der Kinderkreuzzug. Konrad Falke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Konrad Falke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783849628666
Скачать книгу
beiden breiten Ochsenstirnen. »Heil, König Stephan! Heil!« rufen die Kinder dem einsam in seinem Schaffell auf dem Wagen sitzenden Jüngling zu. Und ein Knabe kommt, den nackten Arm steil erhebend, wie ein Herold durch die hohle Gasse der Staunenden dahergeeilt und kann nicht sprechen vor Bewegung; und zwei andere zerren einen alten Kaufmann, dessen Beine nicht mehr so flink sind, hinter ihm nach, bis sie alle miteinander vor Stephan stehen.

      »Sag ihm's selber!« drängen die Knaben und Mädchen den atemlosen Graukopf. »Sag ihm's selber, damit er's um so eher glaubt! – Sie kommen von Flandern und berichten –«

      »Nun ja,« beginnt der Kaufmann, indem er ehrerbietig die Mütze abnimmt und unter ihr einen gelichteten Schädel sehen läßt; »am Rhein, erzählen sie bei uns, sollen auch Hunderte, Tausende von Kindern aufgebrochen sein nach dem heiligen Land! Ein lahmer Knabe, namens Nikolaus, führt sie, kaum zehn Jahre alt; und überallher strömt ihm die Jugend zu und nimmt das Kreuz. Sie sind ein Heer wie ihr!«

      Stephan lauscht, steht auf und hebt Blicke und Arme gen Himmel. Und es ist, als ob mit ihnen die Bäume des Waldes ihre Zweige und die Blumen der Wiesen ihre Kelche gläubig in sein lichtes Blau emporstreckten, aus welchem wie eine ewige Verheißung Sonne, Sonne auf sie niederfließt. Sind sie nicht alle miteinander Kinder der Erde, vom Schöpfer in die Seligkeit dieses Daseins gerufen? Nur daß sie mit einer unsterblichen Seele begabt wurden, um sich nach ihrer himmlischen Heimat zurückzusehnen?

       »Großer Gott über den Sternen,« jubelt Stephan, »ich danke dir! Wir sind nicht mehr allein; du hast sie wie uns erweckt zu einer Tat, wie noch nie eine Tat geschehen ist. Der ewige Menschenfrühling ist da; das Reich des Friedens wird Wirklichkeit werden in der Welt . . . Viele Wege gibt es auf Erden; aber ein und dasselbe Ziel ist es, zu dem sie die Gläubigen führen. Wir gehen voran, vielleicht ein Opfer; doch hinter uns wird die ganze Christenheit nachfolgen und die Früchte unserer Saat pflücken . . . Laßt uns beten für unsere unbekannten Brüder und Schwestern, daß wir ihnen Mut spenden, so wie sie uns Stärkung bedeuten!«

      Und er kniet auf seinem Wagen nieder, legt die gefalteten Hände auf die Brüstung und seine Stirn auf die Hände. Und wie ein Geisteshauch weht sein Wille zur Demut nach vorwärts wie nach rückwärts über sein Heer hin und zwingt die Knaben und Mädchen in den Staub der Straße, in das Rasengrün des Wegbordes hinein zu stummer Andacht. Nur der Kaufmann steht noch aufrecht, bis auch er die steifen Beine beugt, sich über sein Bäuchlein neigt und unter dem Lederwams mit seinem Herzen Zwiesprache hält.

      »Lieber Gott« – betet er in sich hinein, während er die Sonne heiß auf seinem Kahlkopf spürt – »laß mich mit meiner reichen Fracht wohlbehalten bis ans Meer gelangen! Gewiß schickst du mir diese heiligen Kinder, damit ich mit den Wagen hinter ihnen herziehe, gesichert auf diese Weise nicht nur durch meine Waffenknechte, sondern auch durch den Abglanz ihrer Frömmigkeit. Ich will nicht versäumen, ihnen, wenn sie vorbeigehen, etwas von unserer Atzung abzugeben, damit sie weniger Hunger leiden müssen . . .«

      »Auf, nach Jerusalem!« ruft da Stephan vom Wagen herab, wo er sich erhoben hat und wieder auf seinen Platz setzt. Die Ochsen ziehen an; die Knaben und Mädchen springen auf, wunderbar neugestärkt in ihrem Glauben: Räder rollen, Schenkel schreiten. Es ist immer wieder dasselbe: ein neuer Schritt nach dem fernen Ziel. Der Kaufmann aber ruft einige von ihnen freundlich zu seinem Wagen, damit sie ihm bei der Verteilung der Liebesgaben behilflich seien.

      Wahrlich, greift Gott nicht schon wieder sichtbar in ihr Schicksal ein? Da hat er sie mit diesen braven Leuten zusammengeführt, welche jetzt mit entblößten Häuptern drüben auf der Straße stehen und sie vorausziehen lassen; und immer, wenn einer ihrer Wagen an der Spitze des Kaufmannszuges vorbeifährt, wird ihm rasch ein Sack oder eine Kiste aufgeladen. Alle meinen es so gut mit ihnen . . .

      Und wie sie jetzt wieder als geordnetes Heer durch das grünende, blühende Land weiterwandern, da schwillt ihnen die Brust; und ihr Mund fließt über von Gesang. Wer hat das Lied erdacht? Niemand weiß es. Ein Ankömmling sang's; und die andern sangen es nach. Auch diesmal stimmen die Vordersten es an und fallen die Nachfolgenden hintereinander ein, bis an das Ende des Zuges.

      Es umjauchzt Stephan auf seinem Wagen und steigt in den blauen Himmel empor, welcher sich auch über den Brüdern und Schwestern im fernen Deutschland wölbt, zu denen sie es, eine klingende Brücke, hinüberschwingen möchten –

      »Nun laßt uns fromm in Scharen

       So Berg als Tal durchfahren,

       Bis wir das Land gewahren,

       Das uns der Glaube weist.

      Was Schwert und Speer nicht taten,

       Als sie der Stadt sich nahten,

       Das muß dem Wort geraten,

       Das dich, Herr Jesus, preist.

      Vorm Meer soll uns nicht bangen,

       Zum Grab wir hingelangen,

       Dort wird uns Gott empfangen:

       Uns schirmt der heilige Geist!«

      18. Eustachius und Alix

      Alix steht in der Fensternische ihres Turmzimmers. Sie trägt das schlichte braune Gürtelgewand mit dem runden Halsausschnitt, das ihr noch die Mutter mit Goldfäden bestickte. Sie hat niemals ein von fremder Hand gefertigtes Trauerkleid angezogen.

      Die tiefgelegenen Buchenwälder strecken tausend zerbrechlich-zarte, eben frisch begrünte Ästchen in den goldenen Abendhimmel empor. Über dem gebirgigen Horizont sinkt die Maiensonne, von der die Mauern zum erstenmal wieder warm geworden sind; und um die Firsten, die mit ihren Dächern die abgrundgleich eingesenkte Fläche des Burghofes umrahmen, schießen Schwalben hin und wieder. Bald in weiter Ferne verschwindend, bald aus ihr wieder auftauchend, erscheinen sie wie Gedanken im Antlitz der Erde, die in die Zukunft schweifen und sie in die Gegenwart hereinziehen wollen.

      Der Hof in seiner Tiefe liegt gleich einem Brunnenschacht da, leer und grau; einzig der Widerschein des nachleuchtenden Himmels erhellt ihn. Nichts mehr ist zu sehen von dem schwarzen Roß, den herbeieilenden Knechten, der stolzen Frau, die der Vater selber in den Saal hinausbegleitete. Nur aus den drei Fenstern in halber Höhe dringt seit einiger Zeit das klirrende Geräusch aufgetragener Schüsseln und Bestecke, miteinander anstoßender Becher und hin- und hergeschobener Kannen, untermischt von weinfroher Rede und Gegenrede; und jetzt schlägt der rötliche Schein aufgesteckter Fackeln aus ihnen hervor.

      Alix senkt ihr Mädchenhaupt tiefer, so daß ihr zwei Locken in die Stirn fallen. Sie hört alles; und ihre Blicke schweifen zu den farbigen Glasscheiben der schmal und hoch in einen Hofwinkel eingebauten Schloßkapelle, wo unter der schweren Steinplatte ihre Mutter liegt. Und jedesmal, wenn aus den erhellten Fenstern im Wohnhaus Gelächter und Becherklang lauter durch den Hofraum herauftönen, hält sie in ihrer Seele mit letzten Kindeskräften den Schild der Liebe über eine wehrlose Tote, die ihr teuer ist; sie selber aber wird von einem feinen, scharfen Schmerz wie von einer glühenden Schnur umwunden und durch ihn vor einer unbegreiflichen Tatsache festgehalten, deren Geheimnis sie lösen muß. Warum fühlt sie, wenn die Gräfin über die Brücke einreitet, die Nähe einer Feindin und zieht sich in den Turm hinaus zurück, um sie, weil sie sie nicht bekämpfen kann, wenigstens zu belauschen und zu ergründen?

      Seit die Mutter gestorben ist, steht so vieles, das sie vorher nicht einmal ahnte, wie eine häßliche Kröte vor ihrem Blicke. Ein unsichtbarer Schutz und Schirm, der alles Dunkle von ihr fernhielt, ist auf einmal wirkungslos geworden; die Welt schaut sie immer aufs neue mit drohenden Rätselaugen an, die sich ihr in die Seele bohren und auf deren heimliche Forderungen auch sie eines Tages – sie fühlt es – wird Antwort geben müssen. Alles Unbegreifliche aber verdichtet sich ihrem siebzehnjährigen Erstaunen zu der Frage: Was besteht zwischen dem Vater und der fremden Frau?