»Kinder, wohl war ich im heiligen Lande; und nicht viel älter war ich damals, als ihr jetzt es seid! Aber bis nach Jerusalem kam ich nicht. Und doch weiß ich, der Glaube hat recht: denn von Silber und Gold erstrahlen unserer Hoffnung Mauern und Zinnen; und wie Edelsteine funkeln ihre Kirchtürme. Gebe Gott, daß wir alle miteinander uns daran sattsehen dürfen! Auch ich will mit euch ziehen: zum zweitenmal ein Pilger nach dem Grabe unseres Erlösers . . .«
Sie lauschen und sinnen nach und betrachten ihn auf einmal als ihren Führer. »Ach, wenn wir nur erst am Meere wären!« seufzt die blonde Cäcilie, die ihre Sandalen ausgezogen hat und die Füße im spärlichen Grase zu kühlen versucht; und ihre Reisekameradin Antonie, eine dunkelgelockte Neugier mit rotschwellenden Lippen und schwarzen, glänzenden Augen, ruft laut und herausfordernd: »Frommer Bruder, sag uns, was ist das Meer?« – »Das Meer ist,« versetzt Augustin, »wo es soviel Wasser hat wie hier Land!« Und er schwingt die Arme mit einer großen Bewegung nach beiden Horizonten aus; und die Kinder folgen ihm nach vorwärts und rückwärts mit den Blicken in dunstige Fernen hinein, wo die Hügelwogen der Erde hier herandrängen, dort davonrollen.
»Aber wie ist es, frommer Bruder? Ein Apfel ist auch noch etwas anderes als nur rund und rot; er ist süß oder sauer und hat diesen oder jenen Geruch . . .« So fragt die schwarze Antonie wieder. Und daß sie sich zur Sprecherin der ganzen Schar gemacht hat, beweist die lautlose Spannung, mit welcher jetzt alle auf den alten Pilgrim schauen. Ja, was für ein wunderbares Ding ist das – »das Meer«?
Die Stille des Himmels wird eins mit der Stille über diesen hingelagerten Kindern, welche in Bruder Augustin auf einmal einen Menschen sehen, der um die Lösung manches bangen Rätsels weiß. Offenen Auges vor sich hinstarrend, schmecken und schnuppern die Mädchen mit all ihren jungen Sinnen in sich hinein, als könnten sie das Wesen des ungeheuren Weltmeeres in sich selber erahnen; die Knaben aber lassen ihre Blicke in das blaue, nur von wenigen Wolken durchschwommene All emporschweifen und suchen sich in der Vorstellung zu üben, daß seine Halle sich allenthalben auf eine ebenfalls blaue Wasserfläche herabwölbt. Wenn sie nur schon dort wären und dieses Unfaßliche als Wirklichkeit erlebten!
Da hat Bruder Augustin den Reisesack zur Hand genommen und aus seinen Falten die mächtige, mit gelblichen Hörnern und Stacheln bewehrte Muschel hervorgeholt, deren dunkelroter Mund wie mit eingezogener Unterlippe klaffend offensteht. »Da drin hört ihr das Meer!« bedeutet er ihnen mit leiser Stimme. »Das hat auf seinem Grunde gelegen und seinen Klang in sich bewahrt!« Und er hält die Muschel zuerst sich selber ans Ohr, um das rauschende Hallen wieder zu vernehmen, in welchem für ihn nicht nur das ferne Meer, sondern auch die entschwundene Jugend tost. Dann reicht er sie der jungen Fragerin dar – und während Antonie fast furchtsam sich das fremde Stachelgehäuse ans Ohr hebt, rutschen die andern Kinder auf den Knien zu ihr heran und wenden kein Auge von ihr ab, als könnten sie schon aus dem Ausdruck ihres Gesichtes einen Vorgeschmack des noch nie erlebten Wunders erhaschen.
Wie kühl sich die Muschel an die heiße Schläfe legt! Und wie ist ihre von tausend Wellen geschliffene Rosenlippe selber wellenglatt! Aber wie hallt erst, nachdem der anfängliche Schreck über die liebkosend-erquickende Berührung vorüber ist, das ewige Brausen des Meeres aus diesem sonderbaren Gebilde in die junge Mädchenseele! Ist es das Blut der Welt, das darinnen tost und klingt und aus dem früher oder später alle Dinge geschaffen wurden? Oder ist es das eigene Blut, das sich im Widerhall vernimmt und sich unter Schauern bewußt wird, in was für unendlichen, alle Gedanken übersteigenden Zusammenhängen es aufglüht und auslöscht?
Die Muschel wandert von Hand zu Hand, von Ohr zu Ohr. Oft wollen zwei, drei Kinder auf einmal daran horchen; glühende Wangen streifen einander und jungfräulich zarte oder knabenhaft scheue Arme legen sich um Hals und Schultern. Und nach und nach schauen und fühlen sich alle die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem in die unendliche Ferne und Tiefe hinein, welche in dem hallenden Tosen wohnt und, wundersam herannahend und auftauchend, dunkle Ungeheuer und lichte Seligkeiten in sich zu bergen scheint.
Vergessen ist die schwüle Hitze des Nachmittags. Etwas Lösendes, Ausweitendes weht auf einmal den Knaben und Mädchen in die Seele: eines nach dem andern sinken sie in den Schatten zurück und spüren, während die Blicke des unsteten Umherirrens müde werden, wie die matt ausgestreckten Glieder von einer fremden Sehnsucht anschwellen. Ihnen allen ist die Begrenztheit und Einsamkeit ihres Wesens durch diesen allmächtigen Liebesgesang des Meeres dunkel zum Bewußtsein gebracht worden: sie sehnen sich nach dem großen Erlebnis, in welchem die Schranken zwischen Mensch und Mensch durchbrochen werden und alle Geschöpfe teilhaben an der glühenden Kraft der Welt. Nicht mehr das Meer: das Blut gärt jetzt in ihnen, den im Halbschlummer Liegenden, und durchwuchert mit seinen roten Blüten ihre sehnsüchtigen Pilgerträume . . .
Da schreit plötzlich ein kleines, bleiches Mädchen, welches als letztes die Muschel ans Ohr gesetzt hat, so laut und durchdringend auf, als sei ihm von ihr etwas Furchtbares zugeraunt worden. Und bevor die andern sehen können, wie es das unheimliche Meeresungetüm fortschleudert und, mit beiden Händen sich die Ohren zuhaltend, in schluchzendem Entsetzen sich auf den Boden wirft, hat auch schon der wie in höchster Not kreischende Ton die unerwartete innere Schau ihrem eigenen Gefühl vermittelt und in ihnen dieselbe Wirkung ausgelöst. Es dünkt sie einen Augenblick, als wanke der Boden unter ihren Füßen, während sich der Himmel über ihnen verfinstert, und als wandelten sich die Erdhügel rings um sie herum zu einem Wellengetobe, in welchem sie rettungslos untergehen.
Nachdem sie sich von dem Schrecken erholt und aufs neue das Bild der staubtrockenen Frühlingslandschaft, in welcher nur vereinzelte Bäume blühen, in sich aufgenommen haben, versammeln sich alle um Bruder Augustin, der mit vieler Mühe das verzweifelte Mädchen getröstet hat und jetzt die junge Schar zum Weitermarsch antreibt. Die kleine Seherin aber, die sich von dem guten Bruder an der Hand führen läßt, wirft zuerst scheue, stumm fragende Blicke von einem zum andern, während ihr immer wieder eine Träne über das blasse Gesichtchen kugelt; dann weiß sie sich allmählich von der Hand des Mönches loszumachen und, je mehr der Tag in sein eigenes Sonnengold hineinsinkt und auch dieses an die nachrückende Dämmerung verliert, um so mehr sich in die hintern Gruppen wegzustehlen. Und wie sie jetzt eine Bäuerin überholen, welche müde von schwerer Ackerarbeit heimkehrt und die müßiggängerische Jugend mit wenig freundlichen Blicken mustert, bleibt das nachdenkliche Kind, das sich von den übrigen beharrlich gemieden sieht, noch weiter zurück, hält sich heimlich und still an ihrem Rocke fest und wird von ihr erst an der Haustüre bemerkt, wo es ihr, vor Hunger und Angst halb ohnmächtig, wie ein armes Mäuslein vor die Füße taumelt . . .
25. Die fünf Freundinnen
Die fünf Freundinnen schreiten hintereinander den tauigen Wiesenpfad hinab. Jede rafft mit der Linken das Gewand und hält in der Rechten die Reitgerte: halb sind sie auf der Flucht vor etwas, das ihre hochgezogenen Schultern hinter sich lassen; halb folgen sie mit glänzenden Augen und begierig geöffneten Lippen den Lockungen der Frühlingspracht, welche ihnen mit sinnbetörendem Duft und Zauber entgegenleuchtet. In dem weichen, saftiggrünen Teppich des bunt durchblümten Grases stehen die Birnbäume wie schwül und lautlos brennende Kerzen des Lebens unter einem Himmel grauer, weichwolkig geballter Morgennebel; und zwischen ihren dunklen Stämmen wird das mattsilbrige Wasserband des unermüdlich fließenden Stromes sichtbar, das schweigend demselben Sonnenstrahl entgegenträumt, den das verhaltene, schüchtern-gläubige Flöten der Amseln verkünden möchte.
Jetzt sind hinter ihnen die Zinnen der Burg im weißen Blütenschaum