Tausend Lenzwasser murmeln an den Waldhängen und in den Wiesengründen. Durch hundert Adern tost in den jungen Leibern das sonnentrunkene Blut unter dem schwanken Brückenbogen eines aus fiebrigen Gesichten ewig wechselnd gewobenen Traumes. Nebel steigen aus den feuchten, vollgesogenen Matten auf; Wunschbilder aus den Abgründen der Sinnlichkeit, wo die Säfte des Lebens kreisen.
Plötzlich ein Aufschrecken; ein verständnisloses Starren jäh geöffneter Augen, hinaus in den runden Ausschnitt des flimmernden Firmamentes . . . Einmal wird dieses Herz nicht mehr schlagen! Einmal werde ich nicht mehr in dieser Welt sein! Wo weilen, die einst vor mir über die Erde zogen? Wo warten ihres Daseinstages, die dereinst erschüttert, wie ich jetzt, nach mir verschollenem Wesen ihre Gedanken aussenden werden? . . . Und über die tiefen Atemzüge der andern hinweg zittert das leise, bittere Schluchzen der Verlassenheit, des Verlorenseins.
Da erkennt Alix, deren Auge das dämmerige Dunkel durchdringt, das Antlitz Stephans. Er schläft tief und fest, mit fast schmerzlich angespannten Zügen dem verborgenen Lebensquell lauschend, wo das Schicksal sitzt und mit dem Schöpfer Zwiesprache hält. Wie sternenweit ist er ihr jetzt entrückt, wo er schon am Tage für ihr Lächeln kein Gegenlächeln mehr hat! Wohl lud er sie freundlich auf seinen Wagen ein, als sie sich dem Zuge nahten; aber nicht, wie sie glaubte, weil auch er sich ihr im Herzen verwandt fühlte. Und wie dürfte er sein Herz ihr schenken, wo es allen gläubigen Kindern gehört?
»O, wie ist die Heimat so fern! Wie ist das heilige Land so fern . . . Wir werden die Heimat nicht mehr sehen. Und wir werden auch das heilige Land nicht schauen.«
Sie hat die Worte leise hervorgestoßen und lauscht wieder, mit stockendem Atem. Draußen flackert der Föhn: fingert um das Wagendach; flüstert in den jungbegrünten Bäumen. Und irgendwo schreit ein Nachtvogel! Auch er ein verlorenes Wesen; auch seine Seele ein Tropfen im Strome des Werdens, das rastlos durch die Zeiten rauscht.
Da richtet sich langsam eine Gestalt neben ihr auf.
»Alix . . . Schwester . . . Warum liegst du mir nicht mehr im Arm? Warum staunst du hinaus in die Nacht? – Schlaf wieder ein . . . Komm, schlaf!«
Ja, warum verschmäht sie das teuerste Geschenk des Schlummers: Vergessen? Warum will sie in ihm nicht das künftige Entrücktsein aus dieser Welt vorkosten? Weil sie Stephan liebt? Wer ist Stephan? . . . Und er träumt vor sich hin, ergeben in alles, was kommen mag, während seine Blicke ihre Schattengestalt vor dem Sternenhimmel umfangen.
»Eustachius, mein Bruder . . . Mir frißt die Angst am Herzen . . . Ich habe keine Heimat mehr! – Wir haben beide auf Erden keine Heimat mehr . . .«
Eustachius sieht nicht, er hört nur, daß sie weint. Er tastet nach der Hand ihres aufgestützten Armes, wie um sie zurückzuholen von ihrer heimlichen Ausschau in die Trostlosigkeit. Er möchte ihr ein liebes Wort sagen; ihr mit seinem Schlafe den verlorenen ihrigen wiedergeben.
»Wo ist die Heimat? In der Weite? – Die Heimat ist in der Tiefe: in deiner Seele. In der Höhe: bei Gott! . . . Sieh, wie ruhig unser König daliegt! – Komm, schlaf auch du! – Vergiß!«
Ihn selber überwältigt aufs neue der Schlummer, der wie eine innere Nacht das zurückgekehrte Licht der Erinnerung auslöscht. Kaum wird er sich bewußt, daß Alix an seine Brust, in seine Arme zurücksinkt. Und netzen ihm nicht ihre Zähren die Wangen? – Schlafen!
Noch ein Knistern im Stroh; dann ein hilflos wimmerndes Seufzen. Ihre Locken schmiegen sich weich an seinen Hals; ihre Hände legen sich kindlich um seinen Nacken. Und ihre Seelen schweben wieder im All: ahnen hellsichtig künftige Schrecken; schlafen und sind doch wach; stürzen – und raffen sich vor der letzten Tiefe noch auf.
Furchtbare Unendlichkeit der Welt, die aus finstern Abgründen nach ihnen greifen will! – Erlösend? Beseligend? – Auflösend! Tötend! – Hinweg, du dunkle Vernichtung, von diesem Eiland des Traumes . . .
Zwei Herzen schlagen gehetzt aneinander. Vier Arme umfangen die zitternde Liebe. Will sie nicht fliehen, bevor sie nur da war? Sie wissen es nicht. Sie leiden ihr Schicksal, das keinen Stillstand kennt . . .
Und draußen, hoch über der Erde, flimmern lautlos die Sterne! Wie sie es immer taten. Wie sie es immer tun werden.
Die kalten; die feindseligen . . .
In rauschender Nacht.
24. Bruder Augustin mit der Muschel
Bruder Augustin, wo läuft dein Weg?
Schon den dritten Tag bist du auf der Fahrt, um der unerfahrenen Jugend Führer zu sein; und immer noch hast du deine Schützlinge nicht gefunden. Gutmütige Bauern lassen dich im Heuschober schlafen, speisen und tränken dich und geben dir Wegzehrung mit; aber überall heißt es: Die Kinder sind schon vorbeigezogen! oder: Die Kinder sind noch nicht gekommen! Doch dein Glaube und die Heiterkeit deines Gemütes fallen nicht von dir ab: selbst jetzt nicht, wo du während der Mittagsglut eines schwülen Maitages vor einem schattigen Busch sitzest, allein auf dem breiten Hügelrücken, welchen der Weg von weither nach weithin überquert und von wo der Blick auf beiden Seiten fern hintereinandergeschichtete Hügelwellen auffaßt und die Erde wie in einer endlosen, durch geheimnisvollen Zauber festgehaltenen Fortbewegung erkennt.
Auch siebzigjähriges Blut kann im Fieber wallen, wenn im Herzen die Wanderlust nicht erstorben ist. Während den guten Bruder noch die Füße schmerzen vom harten Boden, sind ihm schon die Augenlider voll schweren Schlummers herabgesunken und wird ihm in der innern Welt der Wunsch zur vorausgeahnten Wirklichkeit: das Ohr hört, das Auge sieht eine Schar junger Kreuzfahrer nahen, bestaubt, verschmachtet, im Kampfe ihrer Sehnsucht mit der Qual der Wanderschaft, gierig nach einem Plätzchen Schatten! Unter ihnen hat es gar manchen jungen Augustin, dessen Seele über alle Leiden hinweg das heilige Land fest im Auge behält – Woge auf Woge kommt das Gleiche wieder, rauscht heran aus der Zukunft und verebbt in die Vergangenheit hinein . . .
Bruder Augustin ist nicht erstaunt, wie er, von lechzenden Stimmen aufgeweckt, marschmüde Knaben und Mädchen um sich erblickt, die sich zu ihm in den Schatten werfen. Sie müssen eben erst angekommen sein: ihre Gesichter sind gerötet und schweißbeperlt; die Augen blicken trübe, die Lippen kleben vertrocknet aneinander; die Halsadern fliegen. »Lieber Bruder, hast du uns nichts zu trinken?« fragt ein brauner Knabe, der im Grase liegend sich ihm zuwälzt; und ein blondes Mädchen, die Hände ums angezogene Knie schlingend, redet seufzend vor sich hin: »Weiter, als wir dachten, ist die Reise nach Jerusalem!«
Bruder Augustin langt seine noch fast volle Kürbisflasche hervor, die er des Morgens mit frischem Quellwasser füllte, und reicht sie den Dürstenden dar. Und siehe! ein jedes von ihnen trinkt nur wenig, um den andern auch noch etwas zu lassen; und immer erbittet das nächste zuerst mit einem Blick seine Erlaubnis. Selbst diese Kinder aus dem Volk, die sonst gern nur an den eigenen Vorteil denken, schließt die Neuheit des Erlebnisses zu ungeahnter Brüderlichkeit zusammen; und darum liegt auf der Kürbisflasche ein solcher Segen, daß sie sie alle – und es sind wohl an die zwei Dutzend Knaben und Mädchen – zu tränken vermag.
Der alte Mönch beschaut sich, während die Flasche kreist, jedes einzelne Gesicht. Er liest aus ihm, ob jetzt auch der Durst des Leibes es durchglüht, die tiefe Sehnsucht der Seele ab; und er denkt zurück an den waffenstarrenden Zug, in welchem er einst unter zwei Königen einherritt, und stellt neben ihn staunend diese zarte Jugend, die mit bloßen Händen das heilige Land zu erobern auszieht. Aber wenn der Herr das größere Wunder tat, die Gemüter der Unmündigen zu einer Tat zu entflammen, die Kaisern und Königen nicht gelang, vermag er da nicht auch, der Kraft des Glaubens einen Sieg ohne Waffengewalt zu schenken?