Fehlalarm!. Leopold Stummer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Stummer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783904123433
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Spekulationen werden zu gesicherten Fakten – schließlich will man die Leser/Seher möglichst nicht durch selbständiges Denken überfordern. Außerdem ist Platz kostbar – die Werbung muss schließlich auch noch reinpassen.

      Beim nächsten Interviewtermin wird dann der nächstpassende öffentliche Mandatsträger ganz sicher gefragt, was er denn von der aktuellen Bedrohungslage halte und welche Maßnahmen er denn … Ebenso sicher wird dieser Mandatar dann irgendeinen Aktionsplan ankündigen, denn zuzugeben, er wäre uninformiert oder ein Scheinproblemchen hysterischer Spinner wäre ihm egal, käme politischem Suizid gleich.

      … Und schon ist ein neuer Wolf auf die bebende Bevölkerung losgelassen!

      4

      Historische Entwicklung und ­Definition der Bedrohungsbilder ­sowie salvatorische Generalklausel

      Manche historische Ängste sind nicht mehr aktuell (z. B.: Fernreisen, Hexerei, Seeungeheuer, …), andere aber noch durchaus präsent (Fremde, Weltuntergang, Dunkelheit, …) oder sogar berechtigt (Armut, Krankheit, Steuererhöhung, …). Den sehr lesenswerten historischen Untersuchungen [9–12] soll hier aber keine weitere hinzugefügt werden.

      Als Zeithorizont der Wolfsplage konnte bisher eine ungenau definierte Zone, irgendwann in den 60er oder Anfang der 70er des 20. Jahrhunderts festgelegt werden. Der Grund ist, dass Massenpanik vorher scheinbar seltener war, jedenfalls aber in wesentlich geringer Vielfalt aufgetreten ist. Die von verschiedenen Autoren (z. B. [12]) geäußerte Theorie, dass der Fall der Berliner Mauer1 und die kurz darauf folgende Auflösung der Sowjetunion im Westen ein Angstvakuum schuf, das durch »Alarmismus« gefüllt werden musste, kann nicht eindeutig bestätigt werden – obwohl sich Wortspiele zum »horror vacui« aufdrängen würden.

      Im historischen Verlauf wurden die Nazis als Feindbild überraschend schnell durch Kommunisten abgelöst, die bekanntlich überall zu finden waren und absolut alles unterwandert hatten (die sogenannte 5. Kolonne). Ihre finsteren Pläne, schlichtweg »das Gute« zu zerstören, konnten eigentlich nur durch die penible Säuberung2 Hollywoods von angeblichen Sympathisanten im allerletzten Augenblick durchkreuzt werden.

      Trotz der »roten Gefahr« war das allgemeine Lebensgefühl damals nicht so übel. Breiter gesellschaftlicher Konsens war: Mit einigen Anstrengungen, besseren Bomben und strammer Disziplin wird’s schon werden. Technischer Fortschritt war eine Verheißung und kein Schreckgespenst. Die Autos waren riesig,3 relativ selten und zeigten deutlich, dass sich die Funktion dem Design unterzuordnen hatte. Flugzeuge hießen »Super-Constellation« und nicht »Airbus«. Der Traum von schneller und bequemer Überwindung langer Strecken wurde – ohne kleinliche ökonomische und ökologische Vorbehalte – geträumt, geplant und schließlich als Concorde bzw. Tupolew Tu-144 auch verwirklicht. Über den Atlantik – luxuriös und in nur wenigen Stunden –, eine Vorstellung, die in Zeiten, in denen man versucht, immer mehr Passagiervolumen pro Liter Kerosin auf noch kleinerem Raum noch billiger (aber doppelt so lange) zu transportieren, fast undenkbar scheint.

      Die geplanten (praktisch schon beinahe bezugsfertigen) Siedlungen auf dem Meeresgrund und/oder auf dem Mond würden (na ja, fast) jedem ein schönes Heim mit Kamin und großer Einbauküche ermöglichen. Alles modern, bequem und vor allem sicher. Die Arbeit würde von putzigen Robotern erledigt werden, die ihre nie versiegende Kraft aus der problemlosen Atomenergie4 schöpfen. Die Hoffnung, dass alle (na ja, fast) mühselige Tätigkeit bald »automatisch« getan werden würde, war durch Staubsauger, Waschmaschine, Fertiggerichte, etc. fast (na ja, fast) schon Realität geworden. Die allgemeine Stimmung war also nicht so schlecht. (Wir bleiben in unseren Ausführungen stets bei der Betrachtung der westlich-technisierten, kapitalistischen Geschmacksrichtung.)

      Diese Zeit soll hier jedoch keineswegs als vorbildlich oder auch nur gut dargestellt werden. Der Kalte Krieg konnte jeden Augenblick heiß werden, zivile Freiheiten waren praktisch unbekannt, Sex tabuisiert, Konformismus allgemein gefordert (dies allerdings auch später immer wieder). Nicht einmal Frauen, Farbige und Homosexuelle waren in gleichem Maße anerkannt wie heutzutage. Insgesamt war es eine miefige, kleinbürgerliche, autoritätshörige Epoche – aber die Ängste waren auf einige wenige Ziele fokussiert und sozusagen etabliertes Allgemeingut (wodurch die Möglichkeit bestand, sich als Kollektiv zu fühlen).

      Der Stimmungsumschwung kam schleichend, viele Fragen sind in diesem Zusammenhang noch unbeantwortet. War es die Ermordung J. F. Kennedys (und dessen Ersatz durch den absolut unglamourösen Lyndon B. Johnson)? War es die Erkenntnis, dass der Mond keineswegs Bungalow-Errichtungs-GesmbH Hoffnungsland ist, sondern eher sterbenslangweilig? Waren es (chronologisch) die Antibabypille, Contergan® (=Thalidomid), der »Stumme Frühling« [13], Miniröcke, Vietnamkrieg, Rockmusik, Berkeley, Watergate oder die erste Ölkrise?

      Wahrscheinlich ein wenig von allem, jedenfalls lagen plötzlich dunkle Schatten über der vorher so rosigen Zukunft. Der Glaube daran, »… die da oben hätten aus der Vergangenheit gelernt und wüssten schon, was sie tun …«, verschwand sogar bei vielen der nicht notorisch querulierenden Mitbürger. Die Studenten, Künstler und andere Intellektuelle konnte man sowieso vergessen, scheinbar hatten die Versprechungen künftiger Vorstadtbungalows, dicker Autos und öffentlichen Respekts auf diese Gruppe nicht recht glaubhaft gewirkt. Bald begannen die Menschen, anstatt bequeme Einwegprodukte zu konsumieren, jeden Mist zu sammeln, in der Hoffnung, irgendwie dann neuen Mist daraus herstellen zu können (Recycling). Ein Untergangsszenario folgte dem anderen, [14] »Prophets of Doom« wurden plötzlich ernst genommen. Millenniarismus bzw. Chiliasmus5 war angesagt, obwohl die Jahrtausendwende ja noch ein gutes Stück weit weg war. Vereinzelte Sektierergrüppchen waren zu politisch berücksichtigungswürdigen Wählerströmungen angewachsen. Ja, plötzlich waren sie überall – die Wölfe!

      Und sie vermehrten sich munter – Alarmismus bedeutet, dass irgendwas, irgendwie, irgendwo, irgendwann, irgendwem passieren könnte. Diese Ansicht ist als solche nicht widerlegbar. Gerne sieht der, der sie vertritt, sich als besorgter, verantwortungsvoller Mahner in einer Welt der Unvernunft und genießt die Beachtung und Bedeutung, die ihm seine warnenden Worte eintragen. Vermutlich sind die Wölfe eines der wenigen Phänomene des ausgehenden 20. Jahrhunderts, für das die »Grenzen des Wachstums« [14] nicht gelten.

      Weitgehend verzichten möchten wir hier auf die Untersuchung lokaler Probleme. Natürlich wird nicht jeder von allen Sorgen gleich stark geängstigt. Schwarzkopierte Musik und Videos mögen zum Beispiel dem einen oder anderen egal sein. Trotzdem kann jeder und jede6 mit dieser Problematik konfrontiert werden, beispielsweise durch enervierend-langweilige Vorspannsequenzen beim (teuer bezahlten) Konsum von Filmen – insgesamt also doch ein überregionales Problemchen, das jedem begegnen kann.

      Mit Lokalproblem sind explizit ortsbezogene Katastrophen gemeint, wie Autobahntrassen, Fabriksan- oder -absiedelungen, Großbauprojekte usw. Die Grenzen zwischen örtlichen und überregionalen Aufregern sind aber natürlich graduell (z. B. Tschernobyl).

      Allgemeine, diffus-chronische Stressfaktoren, wie z. B. »die Gesellschaft« oder »das Patriarchat« (alias Macho-Phallokraten-Aggressionsgesellschaft, etc.), werden ebenfalls nicht näher beachtet – dies wäre zu einfach und als Thematik wirklich zu »abgelutscht«. Außerdem werden aus Aktualitäts- und Pietätsgründen keine (na ja, fast) etablierten historischen Ängste wie Krieg, Armut, Krankheit usw. ­untersucht. Um Ehrenbeleidigungs-, Rufschädigungs- und sonstige Klagen zu vermeiden, kommen natürlich auch (fast) keine personalisierten Auslöser vor, egal ob lebend oder (besser) tot.

      Wie nun einem Wolf begegnen, wie mit ihm umgehen, ihn verscheuchen oder abwehren? Selbstverständlich ohne Angst! Es ist möglich (besonders für Politiker), den jeweiligen Wolf »auszusitzen« – die nächste Schlagzeile kommt mit Sicherheit. Inzwischen kann man sich mit »Sammeln verlässlicher Daten«, »Erwägen von Maßnahmen«, »Einholen von Expertenmeinungen«, »Bildung von Arbeitsgruppen« oder gar »Veranstalten eines Gipfeltreffens« beschäftigen. Der Kelch geht bestimmt bald vorüber.

      Der oft kurzfristige Wechsel der »Angstmode« kann aber sogar Nachteile bringen. Ich wurde einst selbst anlässlich einer Tagung