Fehlalarm!. Leopold Stummer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Stummer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783904123433
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machen sollte – jetzt, wo er doch endlich prominent war.

      Vor die mittlerweile auf der Agora versammelte große Menschenmenge traten nun auch gemessenen Schrittes die Experten – Leute also, die schon selbst einmal von einem Wolf gehört oder sich über einen solchen Gedanken gemacht hatten, oder aber solche, die zwar keine Ahnung hatten, was ein Wolf überhaupt ist, aber ein dringendes Bedürfnis fühlten, den zahlreich versammelten Leuten eine Rede zu halten und ihnen zu erklären, was denn das eigentliche Problem bei der Sache sei.

      Alle waren sehr zufrieden, dass ihr zuvor überaus langweiliges Leben im idyllischen griechischen Bergdorf um 600 v. Chr. plötzlich so interessant, ja geradezu aufregend geworden war. Einige regten sich auch wirklich sehr heftig auf, aber da erschien der Dorfrat und verkündete, zur Erleichterung (fast) aller, die soeben beschlossenen »Sofortmaßnahmen«:

      Die vier bereits vorhandenen Dorftrottel wurden unverzüglich zu Wolfssicherheitskräften ausgebildet, auf Gott Pan4 vereidigt und zu einer Anti-Wolf-Einsatztruppe zusammengestellt. Weitere Dorftrottel aus der Umgebung würden in Kürze zur Verstärkung angeworben werden. Der Zimmermann des Dorfes freute sich insgeheim sehr, denn das Angebot, das er selbst im Dorfrat gemacht hatte, nämlich hohe, mehrfache Zäune und Wachtürme rund um die Schafsweide zu errichten, war ohne das sonst ortsübliche Feilschen sofort angenommen worden. (Er war deshalb sogar bereit, über die seiner Tochter vom Dorfvorsteher in der vergangenen Nacht angetane Schmach zu schweigen.)

      Ein etwas sonderbarer Dorfbewohner, dessen sonstige Aktivitäten oft belächelt oder sogar offen verspottet worden waren, versprach unter großem Applaus der Anwesenden, sich unverzüglich an die Entwicklung eines neuartigen »Wolf-B-Gone®«-Sprays zu machen, der, sobald er einmal fertig wäre, wirklich alle (!) ihrer Probleme lösen würde.

      Natürlich wurden die angekündigten Sofortmaßnahmen auch unverzüglich umgesetzt. Die Schafe mussten sich jetzt, bevor sie die Weide betreten durften, genauestens von den »Sicherheitskräften« auf Wolfsspuren durchsuchen lassen. Besonders streng wurde darauf geachtet, dass keine »Wölfe im Schafspelz«5 durch die Kontrollen kommen konnten. (In Ermangelung von Röntgenanlagen wurden die Tiere von zwei Bewachern einfach gegen die Sonne gehalten). Alle Gegenstände, ganz besonders das störende Fell (unter dem ja ein Wolf hätte versteckt sein können), mussten sicherheitshalber von den Schafen abgelegt werden. Die Schafe mussten sich deshalb vor dem Betreten der Weide jedes Mal gemäß den geltenden Sicherheitsvorschriften frisch scheren lassen, eine Maßnahme, die von dem Pressesprecher des Dachverbandes der Schafscherer mit »endlich fällig« kommentiert wurde.

      Patrouillen und Beobachter auf den Wachtürmen bemerkten jede kleinste Unregelmäßigkeit in der Umgebung und verzeichneten diese sofort. (Da die ehemaligen Dorftrottel ja nicht besonders gut schreiben konnten, ritzten sie Zeichen in ihre hölzernen Sitzbänke – von da her stammt der Ausdruck »Datenbank«.)

      Missliebige Dorfbewohner, die aus anderen, weiter zurückliegenden Gründen schon hinreichend verdächtig waren, wurden häufig der Lykantophilie beschuldigt. Entsprechend motivierte anständige und einfache Leute, zusammen mit den inzwischen überaus zahlreichen Sicherheitskräften, besuchten gelegentlich solche Bewohner in ihren Hütten, wo sie die Möbel und das sonstige Inventar zerschlugen, um möglicher Kooperation oder auch nur Duldung von Wölfen in deren Behausungen entgegenzuwirken. Begründet wurde diese Maßnahme damit, dass den Wölfen jede Gelegenheit zum Verstecken genommen werden sollte und die potentiellen Lykantophilen somit vor sich selbst geschützt, überzeugt, befriedet und befreit werden würden.

      Bald musste jeder, der ein öffentliches Amt im Dorf innehaben wollte (und wer wollte das nicht, in wirtschaftlich schweren Zeiten?), einen Eid6 ablegen, dass er niemals, weder zu früherer Zeit noch hinkünftig, Sympathie, Duldung, Toleranz, Billigung o. Ä. gegenüber Wölfen und wolfsähnlichen Individuen oder Organisationen hatte oder haben würde. Besonders wichtig war das Ablegen dieses Eides für Schauspieler wegen deren Vorbildwirkung für die Dorfjugend. Sämtliche verfügbaren Epen und anderen Schriftwerke wurden auf vermeintlich wolfsfreundliche Passagen durchsucht und entsprechend korrigiert.7

      Es ergaben sich natürlich auch einige unbedeutende Anfangsschwierigkeiten. Der Schäferjunge war nach dem Abebben seiner Popularität entlassen worden, weil er nicht die für Sicherheitskräfte notwendige »innere Einstellung« nachweisen konnte. Die Rechnungen des Zimmermanns für Sicherheitsanlagen, der Unterhalt der vielen Wächter und besonders die mit den zahlreichen Koordinierungs- und Expertentreffen verbundenen Spesen führten dazu, dass die Schafherde nach und nach, ein Tier nach dem anderen, verkauft werden musste. Die danach eingetretene kurzfristige Finanzierungskrise wurde nach eingehender Beratung des Dorfrats durch eine Wein- & Olivensolidarabgabe gelöst. Schließlich war es ja auch gerechterweise nicht einzusehen, warum nur die (inzwischen Ex-)Schafzüchter Opfer für die Abwehr der grausamen Bedrohung zu bringen hätten.

      Einige dieser Ex-Schafzüchter – darunter besonders der Zimmermann – maulten, wozu die Sicherheitsmaßnahmen überhaupt noch gut seien, wo es doch gar keine Schafe mehr gäbe. Diesen unqualifizierten Kritikern wurde entgegengehalten, dass »der (allerdings nicht einzige) Preis der Freiheit ständige Wachsamkeit sei«, »man ja nie wissen« könne, und »außergewöhnliche Zeiten auch außergewöhnliche Maßnahmen erfordern« würden. Außerdem hatte der Zimmermann sich bekanntlich ohnedies schamlos an den überhöhten Preisen seiner Zäune und Wachtürme bereichert (und seine Tochter soll Gerüchten zufolge ein amoralisches Flittchen sein).

      Die auch schon früher eher seltenen Wölfe erwiesen sich übrigens als erstaunlich flexibel. Durch Krach und Hektik der örtlichen Sicherheitsmaßnahmen stark belästigt, verlegten sie ihr Aktionsgebiet und änderten ihr Beuteschema: Sie beschränkten hinfort ihre Diät auf kleine Schweinchen (3), Geißlein (7), Rotkäppchen & Großmutter (je 1), etc.8 Gelegentlich wirkten sie später auch in Filmen (Disney™, Warner™, …) und Gameshows mit (z. B.: Wolf, Ziege, Kohlkopf – und im Ruderboot nur Platz für zwei).

      Wenn diese Art des Nahrungserwerbs auch nicht immer erfolgreich war, so erfreuten sich die Wölfe doch eines gesicherten, stressfreien und weitestgehend unbehelligten Daseins. Die wenigen Reibereien mit Menschen verliefen zwar mitunter gewalttätig, waren dafür aber sehr selten (z. B. die fatale Begegnung mit dem Jäger nach dem Verzehr von Großmutter und Rotkäppchen).

      Die meisten Berichte über solche Begegnungen waren außerdem stark von den Humanmedien geprägt, und daher durch den Anti-Wolf-Aktivismus propagandistisch dahingehend beeinflusst, dass die Wölfe immer als Verlierer dargestellt wurden. Alles andere wäre Defätismus, Subversion oder schlichtweg Verrat gewesen.

      Als schließlich längere Zeit keine Wölfe mehr aufzutreiben waren und das Interesse und die Motivation der Bevölkerung schon wieder nachzulassen drohte,9 kam es zu einer erneuten Krise. Der Rat der Dorfwichtigen bemerkte an winzigen, beinahe ätherischen Anzeichen, dass die durch Wölfe verursachte zivile Ausnahmenotfallsituation kaum mehr jemanden interessierte. Kürzung der Spesen und Rücknahme der Abwehrmaßnahmen schwebten sozusagen fast greifbar über der Agora.

      Nach nächtelangen Beratungen gelangte der Dorfrat zu dem Schluss, dass wohl ein geändertes Bedrohungsszenario eingetreten sei. Die Experten wurden befragt, ob es nicht vorstellbar wäre, dass z. B. auch Bären Schafe fressen könnten. Die flexibleren der Experten riefen sofort: »Ja! Ja! Bär! Bär!« – Es müssten unverzüglich Maßnahmen gegen diese noch viel größere Gefahr getroffen werden. Die dämlicheren Experten bestanden darauf, zuerst einmal das Wolfsproblem grundsätzlich, endgültig und ein für alle Mal zu lösen. Natürlich gerade nach eben derjenigen Methode, deren Entwicklung sie demnächst, bei nur geringfügiger Erhöhung ihrer Mittel, vervollkommnen würden.

      Es kam alles, wie es kommen musste: Alte und neue Bärenexperten warnten eindringlich vor den lange verkannten Risiken durch die immanente Bärenplage (bzw. den lange unbekannten Risiken, hatte doch niemand in dieser Gegend jemals einen Bären gesehen!). Die Klatschweiber erzählten jedem immer wieder von den überaus schrecklichen Gefahren. Der Dorfrat dankte den Experten für die zum Glück noch rechtzeitig erfolgten Warnungen und versprach, unverzüglich Maßnahmen einzuleiten. Die Wolfssicherheitskräfte bildeten sofort eine »Sonderkommission Problembär«,