Fehlalarm!. Leopold Stummer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Stummer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783904123433
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steht man also als zahlender Kunde bzw. »Gast« mit seinen in 100-ml-Gebinde abgefüllten Flüssigkeiten, einzeln in transparente, verschließbare, genau 1l fassende Plastikbeutel verpackt, in einer sehr, sehr langen, sich kaum bewegenden Schlange.

      Es ist besser, in der langen Warteschlange (und beim Bezahlen des »Security«-Zuschlags) nicht daran zu denken (außerdem ist es zugegebenermaßen für die bei einem Anschlag persönlich Betroffenen unerheblich).

      A b e r:

       Die Gesamtzahl der Bombenanschläge9 im Zeitraum 1984–2004, immerhin also in 20 Jahren, beträgt 18. Bei zwölf dieser Anschläge wurden Menschen getötet. Die durchschnittliche Zahl der Bombenanschläge auf ein Flugzeug ist also weniger als einer pro Jahr (1994–2004 sind’s insgesamt fünf, die Tendenz ist also fallend), und das bei stark wachsender Anzahl10 von Flügen.

       Typische »Terroristen« waren nur für einen Teil dieser Anschläge verantwortlich, die überwiegende Zahl geht auf gewöhnliche Verrückte, kriminelle Racheakte und ähnliche Konflikte zurück.

       Durch Selbstmörder verursachte Flugzeugabstürze gab’s zehn. – Nein, nicht in zwanzig Jahren, sondern insgesamt seit Beginn der Aufzeichnungen (1955). Der Anschlag 9/11 (2001 auf das World Trade Center in New York) war natürlich in jeder Hinsicht besonders spektakulär, aber ein überaus seltenes Einzelereignis.

       Entsprechende Kontrollen zeigten, dass es nur wenige Probleme bereitet, »Gegenstände«, etwa auch durch Mitarbeiter des Flughafens, an Bord von Maschinen zu bringen bzw. bringen zu lassen. Jedes Sicherheitssystem hat unvermeidbarerweise Lücken.

       Überhaupt noch nie wurde bisher an Bord während des Fluges aus Flüssigkeiten Sprengstoff hergestellt und zur Explosion gebracht (aus Muttermilch schon gar nicht). Einige Experten bezeichnen ein derartiges Vorhaben auch als »sehr schwierig und wenig erfolgversprechend«.

       Jährlich sterben insgesamt mehr Menschen durch Eselstritte als durch Flugzeugabstürze jedweder Art und Ursache.

      Es wird also sehr viel unbequemer und teurer Aufwand wegen eines winzig kleinen Risikos getrieben. Die Problematik bei Flugreisen ist aber wahrscheinlich vielschichtiger. Das offensichtlich stark aufgebauschte Bedrohungsszenario ist geeignet, das in vieler Hinsicht lästige Bedürfnis der Menschen nach Nichteinmischung, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung11 usw. auf ein kontrollierbares Ausmaß einzuschränken.

      Natürlich war 9/11 für einen wesentlichen Anteil der potentiellen Flug-Kundschaft ein schwerer Schock, den die Berichterstattung in den Medien nicht eben gemildert hat. Wenn es allerdings um die Sicherheit vor (massiv übertriebenen) Gefahren geht, sind auch ansonsten sehr selbstbewusste Menschen überraschend leicht bereit, sich ins »Unvermeidliche« zu fügen.

      An diesem Spiel sind natürlich nicht nur Behörden beteiligt. Die Sicherheitsbranche mit allem notwendigen Personal, Detektoren, Röntgenapparaten usw. erzielt jedenfalls beträchtliche Umsätze (die letztlich irgendwo auf der Rechnung auftauchen).

      Vielleicht besteht aber auch ein aus tiefenpsychologischer Urangst resultierendes Schuldgefühl beim Fliegen. Die metaphorische »Angst vorm Fliegen« [6] lassen wir hier weg, sie spielt aber möglicherweise indirekt, im Sinne von »abheben«, »sich gehen lassen« bzw. »Kontrollverlust« eine Rolle. Ein Kontrollverlust, der durch äußerliche, fremde Kontrollen wieder ausgeglichen wird.

      Ein möglicher zusätzlicher Einfluss könnte auch vom vielfach geäußerten Unmut von EntscheidungsträgerInnen12 stammen, die das zunehmende Gedränge mit schwerbepackten Prolos auf dem Weg zwischen Executive Lounge und Gate unzumutbar finden. Ein bisschen mehr Flugangst könnte das Jet-Set-Territorium vielleicht endlich wieder ein wenig exklusiver werden lassen. Ohnehin geht man vielerorts den Weg, die billigen Chartervieh-Massentransporte so weit wie möglich von den Business-Executive-Platinum-Card-Holdern zu trennen, am besten gleich mit verschiedenen Flughäfen.

      Genug Tiefenpsychologie (fürs Erste)! Sowohl individuelle Ängste, die Probleme bestimmter Interessengruppen und schließlich auch noch globale Sorgen bedrücken uns. Die Furcht erschließt aber auch eine zuverlässige Einkommensquelle. Sogar relativ harmlose Produkte können mit diesem Argument besser verkauft werden. Oder fürchten gerade Sie etwa in diesem Augenblick nicht, dass Ihr Deo (oder Tampon) zum falschen Zeitpunkt versagt? Können Sie sicher sein, dass … (Auftritt eines beruhigend aussehenden, seriös gekleideten Schauspielers …) Ihre Bank-, Versicherungs- oder Gesundheitsleistungen auch »sicher« sind. Oder wollen Sie etwa, dass Ihre Familie in einem Auto zerschmettert wird, bei dem nicht sämtliche erdenklichen Warnlämpchen eingebaut wurden? Sorgen Sie sich nicht bei jeder Mahlzeit darum, ob sie auch wirklich das täglich notwendige Quantum an Spurenelementen aufgenommen haben? Und was ist mit den Kindern? All dies nicht zu bedenken, wäre wahrhaft leichtfertig (versichert der lächelnde Herr aus der Werbung).

      Cum hoc ergo propter hoc (lat.: zugleich, also deswegen) und post hoc ergo propter hoc (danach, also deswegen), sind beides altbekannte logische Fehler, »passieren« aber ständig, und zwar vermutlich nicht immer unbeabsichtigt. Ihre Auswirkungen bestimmen unser Handeln, oft bis hinein in den Alltag.

      Von Kosteneffizienz und Risiko-Nutzenanalyse kann bei hysterischen Reaktionen natürlich keine Rede sein. Der vermeintliche Schutz vor ernsten Gefahren entzieht sich, wie nichts sonst, der materiellen Logik.

      Ein Beispiel: 2001 – beinahe »cum hoc …« zu den Anschlägen auf das World Trade Center in New York – wurde (vermutlich) von einem frustrierten Mitarbeiter eines Biowaffenlabors13 »waffenfähiges« Anthrax (Ameritrax) an ein paar Leute verschickt (22 Infizierte, davon 5 Tote). In der Folge wurden nicht nur ca. 9 000 Verhöre durchgeführt, ohne den/die Täter finden bzw. verurteilen zu können, es war – unterstützt durch 9/11 – offensichtlich jede erdenkliche Maßnahme gerechtfertigt, ja sogar geboten. Briefen wurde allergrößtes Misstrauen entgegengebracht. Schon verschütteter Staubzucker oder Fußpuder konnte die sofortige Sperre eines Großflughafens auslösen. Pharmakonzerne und Schutzmaskenhersteller verbuchten Traumgewinne. Die Gefahren des Bioterrorismus wurden von hunderten »Experten« überwacht, die unverzüglich ans Licht der erregten Öffentlichkeit drängten und laufend Rettungsmaßnahmen vorschlugen. Der letztendlich Hauptverdächtige erlag (angeblich) mittlerweile einer Überdosis eines Grippemittels (Paracetamol).

      An diesem und dem vorigen Beispiel sehen wir – die panische Reaktion auf die Anthraxbriefe (so viele Opfer wie ein durchschnittlicher Busunfall) oder die hysterische Angst vor Flüssigsprengstoff in Flugzeugen (Vororte-Züge oder U-Bahnen sind offensichtlich stärker durch Bombenanschläge gefährdet) stehen in keinem Zusammenhang zur realen Gefahr.

      Wenn sehr viele engagierte, kluge Menschen mit fast unbeschränkten (und nicht nur finanziellen) Mitteln sehr viel Zeit der Lösung von Problemen widmen, sollte man vermuten, dass irgendwann einmal keine Probleme mehr da sind, weil inzwischen alle weitgehend befriedigend gelöst wurden. Sozusagen: Alle Wölfe sind ausgerottet – wir haben gesiegt! Dieser Fall darf, kann und wird niemals eintreten.14

      Konsequenterweise können wir die Ursache des Entstehens immer neuer Bedrohungen – nach der alten kriminalistischen Methode »cui bono/cui prodest« (lat.: gut für wen?/wem nützt’s) – beim Expertentum vermuten.

      Deren unerfüllte Begehrlichkeiten nach Ruhm und Reichtum in Verbindung mit Kreativität und »Insider­informationen« – es handelt sich in der Regel höchstens um Fanatiker, keineswegs um Idioten – bildet eine ständig sprudelnde Quelle neuer (potentieller) Gefahren. Wenn man sich schon nicht vor dem fürchtet, was tatsächlich beweisbar ist, so doch noch besser vor dem, was sein könnte [z. B. 8], bzw. nicht ausgeschlossen werden kann, worüber noch zu wenige Daten vorliegen, was möglicherweise eintreten wird, oder was ganz sicher in einer Zeit, die keiner der Anwesenden je erleben wird, passiert. [4] Solche Szenarien werden dann per Pressemitteilung an den Boulevard weitergegeben.

      Besonders diejenigen Journalisten, die die Pressekonferenz verpasst haben oder schlichtweg nicht verstehen konnten, worum es geht (häufig!), neigen dazu, dann noch eins draufzusetzen. Der isolierte, spinnende Außenseiter wird plötzlich zum »… führenden