Fehlalarm!. Leopold Stummer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Stummer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783904123433
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beliebt. Abgesehen von ihrer Verwendung zur Wiederherstellung nach Brustamputationen, wurden die Objekte auch häufig zur optischen Optimierung reiferer Damen verwendet. Natürlich bleiben alte Schreckschrauben auch mit aufgepumpter Oberweite im Kern solche – sie selbst sehen das aber oft anders (und ihre Chirurgen offiziell auch). Letztlich ist es aber dasselbe Problem wie das der Penislänge bei Männern.

      Persönliche Befindlichkeitsstörungen, wie sie bei älteren, sehr auf ihr Äußeres fixierten Damen nun einmal auftreten können, wurden in der Folge diesen Silikonpolstern zugeschrieben, da ja irgendetwas schuld sein muss und bloßes Alter als Erklärung nicht akzeptabel wäre. Tatsächlich war bei einigen Implantaten dieses Typs Silikon aus den Kissen in den Körper ausgetreten. Laut Klägerinnen bzw. deren Anwälte führte dies zu Brustkrebs. Nachdem diese Behauptung wissenschaftlich widerlegt wurde, sollten Autoimmunerkrankungen wie Rheuma und verschiedene neurologische Leiden durch die Implantate bedingt sein. Die Folge waren Schadenersatz- und Schmerzensgeldprozesse in Milliardenhöhe. Der betreffende Typ von Implantaten wurde 1992 verboten, und zwar trotz ausführlicher unabhängiger wissenschaftlicher Studien, die nachwiesen, dass die »erlittenen Schäden« sämtlich nicht existent oder nicht ursächlich auf die Implantate zurückzuführen waren. [4] Nichts konnte festgestellt werden, das nicht bei älteren Damen auf natürliche Weise ebenso zustande käme.

      Nach einigen Änderungen wurden die Implantate 2006 wieder zugelassen. Die wissenschaftliche Wahrheit hat allerdings, wie so oft, gegenüber dem »gesunden Volksempfinden« den Kürzeren gezogen – auch wenn Letzteres zunächst erst von Medien inszeniert werden musste. (Dem zugrundeliegenden Krankheitsbild der multiplen somatoformen Störung4 widmen wir uns ein wenig später.)

      Woher kommt aber das öffentliche Aufsehen bei einem so überaus persönlichen Detail wie Brustvergrößerung? Die psychologische Erklärung beruht auf der »availability heuristic«: Demnach wird eine Angelegenheit als umso wichtiger und dringender empfunden, je öfter sie einem bewusst (gemacht) wird. [4] Ein »Problem«, das oft genug von den Medien in die allgemeine Aufmerksamkeit gerückt wird, wird von der Mehrheit bald als »dringend« empfunden. Durch zeitnahe demoskopische Umfragen kann diese Tatsache natürlich »statistisch-wissenschaftlich« abgesichert und somit durch Rückkopplung verstärkt werden. Dies schafft wiederum unmittelbaren Handlungsbedarf für politische Vertreter, Talk-Show-Produzenten und »Experten«. Beachtenswert ist aber, dass die ursprüngliche Realität des »Problems« bei diesem Mechanismus kaum eine Rolle spielt.

      Zusätzlich zum bequemen Erklärungsmodell für individuelles Unbehagen bietet das Angst-Phänomen auch offenkundige Vorteile für soziale Gemeinschaften. Es kann zum Beispiel durch die überlaute Warnung vor einer in der Realität relativ geringfügigen Gefahr von schlimmen realen Fehlleistungen abgelenkt werden. Vielleicht dient es sogar als Bemäntelung für die leidige Tatsache, dass die wirklich großen Probleme gar keine einfachen Lösungen zulassen. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird jedenfalls elegant von komplexen, konkreten Schwierigkeiten auf bedeutungsarme Wehwehchen gelenkt, für die dann (besonders durch »interessierte Kreise«) einfache (monokausale) Lösungen ­versprochen werden. Ein willkürlich gewähltes Beispiel5 für einen solchen Prozess liefert die regelmäßig ausbrechende »Brutalisierungsdiskussion«:

      Von Zeit zu Zeit – eigentlich selten, wenn man das Ausmaß an Gewalt, Demütigung und Fremdbestimmung an diesen Anstalten bedenkt – dreht ein Schüler6 durch und massakriert Lehrer und/oder Schüler seiner Schule (wen wohl sonst?). Bei den folgenden Ermittlungen stellt sich dann unter anderem regelmäßig heraus, dass der Betreffende auf seinem Computer (oder irgendwo anders) gewalttätigen Einflüssen ausgesetzt war. (Die Computerspiele sind die zeitgemäße Version, historische Vorläufer sind Fernsehen, Film, Theater, Bücher und wahrscheinlich auch Klatschgeschichten, öffentliche Hinrichtungen, Gladiatorenspiele und altgriechische Tragödien.) Reaktiv wird dann sofort durch Medien und Politik (egal ob rechts oder unrechts) ein Verbot der entsprechenden »Unterhaltung« gefordert, mit der Begründung, der ansonsten naturgemäß friedfertig-reine Knabe sei erst durch das betreffende Medium sozusagen zwangsläufig zur blutdürstenden Bestie mutiert.

      Die Zweckdienlichkeit von computersimulierten Massakern als Trainingsmethode angehender Massenmörder ist aber insofern zu hinterfragen: Wenn ein zartes, jugendliches Gemüt durch Killerspiele zum Meister des Amoklaufes werden kann, wieso können dann z. B. virtuelle Golf-, Fußball- oder Tennisspiele niemanden für die (überaus lukrative) Profi-Liga qualifizieren oder wenigstens vor den Folgen von Bewegungsmangel und Überernährung bewahren?7

      Da praktisch alle Jugendlichen (männlich, weiß, Mittelschicht – wir erinnern uns) ähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind, wundert man sich, warum sich Lehrer überhaupt noch aus ihren Schützengräben und Bunkern wagen – die ­Verdun-Front 1916 müsste vergleichsweise ein Erholungspark gewesen sein. Die Vermutung, dass das Problem möglicherweise doch etwas weniger ubiquitär sein könnte, erweist sich bei näherer Betrachtung als zutreffend.

      Das Missverhältnis zwischen einem vollständigen Verbot des Mediums X oder Y und dem (trotz aller bereits früher ergriffenen Patentlösungen) alle paar Jahre stattfindenden Amoklauf eines zornigen Einzeltäters ist beträchtlich. Besonders eigenartig ist, dass echte Ursachenforschung meist unterbleibt bzw. durch eine »Patentlösung« geradezu verhindert wird. Der blutdürstige Video-Aficionado hat seine bedauernswerten Mitmenschen ja nicht mit virtuellen Waffen massakriert (z. B. einer Laser-Raketen-Zap-O-Matic8), sondern es werden bei solchen Dramen regelmäßig reale Waffen verwendet.

      Es kann zudem auch eine gewisse soziale Vorgeschichte vermutet werden. Hatte der bewusste Jugendliche außer Brutalo-Ballerspielen (bzw. -Videos, -Filmen, -Büchern, …) und dem offensichtlich frustrierenden Schulbesuch keinerlei Umweltkontakt? Wie also entwickelte sich denn der so augenfällig gewordene Aggressionsstau? Wer hat die »tickende Zeitbombe« ticken gehört oder nicht gehört oder nicht hören wollen?

      Einfache, monokausale »Erklärungen« zu postulieren ist wesentlich bequemer als die individuelle Aufarbeitung eines tragischen, aber immer singulären Ereignisses mit allen seinen Wechselbeziehungen. Noch schwieriger – wenn man das Geflecht an Ursachen und Wirkungen einmal tatsächlich untersucht hätte – wäre es dann, eine fundierte Schuldzuweisung zu treffen, und noch viel mühsamer ist es, danach wirklich zweckmäßige Maßnahmen durchzusetzen. Gerade schon irreal wäre der Gedanke, diese später auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu evaluieren, gegebenenfalls anzupassen oder zu entsorgen.

      Eine solche Vorgehensweise übersteigt bei weitem die Sendezeit oder den Seitenrahmen – und besonders Geduld, Interesse und Intelligenz des geneigten Publikums und seiner Vertreter. Es kann deshalb von der öffentlichen Wahrnehmung unbeachtet bleiben, dass (auch jugendliche) Amokläufer eine Vorgeschichte und ein Umfeld haben und meistens auch Gründe, warum sie ihr eigenes (und konsequenterweise auch fremdes) Leben als nicht erhaltenswert einschätzen.

      Dieser im öffentlichen Bewusstsein ablaufende Verdrängungsmechanismus – komplizierte, schwer lösbare Fragen gegen einfach zu bewältigende Detailprobleme auszutauschen – wird uns im Folgenden noch öfter begegnen.

      Die Grenzen zwischen den individuellen, gruppenfokussierten und allgemein gesellschaftspolitischen Ängsten sind natürlich fließend. Auch sind Letztere nicht so universell verbreitet, wie es zunächst erscheint. Vermutlich beschäftigt die Sorge um die Nahrungszufuhr des nächsten Tages insgesamt viel mehr Menschen als zum Beispiel die Angst vor Strahlungsenergie, die durch Elektrogeräte im Stand-by-Betrieb abgegeben wird (Elektrosmog).

      Bei manchen Ängsten gelingt es trotzdem, sie global zu verbreiten – ungeachtet der überaus geringen Chance eines beliebigen Erdenbürgers, jemals dem betreffenden Problem zu begegnen. Hier ein Beispiel für Besorgnis von globalem Ausmaß:

      Eingedenk der umfassenden Sicherheitsmaßnahmen, die dem geneigten Leser beim Besteigen eines Flugzeuges ganz bestimmt schon aufgefallen sind, hier eine Quizfrage: Wie viele Flugzeugabstürze hat es wohl gegeben, die durch einen Bombenanschlag verursacht worden sind? Zum Beispiel in dem Zeitraum von 1984–2004?

      Es müssen sehr viele gewesen sein, die Sicherheitsmaßnahmen sind ja auch extrem umständlich (Gepäcksidentifizierung und Einzelbefragung der Passagiere, biometrische Merkmale