Fehlalarm!. Leopold Stummer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leopold Stummer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783904123433
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Nachfolgeprodukt des (zwar bewährten, aber trotzdem wenig eleganten und inzwischen auch schon veralteten) »Wolf-B-Gone®«-Sprays – zum kommerziellen Flop zu werden. Der immer noch etwas sonderbare, aber inzwischen steinreich gewordene Dorfbewohner, dessen sonstige Aktivitäten inzwischen nicht mehr belächelt oder gar offen verspottet, sondern nach Möglichkeit imitiert wurden, konnte jedoch glücklicherweise durch ein sofort vermarktetes Upgrade sein Produkt zum »Bearliminator Extended 599®« und damit zum überhaupt-noch-nie-dagewesenen Kassenschlager verbessern.

      Die Dorfbewohner hätten nun zufrieden sein können, allerdings waren sie – ohne es selbst zu bemerken – in eine Art Spirale geraten. Na ja, einige merkten es natürlich schon, aber je nach charakterlicher Veranlagung nützten sie die Lage schamlos aus, um sich selbst zu bereichern, oder – naserümpfend – fühlten sich weitaus überlegen und bezahlten die immer häufiger werdenden Steuern, Abgaben, Gebühren … mit hochmütiger Verzweiflung.

      Den Bären folgten (unvollständige Aufzählung): Hyänen, Löwen, Greife (ursprünglich eigentlich Krähen, aber zum Glück hatte das niemand bemerkt), Kentauren, Zyklopen, Harpyien, Gorgonen, Sirenen sowie die Hydra, Sphinx und Chimäre (besonders Letztere galt als äußerst tückisch).

      Obwohl alle diese Gefahren gerade noch knapp von der verängstigten Bürgerschaft abgewendet werden konnten, war das Leben im Dorf doch nie mehr wie früher. Der mittlerweile selbst zum Greis gealterte Junge bereute bitterlich, dass er seinerzeit »Wolf! Wolf!« gerufen hatte. Niemand wollte seine alte Geschichte noch hören. Er wurde von der Dorfjugend (die sich inzwischen nicht einmal mehr von Zombie-Cerberussen ängstigen ließ) verlacht und »Wopa! Wopa!« gerufen. Immer öfter dachte der inzwischen schon selbst beinahe weise gewordene ehemalige Junghirte, er hätte damals einfach die Klappe halten sollen. Bei den (damals noch) zahlreichen Schafen in der Herde wäre es vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn eins fehlte – und er hätte sich im Lichte des inzwischen Vorgefallenen bestimmt sehr, sehr bemüht, dass nie wieder ein Wolf ein Schaf aus seiner Herde fräße, und selbst wenn, dann hätte er das Problem viel diskreter gehandhabt.

      Es gab allerdings auch wirklich schlimme Auswirkungen: Da ein sehr hoher Anteil der gemeinsamen Bemühungen des Dorfes für die Abwehr der immer gefährlicher werdenden Bedrohungen gebraucht wurde, begann es bald an anderen Dingen zu mangeln. Die Greise des Dorfes, die früher immer von irgendeiner freundlichen Dorfbewohnerin nebenbei mit Essen versorgt worden waren, mussten zunehmend selbst für ihre Ernährung sorgen. Die Kinder, die früher von einigen Dorfbewohnern beaufsichtigt wurden, blieben sich selbst überlassen, weil keiner mehr Zeit für sie hatte. Viele etwas größere Dorfjugendliche glaubten, keine andere Zukunftsaussicht zu haben, als später in die Dorfdeppenbranche einzusteigen. (Wir erinnern uns – dies war die Aufnahmevoraussetzung für die Sicherheitstruppen, und obwohl inzwischen viele Reformen stattgefunden hatten, um »die Effizienz zu steigern«, war dieses Kriterium immer unverändert geblieben.) Aus Verzweiflung über diese Berufsaussichten und viele andere – tatsächliche oder eingebildete – Fehler im System, tranken manche zu viel Wein, andre wurden gewalttätig, manche hockten nur mehr herum und starrten Tag und Nacht ins Herdfeuer, und wieder andere begannen, in diesem Feuer die Kräuter zu verbrennen, die neuerdings haufenweise auf den ehemaligen Weiden wuchsen, um den Rauch zu inhalieren. Vielen früher durchaus vernünftigen und achtbaren Dorfbewohnern war inzwischen schon alles egal – sie mieden Dorfrat und Dorfversammlung, kümmerten sich um nichts mehr und versuchten nur noch, ihre verbliebenen Habseligkeiten vor den Sicherheits-Spendeneinsammlern zu verbergen.

      Am schlimmsten war, dass einige der Dorfbewohner auf die Idee kamen, die Schuld an sämtlichen Misslichkeiten einfach den Bewohnern anderer Dörfer in die Schuhe bzw. Riemensandalen zu schieben. Übersiedlungs- und Arbeitsverbote wurden erlassen, der Warenverkehr überwacht, und die Abkömmlinge von Nachbardörfern wurden mit Misstrauen und Schmähungen drangsaliert. Einige etwas weiter entfernte Nachbardörfer wurden verdächtigt, heimlich Wölfe zu züchten oder zumindest demnächst die Mittel dazu zu besitzen. Die inzwischen ja ohnedies kaum ausgelasteten Sicherheitskräfte überfielen dann diese Dörfer, sorgten für völliges Chaos, suchten intensiv nach Wolfsspuren, nahmen alles, was sie brauchen konnten, mit und zogen nach kürzerer oder längerer Zeit – völlige Verwüstung zurücklassend – wieder ab.

      Die Nachbardörfer konnten wenig dagegen tun, waren ihre eigenen Dorftrottel doch mengenmäßig weit unterlegen und sie selbst in der Abwehr von Bedrohungen wenig geübt. Der eine oder andere der erzürnten Nachbardörfler versuchte zwar, es den Wolfsbekämpfungstruppen heimzuzahlen – dies führte aber nur zu verstärkten Maßnahmen, weil es ein Beweis niederer feindlicher Gesinnung war.

      Begreiflicherweise geriet das Dorf bei den Nachbarn bald in etwas zwielichtigen Ruf. Alle verkauften ihnen gerne Baumaterial für monstersichere Zäune10 und Wachtürme, Nahrungsmittel, Öl (natürlich Oliven-) und Sicherheitsbedarfsartikel. Inzwischen waren Sklaven und Beutegut aber praktisch die einzigen Handelsprodukte unseres Dorfes, während der berühmte »MonsterRepulsor Supreme®« beispielsweise zur Gänze in einem ganz anderen Dorf an der Küste gefertigt wurde. Vielerorts wurden die Dorfbewohner von ihren Mitmenschen als gemeingefährliche, unzivilisierte Irre, mit denen man am besten so wenig wie möglich zu tun hätte, gemieden.

      Mit geringfügigen Einschränkungen hätte alles ewig so weitergehen können, war doch die Furcht vor Wölfen – oder eigentlich die Reaktionen, die diese Furcht ­hervorriefen – keinerlei zeitlicher und kaum einer materiellen Beschränkung unterworfen.

      Doch es kam anders: Die Römer – die dem Vernehmen nach ursprünglich von einer Wölfin aufgezogen worden waren und deshalb keinerlei Berührungsängste hatten – eroberten schließlich Griechenland. Sie nahmen viele Einwohner mit, als Haussklaven, Ärzte(sklaven), Lehrer(sklaven) … und als Geschichtenerzähler(sklaven). Letztere waren es dann natürlich auch, die die Kunde überall und bis zum heutigen Tage verbreiteten:

      »Wolf! Wolf! …«

      Na ja – das ist halt eine alte Geschichte! Die Zivilisation ist inzwischen viel weiter entwickelt. Mittlerweile haben wir (mehr oder weniger) demokratisch gewählte Führer, verantwortliche Medien, noch mehr Experten und hochgebildete Sicherheitsfachleute.

      Aber lassen Sie uns die Lage einmal näher besehen!

      3

      Warum immer wieder neue Katastrophen auftauchen

      Die Sozialpsychologie hat erkannt, dass der Glaube an eine »greifbare Gefährdung es ermöglicht, das eigene Unbehagen zu erklären und zu rechtfertigen« [3]. Zuerst also kommt das Unbehagen – dann die Erklärung. Um unsere Gedankengänge etwas anschaulicher zu gestalten, wollen wir in Anlehnung an die so lehrreiche Aesopsche Fabel im vorangegangenen Kapitel diese »Erklärung« für das Sich-bedroht-Fühlen im Folgenden als »Wolf« bezeichnen und definieren also:

      Ein Wolf im Sinne dieses Buches ist eine Gefahr, die durchaus eine real existierende Ursache haben (oder gehabt haben) kann. Wichtigstes Merkmal ist, dass die Gefahr über alles realistische Maß hinaus übertrieben und die angebotene »Rettung« üblicherweise einfach, linear und weitgehend frei von Sachkenntnis propagiert wird. Die Rettung beinhaltet dann »eo ipso« – »aus sich heraus« – die Überwindung allen Übels, da das Übel zuvor auf ein singuläres Problem reduziert worden ist.

      Individuelle Ängste betreffen vor allem das eigene, ganz private Wohlbefinden.1 In einem Weltbild, in dem das Leben nach dem Tode oder der Ruhm der Nation zunehmend an Bedeutung verloren2 haben, stehen Gesundheitsüberlegungen oft im Zentrum der Sorgen von entsprechend disponierten Personen. Unwissenheit, Hypochondrie, Geschäftemacherei, der Wunsch nach einfachen Lösungen, Profilierungssucht, und natürlich auch echt empfundene Besorgnis bilden eine oft recht verwirrende Mischung. Aber auch mangelnde subjektive Zufriedenheit erzeugt weitreichende Ängste.

      Ein eindrucksvolles Beispiel von zunächst sehr ­persönlichen Ängsten waren die Auseinandersetzungen um Silikonimplantate in den USA der späten 80er und 90er Jahre. Im Laufe dieses »Skandals« spielte sich ein Team aus Journalisten, Anwälten, Ärzten und vermeintlich »GeschädigtInnen« gegenseitig