Flügelschatten. Carolin Herrmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Herrmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915533
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albern, schimpfe ich mit mir selbst und ziehe die Vorhänge ruckartig zu. Dennoch, das bleiche Gesicht der jungen Frau lässt mir keine Ruhe, ebenso wenig wie ihre unheilvollen Augen, die ich im Spiegel erblickt zu haben glaubte.

      Ich husche um die Ecke und bringe mich hinter einer Hauswand in Sicherheit. Um an Essen zu kommen, betätige ich mich als Diebin, was viel einfacher ist, als irgendwie Wertvolles zu verdienen oder etwas in der Art. Außerdem fällt es mir seltsam leicht, zu stehlen. Heute muss ein Bäcker dran glauben. Ich stoße gegen ihn, wobei sein beladenes Backblech gefährlich kippt und ich es gerade noch retten kann. Ein paar der frischen Brötchen landen wie geplant trotzdem auf dem Boden. Ich reiße die Augen auf und schlage mir die Hand erschrocken vor den Mund.

      »Kannst du denn nicht besser aufpassen?«, schimpft er halb­herzig und nimmt mir das Blech ab. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht verschreckt zurückzuweichen. In einen solchen Kontakt zu den menschlichen Wesen zu treten, bereitet mir Magenschmerzen, trotzdem zwinge ich mich dazu, um die Angst vor ihnen zu verlieren. Dann sieht der Mann mich jedoch genau an. Sein Blick fällt auf meine Flügel und seine Augen werden groß. Der Ausdruck in ihnen verändert sich. Er wirkt verängstigt.

      »Vergiss es, schon gut. Hier, nimm, die kann ja keiner mehr essen«, stottert der hochgewachsene Bäcker, mit einem Mal ganz kleinlaut, während er mir die Brötchen hastig in die Hand drückt.

      Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, dreht er sich um und geht weiter, während ich die noch warmen Brotstücke glücklich an meinen Leib presse. Sie duften verführerisch und ich verschwinde mit ihnen, um sie in einem ruhigen Versteck zu essen, darauf bedacht, von keinem bemerkt zu werden. Gleichzeitig versuche ich, das flaue Gefühl zu vertreiben, das in mir hochgekrochen ist, seit der Bäcker mich derart entsetzt angestarrt hat. Genau wie die Frau in dem Dorf, die mit den Glasprismen, und genau wie der Händler. Sie sahen mich an, als hätten sie etwas wie mich nie zuvor gesehen. Warum?

      Es ist der zweite Sonnenaufgang, seit ich in dem Dorf bin, und ich bin bisher unschlüssig, was ich weiterhin tun will.

      Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich vor allem deswegen noch hier, weil mir dieser seltsame Mann nicht aus dem Kopf geht, den ich auf der Brücke getroffen habe. Ich bin mir sicher, dass ich ihn schon einmal gesehen habe. Nicht, wie mir eben die Namen zu Dingen wie den Bäumen oder den Weg einfallen, weil ich sie kenne, sondern er, genau er, kommt mir bekannt vor. Und dieses Gefühl ist so überwältigend, weil ich es noch nie zuvor empfunden habe.

      Nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, war ich ihm zaghaft gefolgt, denn auch wenn sein Gesicht etwas in mir ausgelöst hatte, konnte ich nicht erklären, woher und weshalb genau er mir vertraut war. Aber ich wusste, dass er im Moment das Einzige war, das mich mit meinen fehlenden Erinnerungen verbindet, also durfte ich ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren.

      Ich war ihm durch die verlassenen Gassen nachgelaufen und hatte nicht auf den Regen geachtet, der mich schnell bis auf die Knochen durchnässt hatte. Der Mann musste es sehr eilig gehabt haben: Mit hochgeschlagenem Kragen und langen, energischen Schritten war er durch die Straßen geeilt, über Brücken, bis die Häuser nicht mehr so dicht beisammenstanden und die Landschaft sich langsam weiter vor uns ausgebreitet hatte.

      Er hatte das Dorf verlassen und stattdessen einen kleinen Hügel erklommen, der sich in einiger Entfernung zum Ort in der Dunkelheit erhob. Dort oben thronte ein riesiges Haus, schwarz und unheilvoll. Es schien mich von seinem erhöhten Platz aus zu beobachten, als hätte es unzählige Augen, die lauernd auf mich herabblickten.

      Ich hatte schlucken müssen.

      Der Mann hatte nicht angehalten, sondern war geradewegs auf dieses imposante Gebäude zugegangen. Es wirkte ein wenig alt und heruntergekommen, wie eine ehemals erhabene Villa, die mehr gepflegt werden könnte mit ihrer hölzernen Veranda, den bodentiefen Fenstern und unzähligen Giebeln und Balkonen. Der Mann hatte sie wie selbstverständlich betreten und leise die Tür hinter sich geschlossen.

      Ich hatte gewartet. Die ganze Nacht hatte ich vor dem Haus gestanden und gewartet, dass etwas, irgendetwas geschah, stattdessen hatte er sich sicherlich schlafen gelegt und ahnte nichts von mir, der pitschnassen Frau, die vor seiner Tür stand und nicht wusste, was sie noch denken sollte.

      Wer ist er nur und welche Verbindung haben wir zueinander?

      Ich weiß es nicht. Und solange ich diese Frage nicht geklärt habe, kann ich unmöglich weiterziehen. Habe ich nicht genau danach gesucht? Nach irgendetwas, irgendjemandem, der mir die Antworten geben kann, nach denen ich in meinem Kopf so verzweifelt suche?

      Am nächsten Morgen hatte ich mich im Schutze einiger Bäume verborgen und gehofft, einen weiteren Blick auf den Mann zu erhaschen, doch an diesem Tag hatte er die Villa nicht verlassen. Deshalb hatte ich mich dazu entschlossen, durch das Dorf zu streunen, und in der Nacht war ich erneut zum Fuße des Hügels gelaufen, allerdings war wieder nichts Aufregendes geschehen. Mittlerweile bin ich enttäuscht und frustriert und weiß einfach nicht, was ich tun soll.

      Ich beschließe, einen letzten Diebstahl für heute zu begehen, damit ich abends nichts zu tun habe und den Mann vielleicht in der Dämmerung finde, und begebe mich wieder auf die Straße. Die Bewohner bestehlen sich untereinander offensichtlich nicht, deswegen ist für mich umso mehr Vorsicht geboten.

      Ich entdecke einige Arbeiter, die gut bei den Obstbäumen am Rande des Dorfes gewesen sein können: jeder von ihnen schleppt Kisten mit Äpfeln und sie haben mehrere Pferde mit Säcken beladen, außerdem tragen sie ihr Werkzeug und ihre Taschen auf den Schultern und sehen müde und erschöpft aus. Perfekt für mich. Ich nähere mich ihnen unauffällig und verstecke mich in einer Nische zwischen zwei Häusern. Es ist dunkel, denn die Dächer berühren sich fast und kein Sonnenstrahl dringt auf den Boden.

      Wieder setzt ein leichter Nieselregen ein, der direkt unter die Haut geht. Nicht gerade angenehm. Ich werde mich wohl besser wieder unter die Brücke kauern – nur noch das hier und du bist für heute fertig, sage ich mir und ziehe die Kapuze meiner Jacke hoch.

      Ich luge um die Ecke, die Männer sind jetzt nahe genug, sodass ich mich jeden Moment auf ihre Erträge stürzen kann. Plötzlich nehme ich eine Bewegung wahr, nur ganz kurz, blitzschnell, sodass ich mich auch geirrt haben könnte, meinen geübten Augen entgeht jedoch für gewöhnlich nichts: Zwei große Jungen sind mir zuvorgekommen und haben geschickt einige von den Säcken losgeschnitten, die die Pferde tragen, und eilen nun mit ihrer Beute davon. Ich stutze und nehme sofort die Verfolgung auf, denn wie ich feststelle, tragen sie in ihren Säcken nicht nur Äpfel, sondern auch andere Leckereien. Wo bringen sie das alles hin?

      Sind sie wie ich?

      Ich folge ihnen ausgerechnet bis zu der großen Villa auf dem Hügel, deren Fenster mich wie tote Augen anstarren. Ist es ein Zufall, dass sie auch hierherlaufen? Haben sie etwas mit dem Mann zu tun?

      Meine Gedanken überschlagen sich, als ich mich auf den Boden in das hohe Gras kauere. Aus einiger Entfernung beobachte ich, wie sie durch eine Hintertür eintreten, dann sind sie schon im Inneren des Hauses verschwunden. Mit angespannten Nerven warte ich, aber es kommt niemand heraus.

      Ich muss etwas tun. Von allein werden meine Erinnerungen niemals zurückkehren. Ich raffe mich energisch auf. Ich muss wissen, wer dieser Mann ist!

      Es klopft an der Tür.

      Ich reagiere nicht, sondern widme mich weiter dem Buch in meinen Händen. Niemand von uns würde jemals zur Tür gehen. Mein Vater ist der Einzige, der Besuch erwarten könnte. Nur hat der offenbar nichts bemerkt, denn es klopft ein zweites Mal. Genervt lege ich den Kopf in den Nacken und brülle: »Elijah! Da ist jemand!«

      Keine Reaktion. Wütend schlage ich den Buchdeckel zu, erhebe mich aus meinem gemütlichen Sessel und renne zu der großen, alten Tür in der Eingangshalle. Energisch reiße ich sie auf und wappne mich für den Windstoß, der gleich hereinfegt und einige Regentropfen mitbringt. Ich blinzle und erkenne dann im Bruchteil eines Augenblicks die Gestalt. Am liebsten