Flügelschatten. Carolin Herrmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Herrmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915533
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eine Erinnerung an jemanden hervorzu­rufen. Ich glaube nicht, dass ich Eltern habe. Ist das möglich?

      »Du hast keine mehr«, stellt auch Elijah jetzt fest und sein Gesicht wird ernster. »Sind sie … wurdet ihr angegriffen?«, fragt er vorsichtig.

      Ich wiege erneut den Kopf hin und her, sage lieber nichts, denn wenn er das mit den Eltern so weit ausführt, findet er es bestimmt seltsam, wenn ich sage, dass ich keine habe. Noch immer kann ich nicht anders, als ihn die ganze Zeit über intensiv anzustarren, weil es mich verblüfft und gleichzeitig unglaublich frustriert, dass ich ihn zu erkennen glaube. Wo sind die restlichen Erinnerungen? Oder die, die mit ihm zusammenhängen? Es muss mehr als dieses eine Bild in den schwarzen Fluten existieren, aus denen ich erwacht bin.

      Elijah lächelt mir aufmunternd zu.

      »Schon in Ordnung, ich verstehe dich. Du kannst hier wohnen bleiben, wenn du das möchtest. Viele von uns haben alles verloren, was sie hatten. Wir könnten hier ein Zimmer für dich finden.«

      Möchte ich das? Ich weiß nicht. Unsicher weiche ich zurück. Und wieder sagt er irgendwie genau das Richtige: »Du musst jetzt nicht antworten. Ich zeige dir einfach die letzten Räume, ja? Oh.« Er schlägt sich die Hand vor die Stirn und verdreht die Augen. »Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Elijah.«

      Er vollführt einen kleinen Halbbogen mit geöffneter Hand in der Luft.

      »Das ist bei uns zur Begrüßung so üblich«, erklärt er mit einem erneuten Zwinkern. Aha. Ist dieses Blinzeln auch etwas, was sie öfter tun? Oder soll das hier alles eine Falle sein? Es ist zum Verzweifeln, ich weiß nicht, was ich denken soll!

       Abwarten. Abwarten ist gut. Die Lage einschätzen. Möglichkeiten abwägen. Flucht oder Angriff.

      Ich atme durch. Die Lage einschätzen. Ich muss mehr über Elijah erfahren. Immerhin habe ich jetzt einen Ort, an dem ich bleiben könnte, das ist mehr, als ich gestern Abend hatte. Elijah führt mich durch die einzelnen Stockwerke, öffnet diese oder jene Tür und erzählt zu jedem Zimmer etwas. Anfangs höre ich ihm noch zu, schon bald schalte ich jedoch ab, seine Stimme wird eine Hintergrund­musik. Viel mehr interessiert mich die Einrichtung, die Wandtapete, der Fuß­boden. Wie durch Watte dringen die Geräusche zu mir durch und da passiert es: Auf einmal verschwimmt der Raum vor meinen Augen, ich schwanke, Halt suchend klammere ich mich an einen kleinen Tisch, blinzle und versuche verzweifelt, klare Sicht zu bekommen. Vergeblich. Die Farben und Formen vermischen sich, alles dreht sich und ich kann es nicht aufhalten. Die Welt kippt vor meinen Augen. Urplötzlich taucht eine Szene auf, legt sich auf mein Gesicht.

       Ein zerbrochenes Fenster, die Splitter fliegen in alle Richtungen davon, das Sonnenlicht bricht sich darin. Ein Schrei, ich wirble herum, ein Arm rutscht von meiner Schulter. Ich sehe in seine Augen. Vertraute Augen …

      8

      Alles in Ordnung mit dir?«

      Ich schlage die Augen auf. Das Erste, was ich sehe, ist die Zimmer­decke. Ich brauche ein paar Momente, bis ich verstehe, warum eine Wand über mir ist und nicht die Wipfel der Bäume oder ein weites Stück Himmel. Da war dieser Mann. Diese Villa …

      Elijah beugt sich über mich und reicht mir besorgt seine Hand. Ich ignoriere sie bewusst und stehe selbst auf. Zum Glück dreht sich nichts mehr, meine Beine fühlen sich indes schrecklich instabil an, als könnten sie mich jeden Moment im Stich lassen und unter mir zusammenbrechen. Nervös sehe ich mich in dem Raum um, wenngleich er nicht länger vor meinen Augen verschwimmt. Trotzdem sitzt mir der Schreck noch in den Gliedern, wieder und wieder spielt sich die Szene in meinem Kopf ab, die ich gerade noch so lebendig gesehen habe, als würde sie eben erst geschehen. Als würde ich sie in ebenjenem Augenblick durchleben.

      Elijahs unruhiger Blick ruht weiterhin auf mir.

      »Du wurdest auf einmal ohnmächtig«, klärt er mich mit hochgezogenen Brauen auf, während er mich aufmerksam und durchdringend mustert. Ich zucke betont gleichgültig mit den Schultern. Auf keinen Fall darf ich mir anmerken lassen, wie sehr mich das, was gerade geschehen ist, mitnimmt. Meine Gedanken rasen durcheinander und ich könnte vor Wut aufschreien, dass mir das Bild dieser Augen derart schnell entgleitet. Trotz dass er mich vorhin so direkt angeblickt hatte, weiß ich jetzt nicht einmal mehr, welche Farbe sie hatten. Waren sie braun? Nein. Grün vielleicht?

      »Geht es dir wirklich gut?«

       Sei still! Ich muss mich konzentrieren!

      Doch je stärker ich versuche, die Szene aufrechtzuerhalten und mir die Details ins Gedächtnis zu rufen, desto mehr verblasst sie, bis sie schließlich ganz verschwindet und ich nicht mehr weiß, was ich gesehen habe und was meiner bloßen Einbildung entspringt.

      Mit zusammengepressten Zähnen nicke ich.

      Ganz gleich, wie bekannt Elijah mir vorkommt, ich kann mit ihm nicht darüber reden, was da passiert ist, ich weiß es ja selbst nicht einmal!

      Und ich weiß nicht, ob ich ihm überhaupt trauen kann. Einen Moment lang beobachtet er mich unschlüssig, schließlich muss er allerdings einsehen, dass ich nicht darüber reden werde. Nicht mit einer Silbe.

      »Also schön. Es dämmert bereits, wie wäre es also, wenn Celdon dir eines der Gästezimmer zeigt?«

      Ich mustere ihn unsicher. Suche ein letztes Mal in seinem vernarbten Gesicht nach einem Anzeichen, dass er mich auch erkennt. Nach irgendeiner kleinen Regung. Doch da ist nichts. Er lächelt nur freundlich.

      Ein wenig erschöpft nicke ich. Es behagt mir nicht recht, in diesem Haus zu verweilen, mit Elijah habe ich jedoch erstmals eine Spur in die Vergangenheit. Ich kann sie noch nicht aufgeben. Er nickt mir zu.

      »Dann werde ich ihn rufen, ich selbst habe noch eine Verabredung. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«

      Damit verschwindet er, dreht sich in der Tür um, winkt und setzt ein Lächeln auf. Mein linker Mundwinkel hebt sich kurz und unbeholfen. Wer wohl Celdon ist? Hoffentlich nicht der Idiot von der Tür!

      Natürlich ist es der Idiot von der Tür. Lässig lehnt er im Türrahmen und mustert mich von oben bis unten. Dann starrt er mir direkt in die Augen, sodass ich eine Gänsehaut bekomme. Sein Blick hat etwas Merkwürdiges an sich. Als würde er einem in den Kopf sehen können, oder gar durch einen hindurch. Es ist ein nicht gerade freundlicher Blick.

      »Hier lang«, brummt er nun kurz angebunden, dreht sich um und geht schnurstracks die Treppe runter in den zweiten Stock. Ganz anders als Elijah. Irgendwie beruhigt es mich gleichzeitig, dass er so barsch ist, das kommt mir typischer für menschliche Wesen vor und ich kann mit seiner Schroffheit leichter umgehen als mit Elijahs Freundlichkeit. Ich beeile mich, ihm zu folgen. Diese Dielen verwirren mich, denn ich bin nie auf etwas anderem als Waldboden gelaufen.

      Und dann diese Wesen. So nah. Sie sind keine Menschen, das spüre ich. Celdons Ohren laufen eigenartig spitz zu und gegen seine funkelnde Iriden wirken die Augen der Menschen blass wie Farbe, die mit zu viel Wasser verdünnt wurde. Er bewegt sich leichter, fast schon ein wenig tänzerisch. Er ist ein Elf. Elijah ist ein Elf, wie einige andere im Dorf. Ungeachtet dessen ist die Vorstellung, mit ihnen unter einem Dach zu leben, mehr als beängstigend. Alles hier ist auf eine gewisse Weise beängstigend.

      Unwillkürlich blicke ich ständig nach links und rechts und erst als dieser Celdon mich verwirrt ansieht, fällt mir auf, dass ich nur auf den Zehenspitzen gehe, als würde ich über glühenden Kohlen laufen.

      Ich ärgere mich über mich selbst, wende sofort den Blick von ihm ab und sehe demonstrativ zur Seite, als würde mich das alles hier überhaupt nicht verwirren. Allen voran nicht er mit seinem breiten Rücken, den kräftigen Armen und dem abweisenden Blick. Mein Plan, unbeteiligt und gewöhnlich zu wirken, geht völlig daneben, als ich gegen eine Kommode laufe, aufschreie, zwei Schritte zurückspringe und mich angriffsbereit hinhocke. Celdon prustet los, lässt seine Züge dann wieder rasch verhärten, als