Flügelschatten. Carolin Herrmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Carolin Herrmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915533
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beginnen, der beißende Geruch ihres Schweißes steigt mir in die Nase und das Dröhnen ihrer Herzen wird zu einem wilden Stakkato.

      In Windeseile klettere ich auf einen Baum und springe flink von Ast zu Ast, eine Fähigkeit, für die ich sehr dankbar bin.

      Mit einem Mal wird mir schwindelig, ganz plötzlich kommt es und vernebelt mir die Sinne. Im Hals spüre ich das Kratzen, das nichts Gutes ankündigt. Ich werde nervös, meine Bewegungen abgehackter.

       Was ist das?

      Nein, nicht nachdenken, laufen! Ich zwinge mich zur Ruhe, versuche nicht an all das Blut zu denken, das in ihren Adern rauscht und sie am Leben hält, versuche den Geruch zu vertreiben, der mir in die Nase steigt. Hat sich jemand verletzt? Ist es ernst?! Es ist, als würde ich nicht mehr nur vor ihnen weglaufen, sondern davor, mich umzudrehen und einen nach dem anderen umzubringen.

       Durst!

      Ich schlucke mehrfach. Das darf nicht wahr sein, wieso schaffe ich es nicht, meinen eigenen Körper unter Kontrolle zu bringen?! Meine Sinne schärfen sich – mir wäre es lieber, sie würden es nicht tun, weil ich weiß, dass ich nicht mehr lange dem Drang stand­halten kann. Ich will nicht! Trotzdem kann ich nichts dagegen tun. Ich werde langsamer, viel zu langsam.

       Oh …

       Nein, nein, nein! Ich muss weiter, lauf weiter, los!,

      versuche ich mich selbst zur Vernunft zu rufen – es hat keinen Zweck. Es ist, als würde ich verblassen, verschwinden und als würde eine andere Macht die Kontrolle erlangen. Ich stoppe ab, schwinge mich an einem Ast nach unten und sehe mich gierig nach meinen Verfolgern um. Es ist der reinste Wahnsinn, ein Albtraum! Ich kann meinen eigenen Muskeln nicht mehr befehlen, höre und rieche zwar ausgezeichnet, bestimme allerdings nicht mehr darüber. Ich schaffe es einfach nicht.

      Wütend brülle ich auf, als ich bemerke, dass sie schon vor längerer Zeit erschöpft waren und die Verfolgung aufgegeben haben. Ich war zu schnell und ihre Ausdauer nicht allzu groß. Trotz der Entfernung konnte ich sie riechen; als ich jetzt die Nase schnuppernd in den Wind halte, nehme ich nichts mehr wahr.

      Sie haben sich zurückgezogen.

      Ich ziehe die Möglichkeit in Erwägung, zurückzulaufen, um sie mir zu holen, aber das hat wohl keinen rechten Sinn … Außerdem weiß ich nicht, wie viele von ihnen vielleicht noch irgendwo im Wald lauern, und ich sollte froh sein, dass ich ihnen entkommen bin …

      Matt lasse ich mich zu Boden sinken. Es ist nicht der Lauf, der mich aus der Puste gebracht hat …

      Ganz toll. Ich hätte gerade schon fast wieder die Kontrolle verloren, werde von Menschen verfolgt und befinde mich ohne irgendetwas hier im Wald, schließlich sind alle meine Sachen noch hoch oben im Baum. Zurückgehen und sie holen? Ausgeschlossen – auf eine zweite Begegnung mit den Kaufleuten bin ich nicht sonderlich erpicht. Bleibt also nur eine Lösung: weitergehen. Weiter den Wald durchstreifen und hoffen, einen Ausweg zu finden.

      Mit wackligen Beinen stehe ich auf, lehne mich an einen Baumstamm und sehe in die Ferne, in der sich in der Dunkelheit die Umrisse rauer Rinde, Büsche und Sträucher aneinanderreihen, ein ewiges Geflecht, das sich weiter und weiter zieht, kein Ende nimmt. Der Wald ist gewaltig, er verspricht Schutz und Sicherheit – zumindest hat er das mal getan. Jetzt nehmen die Menschen mir auch ihn weg und ich habe nichts, wo ich bleiben kann. Ist es an der Zeit, etwas Neues anzufangen, neu zu beginnen und herauszufinden, wer ich bin?

      Denn daran, dass die Erinnerungen einfach irgendwann schon wiederkommen werden, glaube ich selbst nicht mehr. Wenn ich wissen will, was damals passiert ist, dann muss ich das wohl selbst in die Hand nehmen.

      Ich stoße mich ab und beginne zu gehen. Gehe und gehe, ohne Unterlass, weil ich Angst habe, dass ich, sobald ich anhalte, meine Meinung ändern könnte. Besser ist es, überhaupt nicht darüber nachzudenken.

      Irgendwann habe ich den Waldrand erreicht. Vor mir breitet sich eine lang gezogene Ebene aus, nichts als Gras, so weit das Auge reicht. Die Landschaft ist ein wenig hügelig und verschlungene Pfade winden sich als ein braunes Band durch das saftige Grün. Zögernd blicke ich zurück. Die Bäume scheinen mich mit ihren Zweigen packen und wegziehen zu wollen, weg von dieser neuen Welt. Irgendwie habe ich das beklemmende Gefühl, dass ich den Wald nie wiedersehen werde. Davor fürchte ich mich, genauso wie ich mich vor dem Tal zu meinen Füßen fürchte. Ich lege mich hin und rolle mich zu einer kleinen Kugel zusammen für ein letztes Quäntchen Schlaf im Schatten der Baumkronen, bevor die Sonne aufgeht. Fast ein wenig wehmütig schließe ich die Augen.

      Händler

      »Schneller, verdammt, ihr alten Waschweiber!«, knurre ich und gerate ins Straucheln, als ich den Abhang hinunterhaste. Meine Gedanken überschlagen sich, als sie zu dem seltsamen Mädchen finden.

      Es kann keines der Kinder aus dem Dorf sein! Die würden sich niemals so tief in den Wilden Wald wagen. Zu Recht, er ist viel zu gefährlich. Wie sie erst aussah. Vollkommen verwildert! Ihre Haare standen wie eine verfilzte Matte vom Kopf ab, als hätten sie noch nie einen Kamm gesehen. Auf ihrer Stirn prangte ein dunkler Streifen Erde, ihre Hände und Knie waren verdreckt und unter ihren Fingernägeln klebte Schmutz. Grüne Grasflecke bedeckten ihre kurze, zerrissene Hose ebenso wie das grobe Oberteil, das sicherlich auch schon sauberere Tage erlebt hat.

      Weder Socken noch Schuhe trug sie an ihren Füßen und über das dünne Oberteil hatte sie nur einen fliederfarbenen Stofffetzen gezogen, der wohl an eine Jacke erinnern soll, jedoch vollkommen eingerissen, schmutzig und löchrig war.

      Wenn sie schon länger hier zwischen den Bäumen verwahrloste, würde das ihr animalisches Verhalten erklären. Bloß die Augen – ihre Augen! Allein der Gedanke an sie lässt mich nun erneut frösteln. Sie waren so anders, so … abnormal. Dazu die gezackten Flügel, die aus ihrem Rücken ragten. Habe ich überhaupt einen Menschen vor mir gehabt?

      Wie sie mir am Vortag ihre Faust in den Bauch gerammt hat – wie kann eine solche Kraft in diesen dürren Armen und dem ausgemergelten Körper liegen?!

      Ich muss mit jemandem darüber sprechen! Wäre sie ein gewöhnliches Kind, könnte ich glauben, sie habe ihre Eltern bei einer misslungenen Flucht verloren, denn es gibt genug, die weiter hierher in den Süden flüchten, um der Gefahr aus dem Norden zu entkommen. Unsere Beziehungen zu den Hexen sind gut, viele Männer sind bereit, sich der Königin anzuschließen und für sie zu kämpfen. Sie ist im klaren Vorteil und nimmt ein Gebiet nach dem anderen ein – zweifels­ohne können auch wir davon profitieren. Die Hexen und anderen Kreaturen, die sie unterstützen, liefern zusätzlich überzeugende Argumente, warum wir uns nicht gegen sie stellen sollten.

      Aber das, was mir dort begegnet ist, das war kein unschuldiges Kind. Nicht mit diesen Augen! Sie muss besessen sein, verzaubert oder Schlimmeres. Auf jeden Fall ist sie eine Gefahr, solange eine Kreatur wie sie im Wald haust. Deshalb habe ich mit einigen Kaufleuten auf dem Markt gesprochen und wir beschlossen, uns in den Wald vorzuwagen.

      Die Geschwindigkeit, mit der dieses Wesen sich vorwärtsbewegt hat, war unfassbar. Sie zu verlieren absehbar.

      »Ihre Augen haben sicherlich etwas mit schwarzer Magie zu schaffen!«, keucht Kial nun hinter mir. »Damit will ich nichts zu tun haben.«

      »Dann verzieh dich, Feigling!«, fahre ich ihn unwirsch an und halte auf das Dorf zu. »Wenn es stimmt, dann ist es noch besser, Veith von diesem kleinen Biest unterrichten«, füge ich überzeugt hinzu. Sagte nicht ebenjener Hexenmeister, mit dem wir in Kontakt stehen, wir müssen gerade in dieser Zeit nach allen Auffälligkeiten Ausschau halten?

      Ob das tatsächlich die beste Idee ist, stelle ich wenig später infrage, als ich unruhig die Hände knete und von einem Bein auf das andere trete. Natürlich konnten wir nicht mit dem Hexenmeister persönlich reden. Ein viel zu wichtiger Mann und auch viel zu beschäftigt, um sich um Lappalien zu kümmern. Das sagten jedenfalls die beiden Hexen, die sich zurzeit in der Nähe unseres Dorfes aufhalten und den Kindern Angst einjagen, nachdem wir auf sie zugestürmt sind.

      Da half es auch nichts, dass ich mit stolz geschwellter Brust meinte, dass ihn das,