»Ist gestern einen Monat alt geworden.«
»Cam? Roan?« Gannons ruhige, sanfte Stimme drang vom Flur aus ins Zimmer. »Die Polizei ist hier.«
Roan sah Cam an. »Ich weiß, dass ich viel zu erklären habe, aber…«
Cam schüttelte den Kopf. »Ich rede mit der Polizei. Und sage ihnen, was ich kann.«
»Ich muss ihn umziehen«, flüsterte Roan und blickte auf den süßen kleinen Jungen in seinen Armen hinunter. Er versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen. Es hasste es, dass dieser wunderbare Junge jetzt ohne seine Mutter durchs Leben gehen musste. Roans eigene Mutter war zwar nicht gestorben, doch er hatte sein Leben so geführt, als wäre sie es.
»Klar doch. Ich werde… ähm… ja.«
Roan drehte sich zum Wickeltisch um und legte Liam in der Mitte ab. Dann machte er sich daran, ihn aus der nassen Kleidung zu schälen und die durchweichte Windel so schnell und so effizient zu wechseln, wie er konnte. Gott wusste, dass er während der vergangenen vier Wochen oft genug hatte üben können.
Als er fertig war, warf er die schmutzige Windel in den Eimer, hob Liam hoch, bettete ihn vorsichtig an seine Schulter und legte eine Hand auf seinen Rücken, sodass seine Finger den Kopf sicherten. Noch einmal sah er sich im Zimmer um. Alles hier war neu. Das Kinderbett, der Wickeltisch, die Kommode. Roan hatte jedes Möbelstück gekauft, jedes Kleidungsstück, die Windeln, die Feuchttücher, das Puder, die Babywanne. Alles.
Jede einzelne Sache für Liam hatte Roan für ihn besorgt. Und zwar nicht widerwillig. Er hatte die Dinge gekauft, weil er dafür sorgen wollte, dass es Liam an nichts fehlte.
»Was machen wir jetzt, Kleiner?«, flüsterte er auf dem Weg in die Küche.
Ein kurzer Blick auf die Anrichte bestätigte, was er befürchtet hatte. Cassie hatte ihn heute Abend nicht gefüttert. Jeden Tag füllte Roan die Fläschchen mit Wasser und stellte sie für Cassie auf die Anrichte. Sie musste dann nur noch das Milchpulver hinzufügen. Roan platzierte die Dose sogar neben den Fläschchen und hatte einen Notizzettel drangeklebt, auf dem stand, wie viel Pulver sie dazugeben musste. Indem er die Fläschchen bereitstellte, behielt Roan den Überblick, was sie getan oder auch nicht getan hatte. Meistens hatte seine Schwester es versucht. Genauer gesagt hatte sie es versuchen wollen.
Das hatte sie wirklich.
Sie war nicht die beste Mutter gewesen. Das konnte niemand bestreiten. Über die Hälfte der Zeit war Roan wegen Liam mitten in der Nacht aufgestanden, weil sie sich geweigert hatte, das Bett zu verlassen. Am Anfang hatte es danach ausgesehen, als ob Cassie die ganze Muttersache versuchen wollte. Nach einer Woche war Roan klar geworden, dass er mehr würde tun müssen, als nur ein Auge auf sie zu haben. Sie begann, sich mehr und mehr darauf zu verlassen, dass er sich um Liam kümmerte, und Roan hatte getan, was ihm selbstverständlich erschien. Er sorgte für den kleinen Jungen, weil er wusste, dass seine Schwester es nicht tun würde.
Roan kämpfte die drohenden Tränen zurück, während er den Deckel von der Milchpulverdose abschraubte und sich daran machte, Liams Fläschchen zuzubereiten. Der kleine Junge würde nicht lange still sein.
Gannon betrat die Küche. »Sie wollen mit dir reden.« Er nickte in Liams Richtung. »Darf ich?«
Offensichtlich hatte Cam Gannon vorgewarnt, denn er schien überhaupt nicht überrascht zu sein, einen Säugling in Roans Armen zu sehen.
Roan wusste, dass er sich damit auseinandersetzen musste, aber er hasste es, Liam loszulassen. Wenn er könnte, würde er den Jungen für immer festhalten, genau dort an seinem Herzen, auf ihn aufpassen und ihn vor der Welt beschützen. In den wenigen kurzen Wochen seines Lebens hatte er schon so viel durchmachen müssen. Mehr, als er je hätte durchmachen sollen.
»Klar«, sagte Roan und gab Liam widerwillig an Gannon.
»Er ist winzig«, sagte Gannon leise und in seinem Blick lag Wärme, als er Liams kleine Gestalt betrachtete. »So winzig.«
Ja. Das war er.
Gannon nahm ihn, stützte behutsam seinen Kopf und platzierte ihn so, dass er ihm das Fläschchen geben konnte.
»Ich werde mich hier hinsetzen«, teilte Gannon ihm mit und sah zum Tisch hinüber.
»Okay.«
Roan schüttelte das Fläschchen, um das Pulver mit dem Wasser zu vermischen, dann versicherte er sich, dass der Sauger funktionierte. Nachdem er es Gannon gereicht hatte, schluckte er schwer und wappnete sich für das Gespräch mit der Polizei.
Jemand – wahrscheinlich Gannon – hatte rücksichtsvoll ein Laken über Cassies Leiche ausgebreitet. Roan richtete seine Aufmerksamkeit auf den Mann, der im Türrahmen stand, sonst hätten seine Knie vermutlich nachgegeben und er wäre zu Boden gesunken.
»Detective Wayne Simpson«, grüßte ihn der Mann geschäftsmäßig.
Roan nickte und wartete auf die Fragen.
»Sie sind…« Der Detective spähte auf seinen Notizblock, »… Cassies Bruder? Roan?«
»Roan Gregory, ja«, bestätigte er.
Knapp erzählte er dem Mann, wie er nach Hause gekommen war und sie leblos auf dem Boden vorgefunden hatte, während die Spritze noch in ihrem Arm steckte. Er beantwortete die Fragen, so gut er konnte. Ja, Cassie war süchtig gewesen. Ja, sie hatte versucht, einen Entzug zu machen. Nein, er wusste nicht, wo sie die Drogen her hatte. Ja, der kleine Junge war ihr Sohn, aber Roan hatte die Vormundschaft. Ja, er hatte die Formulare, die das belegten. Nein, er hatte nicht vor, hier in diesem Haus zu bleiben. Ja, er würde die Beerdigung organisieren.
Cam blieb an seiner Seite und übernahm so viele der Fragen, wie der Detective ihm erlaubte. Er schob Roan sanft zur Seite, als jemand – er wusste nicht einmal, wer – Cassies Leiche auf einer Bahre aus dem Haus rollte.
Das alles dauerte weniger als eine Stunde und als die Unruhe sich schließlich legte, fühlte Roan sich benommen.
Es war zu spät, um Cassie zu retten. Er war zu spät.
Er rieb sich mit der Faust übers Herz. Das verdammte Ding tat weh. Ein körperlicher Schmerz, der ihn nicht besonders kümmerte.
»Sie hat eine Überdosis genommen«, murmelte Roan. »So, wie ich es immer vorhergesehen habe.« Er holte tief Luft und versuchte, die Tränen zu unterdrücken, doch diesmal konnte er sie nicht aufhalten. »Gottverdammt, Cassie.«
Während er ins Leere starrte, rief er sich ihr letztes Gespräch vor ihren hasserfüllten Nachrichten ins Gedächtnis, das sie geführt hatten, kurz bevor er zum Spiel aufgebrochen war.
»Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich hingehe?«, fragte Roan zum dritten Mal.
Cassie blickte lange genug vom Fernseher auf, um die Augen zu verdrehen. »Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen.«
Um sie machte er sich auch keine Sorgen.
»Und auf Liam«, fügte sie verspätet hinzu. »Wir kommen klar.«
»Ich habe ihn gerade gebadet. Er hat einen frischen Strampler und eine neue Windel an. In etwa einer Stunde wird er etwas zu essen brauchen. Bekommst du das hin?« Roan wusste, dass sein Tonfall etwas schärfer als beabsichtigt war, aber es fiel ihm schwer, darauf zu vertrauen, dass Cassie auch tat, was sie sagte.
»Ich bin seine Mutter, Roan. Ich denke, ich werde es wissen, wenn mein Kind etwas essen will.«
Er verkniff sich eine Erwiderung. »Das Spiel beginnt um sieben. Ich bin um zehn wieder zu Hause. Spätestens um halb elf.«
Cassie winkte ab und widmete ihre Aufmerksamkeit bereits wieder dem Fernseher.
Er hätte das gesamte Haus gründlich durchkämmen und alle Drogen wegwerfen sollen, die sie vielleicht dagehabt hätte. Aber er hatte geglaubt, dass sie aufgehört hatte.
Oder hatte