Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Florian Aigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Aigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783710604874
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Gästen in Hilberts Hotel – ist das weniger selbstverständlich, aber die Sache funktioniert grundsätzlich genauso.

      Wenn in Hilberts Hotel nicht zehn neue Gäste ankommen, sondern tausend oder eine Milliarde, ändert das natürlich nichts. Man kann auch sie mit demselben Trick unterbringen. Aber was können wir tun, wenn unendlich viele zusätzliche Gäste vor der Tür stehen? Nehmen wir an, es gibt nebenan noch ein zweites unendliches Hotel, das wegen eines unendlich schwerwiegenden Wasserrohrbruchs kurzfristig schließen muss. Nun suchen die unendlich vielen Gäste dieses Hotels Unterschlupf bei uns.

      Auch das ist kein Problem: Wir müssen nur Gast 1 ins Zimmer 2 übersiedeln, Gast 2 ins Zimmer 4 und Gast 3 ins Zimmer 6. Jeder kommt in das Zimmer, das dem Doppelten seiner bisherigen Zimmernummer entspricht. Danach sind alle Zimmer mit gerader Zimmernummer belegt, alle ungeraden Zimmer hingegen sind frei – und das sind unendlich viele. Die unendlich vielen Zusatzgäste finden dort ebenfalls Platz. Das zeigt uns: Unendlich plus unendlich ist wieder dieselbe Art von unendlich. Oder anders gesagt: Es gibt genauso viele ganze Zahlen wie es gerade Zahlen gibt. Das ist seltsam – unser Bauchgefühl kommt nicht wirklich damit zurecht, dass die Hälfte von etwas genauso groß sein soll wie das Ganze. Aber wenn man das aus den Grundregeln der Mengenlehre so ableiten kann, dann hat das Bauchgefühl eben verloren.

      Wer an diesem Punkt noch immer nicht verwirrt ist, kann aber noch einen entscheidenden Schritt weitergehen: Stellen wir uns vor, das Hotel ist leer, und wieder kommen unendlich viele Gäste. Doch diesmal sind sie nicht mit ganzen Zahlen nummeriert wie vorher, sondern mit allen möglichen reellen Zahlen zwischen null und eins. Unendlich viele Nachkommastellen sind erlaubt. Nun fällt uns keine elegante Lösung mehr ein, wie wir diese Gäste in eine sinnvolle Reihenfolge bringen können. Nun gut – es gibt einen Gast mit der Nummer null, also null komma null null null, mit unendlich vielen Nullen hinter dem Komma. Das ist der Erste, den können wir ins Zimmer 1 schicken. Aber wer kommt dann? Es gibt keine nächstkleinste Zahl nach der Null.

      Wir seufzen und rufen in die unendliche Menge wartender Gäste: Es ist uns egal, in welcher Reihenfolge ihr euch anordnet – sucht euch doch selbst ein Zimmer aus! Die Gäste stürmen los, und tatsächlich ist das Hotel bald vollständig belegt. Doch hat man dabei alle Gäste erfolgreich untergebracht? Nein! Und das konnte Georg Cantor mit einem genialen Argument beweisen.

      Egal, wie sich die Gäste im Hotel angeordnet haben, wir können immer eine Zahl ermitteln, die garantiert keinen Platz im Hotel gefunden hat. Das funktioniert so: Wir gehen der Reihe nach von Zimmer zu Zimmer. Dabei notieren wir die erste Nachkommastelle des Gastes aus Zimmer 1, die zweite Nachkommastelle des Gastes aus Zimmer 2 und so weiter. Auf diese Weise konstruieren wir uns eine unendlich lange Ziffernfolge – und null komma diese Ziffernfolge ist wieder eine Zahl, die zu irgendeinem der Gäste gehören muss.

      Doch nun kommt Cantors entscheidender Trick: Wir verändern unsere Ziffernfolge an jeder einzelnen Stelle. Wir können zum Beispiel an jeder Stelle eins dazuzählen (und wenn eine Neun vorkommt, machen wir sie zur Null). Dann haben wir eine Ziffernfolge konstruiert, die sicher nicht der Ziffernfolge des ersten Gastes entspricht – denn von dem haben wir ja die erste Nachkommastelle übernommen und dann geändert. Unsere neue Zahl muss sich also auf jeden Fall in der ersten Nachkommastelle von der Zahl des Gastes in Zimmer 1 unterscheiden (und vermutlich auch noch in unendlich vielen anderen Stellen). Dasselbe gilt aber auch für alle anderen Zimmer: Unsere Zahl und die Zahl des Gastes in Zimmer 2 unterscheiden sich zumindest in der Nachkommastelle 2 und so weiter – in keinem der Zimmer ist ein Gast mit dieser Nummer. Das bedeutet, dass dieser Gast noch irgendwo außerhalb des Hotels steht und schimpft, weil er kein Zimmer bekommen hat.

      Es gibt also keine Möglichkeit, restlos alle Zahlen zwischen null und eins eindeutig auf die Menge der natürlichen Zahlen abzubilden. Egal, welche Zuordnung man sich ausdenkt, man kann immer Zahlen finden, die nicht zugeordnet wurden – und zwar sogar unendlich viele. Das bedeutet, dass zwischen null und eins mehr reelle Zahlen liegen, als es natürliche Zahlen gibt. Beide Mengen sind unendlich, aber die Unendlichkeit der reellen Zahlen zwischen null und eins stellt sich als unvergleichlich viel größer heraus als die Unendlichkeit der natürlichen Zahlen.

      Hilberts Hotel kann uns ein Gefühl dafür geben, wie mächtig die mathematische Logik ist: Bei komplizierteren mathematischen Fragen passiert es leicht, dass sich unsere Intuition plötzlich grußlos verabschiedet und uns zitternd im Nebel stehen lässt. Das ist keine Schande, schließlich ging es sogar dem großen Georg Cantor anfangs so. Aber wenn man seine Gedanken gut sortiert und auf kluge Weise die richtigen Regeln anwendet, dann kann man auch Fragen mit überzeugender Klarheit beantworten, für die unser menschliches Gehirn eigentlich gar nicht gemacht ist.

       Ramanujans Bauchgefühl für Mathematik

      Wir können neue mathematische Wahrheiten finden, indem wir bereits bewiesene mathematische Sätze auf die richtige Weise ineinanderfügen wie perfekt geschliffene Zahnräder. Das bedeutet aber nicht, dass mathematische Forschung eine mechanische, maschinenhafte Arbeit ist wie das Zusammenschrauben eines Bücherregals nach einer präzise vorgegebenen Bauanleitung. Mathematische Gesetze sind leblos und unveränderlich – doch die mathematische Arbeit, sie zu entdecken, ist etwas zutiefst Kreatives und Lebendiges. Dafür braucht man Bauchgefühl und Intuition, einen Sinn für das Schöne und Klare, und manchmal vielleicht sogar ein kleines bisschen Verrücktheit.

      Eine gewisse mathematische Intuition hat jeder von uns – zumindest im Umgang mit einfachen Zahlen. Vielleicht können wir nicht spontan sagen, wie viel achtundvierzig mal dreihundertzwölf ist, aber die Antwort ist nicht vier komma drei. Da sind wir ziemlich sicher. Wer beim Berechnen des Fliesenbedarfs für die Badezimmersanierung zum Ergebnis kommt, dass er zwölf Quadratkilometer Badezimmerfliesen einkaufen muss, hat sich verrechnet. Unser mathematisches Bauchgefühl sagt uns sofort, dass hier irgendetwas nicht stimmt.

      Dass sich unser Bauchgefühl trainieren lässt, wissen wir: Wer viele Badezimmerflächeninhalte berechnet hat, kann das Ergebnis zuverlässiger einschätzen, als es ihm bei der ersten Berechnung dieser Art gelingt. Erstaunlich ist aber, dass manche Menschen sogar eine bauchgefühlte Intuition für mathematische Objekte entwickeln können, die mit unserer Alltagserfahrung überhaupt nichts zu tun haben.

      Und so passiert es oft, dass mathematisch gebildete Leute über Dinge reden, die sich kein Mensch vorstellen kann, und trotzdem ganz spontan eine intuitive Meinung dazu haben. Wie viele fünfdimensionale Kugeln kann man im fünfdimensionalen Raum so aneinanderpacken, dass sie alle die Kugel in der Mitte berühren? Wenn die letzte Stelle einer Primzahl eine Sieben ist, wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass bei der nächstgrößeren Primzahl wieder eine Sieben am Ende steht?

      Mit ausreichend mathematischer Erfahrung kann man spüren, wie die Antwort aussehen könnte, man hat eine spontane Vermutung, wie sich eine Antwort finden ließe, man fühlt Verbindungen zu anderen mathematischen Fragen, die schon gelöst sind. Aber das genügt natürlich nicht. Auch das beste mathematische Bauchgefühl wird erst zur anerkannten Mathematik, wenn man eine Antwort kennt, die exakt bewiesen ist. Vermutungen sind zu wenig. Aber sie sind ein wichtiger Ausgangspunkt auf der Suche nach neuen mathematischen Wahrheiten.

      So wie manchmal musikalische Wunderkinder geboren werden, die fast ohne Mühe ganz neue, atemberaubende Melodien aus dem Klavier hervorzaubern, gibt es ab und zu auch Menschen mit einer ganz besonderen Intuition für die Schönheiten der Mathematik. Einer von ihnen war Ramanujan, ein hochtalentierter Mann aus Südindien, mit der vielleicht seltsamsten Karriere, die ein Mathematiker jemals hatte.

      Ramanujan (mit vollem Namen Srinivasa Ramanujan Aiyangar) wurde 1887 geboren. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Während sich in Europa große Mathematiker den Kopf über Unendlichkeiten zerbrachen, blätterte der junge Ramanujan in Mathematikbüchern, die für sein Alter eigentlich viel zu schwierig waren. Ganz allein erkundete er komplizierte mathematische Gesetze und verblüffte seine Lehrer mit neuen Formeln.

      Für seine mathematischen Leistungen bekam er viel Lob und sogar ein Stipendium für ein angesehenes College. In anderen Fächern hingegen glänzte er nicht so sehr, daher verlor er sein Stipendium wieder und schaffte es auch nicht, an der Universität von Madras aufgenommen