Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Florian Aigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Aigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783710604874
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eher nicht herumgekleckert werden soll, und dann wird das Tischtuch erst recht in ein dunkelgrünes Schüttbild verwandelt.

      Wenn nun jemand stolz verkündet: „Das muss so sein, laut Newtons Gesetz gibt es zu jeder Kraft eine entgegengesetzte Gegenkraft!“, dann demonstriert er damit nicht seine naturwissenschaftliche Bildung, sondern er beweist, dass er von der Physik nichts verstanden hat. Natürlich hat das Trotzverhalten von Kindern nichts mit Newton’scher Mechanik zu tun. Vielleicht mag uns das eine an einem bestimmten Punkt an das andere erinnern, aber eine logische Verbindung dazwischen gibt es nicht.

      Analogieschlüsse fühlen sich in unserem Kopf wunderbar sinnvoll an, auch wenn sie überhaupt keine Beweiskraft haben. In der Esoterik verzichtet man oft überhaupt auf logische Argumente und gibt sich von vornherein mit Analogien zufrieden: In meinem Leben gibt es bessere und schlechtere Zeiten. Und am Himmel stehen die Planeten mal in diesem, mal in jenem Sternzeichen. Also muss beides miteinander zu tun haben. Mein Wasserkocher funktioniert nicht, wenn das Stromkabel kaputt ist. Mein Körper funktioniert momentan auch nicht richtig. Also müssen da auch irgendwelche Energieflüsse gestört worden sein. Die Quantenphysik ist etwas Verwirrendes. Und das menschliche Bewusstsein ist auch etwas Verwirrendes. Also lässt sich das menschliche Bewusstsein mit Quantenphysik erklären.

      Das alles sind nur Scheinargumente. Man lernt durch sie nichts Neues. Es ist, als würde man gefragt werden, wie eine elektrische Eisenbahn funktioniert, und einfach nur antworten: Im Atom drehen sich die Elektronen um den Atomkern, und in der Eisenbahn drehen sich die Räder. Deshalb fährt die Eisenbahn. Das ist keine Erklärung. Man könnte eine logische Brücke bauen, von den Elektronen, die sich durch einen Draht bewegen, über die mechanische Kraft, die dadurch im Elektromotor erzeugt wird, bis zum Drehmoment, das am Ende die Räder antreibt. Aber solange man eine solche logische Brücke nicht baut, sind Analogien wissenschaftlich wertlos.

      Das ist ein guter Grund, sich mit Mathematik zu beschäftigen: Mathematik zeigt uns, wie weit man kommen kann, wenn man mit präziser Logik vorgeht. Sie zwingt uns, Ordnung in unserem eigenen Kopf zu schaffen. Sie bringt uns bei, die Welt zu verstehen, als Verkettung logisch zwingender Zusammenhänge, als Geflecht von Grundannahmen und logischen Regeln, von Prämissen und Schlussfolgerungen.

      Wir beginnen mit ganz einfachen Gedanken, auf die wir uns alle einigen können. Und dann überlegen wir, welche anderen Ideen daraus folgen. Schritt für Schritt gelangen wir von einer Wahrheit zur nächsten. Jeder einzelne Schritt ist nachvollziehbar und einfach. Und wenn wir es richtig machen, stoßen wir dabei vielleicht auf großartige Ergebnisse, die wir mit reiner Intuition niemals erraten hätten.

       DIESER SATZ IST FALSCH

       Wie man mit logischen Argumenten Lebensträume zerstört, warum manche Aussagen weder wahr noch falsch sind und wie der größte Logiker der Welt ein höchst unlogisches Ende fand: Die Mathematik kann niemals alles beweisen, aber das muss sie auch nicht.

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      Der Barbier von Sevilla rasiert alle Männer der Stadt, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich also selbst oder nicht? Wenn nicht, dann gehört er zu den Männern, die sich nicht selbst rasieren, und sollte daher vom Barbier von Sevilla rasiert werden. Aber wenn er das tut, rasiert er sich ja selbst und ist deshalb gar nicht für den eigenen Bart zuständig. Was nun?

      Elegant auflösen lässt sich das Problem, wenn man annimmt, dass der Barbier von Sevilla eine Frau ist. Aber wie auch immer – diese berühmte Denkaufgabe zeigt uns, dass man in der mathematischen Logik manchmal auf Probleme stoßen kann: Wenn aus einem Satz sein Gegenteil folgt – was machen wir dann? So wunderschön und nützlich die Methode des axiomatischen, logischen Argumentierens auch ist: Wenn ein logischer Widerspruch auftritt, haben wir ein ernstes Problem.

      Widersprüche dieser Art sind nicht neu, man kannte sie schon in der Antike. „Alle Kreter sind Lügner!“, behauptete Epimenides. Das ist nicht besonders nett, aber logisch gesehen noch kein Problem – bis man erfährt, dass Epimenides selbst aus Kreta kommt. Wenn seine Aussage stimmt, muss er also auch selbst ein Lügner sein. Dann stimmt die Aussage aber nicht, und er spricht möglicherweise doch die Wahrheit, woraus aber wiederum folgen würde, dass er lügt. Egal, wie sehr man sich das Hirn verbiegt, man kommt auf kein sinnvolles Ergebnis.

      Wir sehen aber an diesen Beispielen bereits: Vorsichtig sein muss man immer dann, wenn eine Aussage etwas über sich selbst behauptet. Manchmal ist das völlig in Ordnung: „Dieser Satz besteht aus sechs Wörtern“ ist wahr. „Dieser Satz beginnt mit dem Buchstaben A“ ist falsch. Beides ist aus logischer Sicht kein Problem. Aber „Dieser Satz ist falsch“ ist eine Aussage, der wir keinen Wahrheitswert zuordnen können – weder wahr noch falsch. Könnte es passieren, dass solche merkwürdigen falschwahren Aussagen auch in der Mathematik auftreten? Und ist das vielleicht eine Gefahr für die Zuverlässigkeit der Mathematik?

       Bertrand Russell und die Zerstörung eines Lebenswerks

      Im Jahr 1902 lebte Gottlob Frege als Honorarprofessor in Jena und vollendete gerade den zweiten Band seines großen Werks Grundgesetze der Arithmetik. Frege beschäftigte sich mit der Mengenlehre, mit der Georg Cantor zuvor versucht hatte, die seltsamen Rätsel um die Unendlichkeit zu lösen. Er hatte eine neue formale Sprache für die Mengenlehre entwickelt, ein System aus Symbolen und Regeln, mit denen man rechnen und Schlüsse ziehen konnte – allerdings nicht, um Zahlen auszurechnen, wie man das sonst oft macht, sondern um logische Aussagen zu beweisen.

      Mengen, wie sie in Freges Werk vorkamen, gehören zu den allgemeinsten und vielseitigsten mathematischen Ideen, die man sich überhaupt ausdenken kann. Eine Menge ist einfach eine Zusammenfassung von Objekten – zum Beispiel die Menge von Gottlob Freges Nasenlöchern, eine Menge mit genau zwei Elementen. Eine Menge kann auch unendlich viele Elemente enthalten, etwa die Menge der ungeraden Zahlen. Es kann auch sein, dass sie überhaupt kein Element enthält, wie die Menge der Nasenlöcher in Gottlob Freges Ohr, dann spricht man von der leeren Menge.

      Natürlich können die Elemente einer Menge auch andere Mengen sein, zum Beispiel wenn man die Menge aller Mengen bildet, die man aus den Zahlen eins bis zehn bilden kann. Das sieht vielleicht auf den ersten Blick noch nicht besonders nützlich aus, ist aber ein mächtiges Konzept, um die Grundbausteine der Mathematik genau zu beschreiben.

      Während Frege in Jena über die Gesetze der Mengenlehre nachdachte, forschte in England der junge Philosoph Bertrand Russell an ganz ähnlichen Fragen. Und er stieß auf ein merkwürdiges Problem: Was passiert, wenn wir die Menge all jener Mengen bilden, die sich nicht selbst enthalten? Enthält sich diese Menge selbst oder nicht? Genau dann, wenn sie sich selbst enthält, dürfte sie sich eigentlich nicht selbst enthalten – und umgekehrt. Das führt genauso zu einem Widerspruch wie das Lügner-Paradoxon des Epimenides oder die Geschichte vom Barbier von Sevilla. Bertrand Russell schrieb einen Brief an Gottlob Frege und erklärte ihm das Problem.

      Frege war tief getroffen: Dieser junge Engländer hatte recht! Seine Grundgesetze der Arithmetik befanden sich bereits im Druck, und nun schickte ein junger Mann aus Cambridge einen Brief, der sein über Jahre hinweg aufgebautes Gedankengebäude mit einer einzigen Frage zum Einsturz brachte. Wenn Freges Mengenlehre solche inneren Widersprüche zuließ, dann war sie offenbar doch nicht das logisch perfekte Fundament der Mathematik, von dem er geträumt hatte.

      Frege ließ sein Buch noch mit einer Ergänzung versehen: „Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.“ Frustriert wandte sich Frege schließlich von seinem großen Projekt ab.

      Doch andere Mathematiker wollten unbedingt weitermachen. Bertrand Russell wurde selbst zu einem der führenden Forscher im Bereich der mathematischen Logik. Aufbauend auf Freges Ideen versuchte er, die fundamentalen