Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Florian Aigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Aigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783710604874
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nicht auf, seine Notizbücher mit immer neuen Formeln vollzuschreiben.

      Eines Tages stieg Ramanujan in den Zug und machte sich auf den Weg in die Bezirkshauptstadt. In der Hoffnung, dort eine Arbeitsstelle zu bekommen, traf er den Finanzbeamten Ramaswami Iyer. Ramaswami Iyer interessierte sich sehr für Mathematik und hatte selbst kurz vorher die Indian Mathematical Society gegründet. Ihm legte Ramanujan nun seine mathematischen Notizbücher vor, und Ramaswami Iyer war beeindruckt. Eine Anstellung wollte er dem jungen Ramanujan allerdings nicht verschaffen: „Mir kam es nicht in den Sinn, sein Talent durch eine Anstellung auf der untersten Sprosse der Finanzabteilung zu unterdrücken“, schrieb Ramaswami Iyer später. Stattdessen schickte er ihn mit Empfehlungsschreiben weiter zu einflussreicheren Leuten.

      Eigentlich strebte Ramanujan ein größeres Ziel an: Er wollte seine Formeln den berühmtesten Mathematikern seiner Zeit präsentieren und sie in wissenschaftlichen Journalen veröffentlichen. Und so schickte er Briefe an Professoren in London und Cambridge. Seite für Seite listete er einige seiner schönsten Resultate auf: unendliche Summen, komplizierte Integrale mit merkwürdigen Lösungen, sperrige Formeln mit einer seltsamen inneren Symmetrie. Einer dieser Briefe ging an Godfrey Harold Hardy, einen berühmten Mathematiker am Trinity College der Universität Cambridge. Hardy war verblüfft: Nur ein Mathematiker allerhöchsten Ranges konnte das geschrieben haben, das wurde ihm rasch klar. Und gerade weil die Formeln so merkwürdig erschienen, war er überzeugt, dass sie stimmten: Wären sie nicht richtig, hätte niemand die Fantasie besessen, sie zu erfinden.

      Es gab nur ein großes Problem an den wundersamen Formeln: Ramanujan hatte keine Beweise geliefert, er hatte nur die Endergebnisse aufgeschrieben. Er dachte über mathematische Gleichungen nach, wie ein Komponist schöne neue Melodien erfindet: Sie flogen ihm ganz einfach zu. Ihm kam es auf die Resultate an, der Weg dorthin erschien ihm unwichtig. Doch in der Mathematik will man sich nicht bloß an einer hübschen Formel erfreuen, man braucht einen unanfechtbaren Beweis, einen klaren Weg, der Schritt für Schritt von bereits bekannten Tatsachen zu den neuen Ergebnissen führt.

      Auch wenn Godfrey Harold Hardy in Cambridge Ramanujans Resultate spannend und aufregend fand, für sich allein genommen waren sie ähnlich unbefriedigend wie eine Schatzkarte, auf der bloß steht: „Zwölf Schritte südwestlich von der größten Palme ist eine Kiste voller Gold vergraben.“ Das mag verheißungsvoll klingen – aber solange man nicht Schritt für Schritt erklären kann, wie man von bereits bekanntem Gelände zu dieser Palme gelangt, ist die Schatzkarte ziemlich nutzlos.

      Hardy beschloss, Ramanujan nach Cambridge einzuladen. 1914 machte sich der junge Inder auf den Weg nach England, mit seinen Notizbüchern im Gepäck. Wie sich herausstellte, waren manche von Ramanujans Formeln falsch, andere waren zwar richtig, aber bereits bekannt – es handelte sich teilweise um Ergebnisse, die große Mathematiker wie Leonhard Euler oder Carl Friedrich Gauß bereits veröffentlicht hatten. Aber bei vielen Formeln handelte es sich tatsächlich um bemerkenswerte neue Wahrheiten.

      Für Hardy und andere Mathematiker in Cambridge bestand kein Zweifel, dass sie es mit einem Talent zu tun hatten, wie es in der Geschichte der Mathematik noch nicht oft vorgekommen war. Aber um aus Ramanujans Intuition echte mathematische Forschung werden zu lassen, mussten sie ihm die strengen Regeln mathematischer Beweisführung beibringen. Für Ramanujan war es schwierig, seine Gedankensprünge zu zügeln und in geordneter Form aufs Papier zu bringen. Jede ganze Zahl war für ihn wie ein persönlicher Freund, sagte man in Cambridge.

      Hardy erzählte später, dass er eines Tages mit einem Taxi zu einem Treffen mit Ramanujan gefahren war. Er hatte über die Nummer des Taxis nachgegrübelt: 1729. Leider eine sehr langweilige, nichtssagende Zahl, fand Hardy. Doch Ramanujan widersprach: „Es ist eine sehr interessante Zahl! Es ist die kleinste Zahl, die man auf zwei verschiedene Weisen als Summe zweier Kubikzahlen ausdrücken kann.“ Tatsächlich ist 1792 sowohl die Summe aus 13 und 123 als auch das Ergebnis von 93 + 103. Nachprüfen konnte man das leicht. Aber nur einem Genie wie Ramanujan fliegen solche Gedanken scheinbar ohne jede Mühe zu.

      Unter Hardys Anleitung gelang es Ramanujan im Lauf der Zeit, eine Reihe wichtiger Ideen in eine mathematisch klare Form zu bringen, die auch für andere Leute verständlich war. Sein Traum, seine Resultate in wissenschaftlichen Journalen zu publizieren, erfüllte sich. Akademische Ehrungen folgten: Ramanujan wurde zum Fellow der Cambridge Philosophical Society ernannt, er wurde Fellow der Royal Society und Fellow des Trinity College.

      Trotzdem fühlte sich Ramanujan in England nicht wohl und hatte auch mit schweren gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Im Alter von zweiunddreißig Jahren – Ramanujan war in Mathematikerkreisen inzwischen berühmt und hochangesehen – reiste er nach Indien zurück und starb dort wenig später an Tuberkulose.

      Niemand weiß, welche großen Entdeckungen er noch gemacht hätte, wenn ihm noch ein paar Jahrzehnte Zeit geblieben wäre. Genauso wenig lässt sich sagen, wie er sich entwickelt hätte, wenn er von früher Jugend an in strengen mathematischen Formalismen trainiert worden wäre, anstatt unbekümmert mit ausgeliehenen Mathematikbüchern herumzuträumen. Vielleicht wäre dann ein noch viel größerer Mathematiker aus ihm geworden – vielleicht hätte klassischer Mathematikunterricht aber auch nur einen braven, langweiligen Gleichungslöser aus ihm gemacht, der es niemals geschafft hätte, mit unbeschwerter Kreativität mathematische Wahrheiten zu erraten.

      Fest steht, dass bauchgefühlte Intuition und präzises Argumentieren einander nicht ausschließen – das zeigt Ramanujans Beispiel ganz deutlich. Woher der kreative Funke kommt, der eine neue Idee in bunten Farben explodieren lässt, ist gar nicht entscheidend. Manchmal blitzt ein genialer wissenschaftlicher Gedanke ganz plötzlich auf wie eine Sternschnuppe, manchmal muss die wissenschaftliche Kreativität erzwungen werden, mit knochenharter Arbeit und viel sinnlos vollgekritzeltem Papier.

      Aber in jedem Fall muss man es schaffen, die eigenen kreativen Gedanken für andere Leute nachvollziehbar werden zu lassen. Etwas selbst als wahr zu erkennen, ist noch keine Wissenschaft. Schließlich könnte es sein, dass jemand anderer mit ähnlich kreativen Ideen das Gegenteil für richtig hält. Die Arbeit ist erst dann erledigt, wenn man sie so klar formuliert hat, dass jeder Widerspruch zwecklos geworden ist.

       Die Kunst des logischen Denkens

      Diese Art zu denken fällt uns meistens schwer. Im Alltag legen wir normalerweise keinen Wert darauf, unsere Gedanken in logische Ketten zu ordnen, in denen jede Aussage zwingend aus der vorangegangenen folgt. Viel häufiger denken wir in Analogien: Wir gehen davon aus, dass in ähnlichen Situationen ähnliche Gesetze gelten. Eine Kerzenflamme kann man mit Wasser löschen. Daher kann ich vermutlich auch ein Lagerfeuer mit Wasser löschen. Eine Kartoffel wird weich, wenn ich sie in Wasser koche. Daher kann ich vermutlich auch eine Rübe in Wasser weichkochen. Wenn mir jemand meine Schokolade wegnimmt, werde ich ungemütlich. Daher verstehe ich, dass mich der Hund böse anknurrt, wenn ich ihm seine Wurst weggenommen habe.

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      Analogien sind auch in der Wissenschaft oft nützlich. Sie helfen uns, in unserem Kopf Bilder entstehen zu lassen: Im Atom kreisen Elektronen um den Atomkern, ähnlich wie Planeten um die Sonne. Das können wir uns einigermaßen vorstellen. Eine logische Erklärung oder gar ein Beweis ist es aber nicht. Den Elektronen sind die Planeten völlig egal. Sie bewegen sich nicht deswegen so, weil sie von den Planeten dazu gezwungen wurden.

      Besonders heikel sind Analogieschlüsse, die einen wissenschaftlichen Gedanken in ein ganz anderes Teilgebiet der Wissenschaft verpflanzen. In der klassischen Physik gilt Newtons Gesetz vom Gleichgewicht der Kräfte: Jede Kraft hat eine gleich große, aber entgegengerichtete Gegenkraft. Die Sonne zieht durch ihre Schwerkraft die Erde zu sich, die Erde zieht mit derselben Kraft die Sonne in die andere Richtung. Wenn ein Buch auf dem Tisch liegt, drückt es nach unten auf die Tischplatte, die Tischplatte drückt mit derselben Kraft von unten gegen das Buch.

      Daran fühlt man sich vielleicht erinnert, wenn man kleinen Kindern etwas vorschreiben möchte und sie dann aus purem Trotz ihre Kräfte genau in die entgegengesetzte Richtung lenken. Man möchte sie