Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Florian Aigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Aigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783710604874
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Raubtieren, sondern vor abstrakten negativen Zahlen auf unserem Bankkonto. Wir forschen nicht mehr an den besten Methoden, ein Feuer zu entfachen, sondern an den kleinsten Bausteinen der Materie, an den molekularbiologischen Eigenschaften unseres Körpers und an den größten Strukturen des Kosmos.

      Wir stellen heute Fragen, auf die unsere Vorfahren nicht in ihren verrücktesten Träumen gekommen wären. Unsere Gene, unsere angeborenen Fähigkeiten und unser Bauchgefühl wurden aber an die Welt unserer prähistorischen Vorfahren angepasst. Wir haben gerade erst ein paar Jahrtausende Kulturgeschichte hinter uns – auf einer evolutionsbiologischen Zeitskala ist das lächerlich wenig. Wir dürfen uns daher nicht wundern, dass unser Bauchgefühl für eine atemberaubend komplexe Welt, die wir uns mithilfe von Kultur, Technik und Wissenschaft gestaltet haben, nicht mehr ausreicht.

      Das ist nicht schlimm. Wir Menschen finden immer wieder Strategien, über unsere natürlich angeborenen Möglichkeiten hinauszuwachsen. Wir können mit bloßen Händen keine Armbanduhr reparieren, wir können nicht einfach mit dem ausgestreckten Zeigefinger eine Knieoperation durchführen, und durch Hautkontakt auszuprobieren, ob ein Stück Draht an den Stromkreis angeschlossen wurde, ist auch keine gute Idee. Deshalb haben wir für solche Aufgaben nützliche Werkzeuge entwickelt.

      Dasselbe gilt für unser Bauchgefühl. Es ist völlig ungeeignet, um die Wirksamkeit eines Medikaments zu beurteilen. Dafür gibt es andere Methoden, zum Beispiel klinische Studien. Das Bauchgefühl hilft uns nicht, die Geheimnisse des Universums zu verstehen, dafür brauchen wir Teleskope und mathematische Formeln. Ob es am Nachmittag regnen wird, können wir manchmal vielleicht intuitiv vorhersagen. Aber meteorologische Simulationsrechnungen haben trotzdem eine höhere Trefferquote.

      In vielen Situationen brauchen wir ein höheres Maß an Zuverlässigkeit, als das Bauchgefühl uns bieten kann. Und genau dafür haben wir die Wissenschaft entwickelt. So wie die Arbeit unserer Finger präziser wird, wenn wir Pinzetten verwenden, wird unsere geistige Arbeit präziser, wenn wir uns die Wissenschaft zunutze machen.

       Wie Einstein Raum und Zeit verbog

      Manchmal bringt uns die Wissenschaft sogar auf Gedanken, die unserem Bauchgefühl ziemlich heftig widersprechen. Ein besonders schönes Beispiel dafür ist Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie.

      Einstein beschäftigte sich mit einem der ältesten physikalischen Rätsel überhaupt – mit der Schwerkraft. Eigentlich haben wir dafür ein ziemlich gutes Bauchgefühl entwickelt: Wenn ich einen Kirschkern aus dem Fenster spucke, dann fliegt er in parabelförmigem Bogen durch die Luft und bewegt sich am Ende mit großer Zuverlässigkeit nach unten, Richtung Erdmittelpunkt. Und wer unten davon getroffen wird, weiß sofort ganz intuitiv: Dieses Ding muss von oben gekommen sein.

      Einsteins Gedanken über die Schwerkraft waren allerdings deutlich komplizierter. Er arbeitete an einer völlig neuen Theorie von Raum und Zeit. Im Jahr 1905 hatte er bereits gezeigt, dass Raum und Zeit zusammengehören. Man kann sie streng genommen gar nicht getrennt voneinander betrachten, sie bilden gemeinsam eine vierdimensionale Raumzeit. Schon dieser Gedanke ist etwas, womit unser Bauchgefühl niemals zurechtkommt: Für uns sind Raum und Zeit zwei völlig unterschiedliche Dinge. Aber Einsteins Ideen wurden noch viel seltsamer: Diese Raumzeit ist nämlich noch dazu verbogen. Ein fliegender Kirschkern weit draußen im leeren Weltraum bewegt sich entlang einer geraden Linie. Aber hier auf der Erde, wo die Masse des gesamten Planeten Raum und Zeit verbiegt, muss der Kirschkern einer gekrümmten Bahn folgen.

      Anschaulich vorstellen kann man sich eine solche „verbogene Raumzeit“ leider nicht. Niemand kann das. Auch Albert Einstein selbst konnte das nicht. Unser menschlicher Verstand ist für die Relativitätstheorie nicht geschaffen. Aber das macht nichts, denn die Relativitätstheorie ist in der Sprache der Mathematik geschrieben, und mathematischen Regeln kann man auch gehorchen, ohne sich darunter etwas vorstellen zu können.

      Allerdings ist die Mathematik, die man zum Bezwingen der allgemeinen Relativitätstheorie benötigt, schrecklich kompliziert. Jahrelang quälte sich Albert Einstein damit herum, oft genug hatte ihn seine Arbeit an den Rand der Verzweiflung getrieben, weil er die entscheidende Formel für die Gravitation und die Krümmung der Raumzeit nicht finden konnte. Doch im Lauf der Zeit verstand Einstein immer besser, welche Eigenschaften eine solche Formel haben muss – und im Herbst 1915 hatte er das Gefühl, ganz knapp vor dem Durchbruch zu stehen.

      In diesen Tagen arbeitete aber nicht nur Albert Einstein angestrengt daran, das große Rätsel der Relativitätstheorie zu lösen. David Hilbert, damals der berühmteste Mathematiker der Welt, beschäftigte sich zur gleichen Zeit mit genau demselben Problem. Im Sommer 1915 war Einstein zu Hilbert nach Göttingen gefahren, um vom aktuellen Stand der Forschung zu berichten. Beide Wissenschaftler waren beeindruckt von den Ideen des jeweils anderen. Einstein wurde klar, dass er sich wohl beeilen müsse, um seine allgemeine Relativitätstheorie präsentieren zu können, bevor es Hilbert gelang.

      Um seine Ideen gründlich durchzudenken, fehlte Einstein die Zeit. Im November veröffentlichte er eine erste Version seiner Theorie, doch sie enthielt noch entscheidende Fehler. Hilbert lud Einstein ein, noch einmal zu ihm nach Göttingen zu kommen, er hätte gerne seine eigenen Gedanken dazu präsentiert – doch Einstein lehnte ab. Er habe Magenschmerzen, behauptete er, und blieb zu Hause in Berlin. In Wirklichkeit arbeitete er fieberhaft weiter an seinen Formeln.

       Die Antwort ist – dreiundvierzig

      Und plötzlich war es so weit. Eines Tages war es da, das Ergebnis, nach dem Einstein so lange gesucht hatte: dreiundvierzig. Um dreiundvierzig Bogensekunden verschiebt sich die Bahn des Merkurs pro Jahrhundert. Der Planet bewegt sich entlang einer Ellipse um die Sonne, aber die lange Achse dieser Ellipse wandert langsam um die Sonne herum, wie ein träger kosmischer Uhrzeiger – ein merkwürdiger Effekt, den Astronomen zwar schon lange beobachtet hatten, den aber bisher niemand erklären konnte. Mit Einsteins neuen Formeln ließ sich diese seltsame Unregelmäßigkeit der Merkurbahn zum ersten Mal berechnen. Und sein Ergebnis stimmte mit den Beobachtungen bestens überein.

      Am 25. November 1915 veröffentlichte Albert Einstein die entscheidenden Formeln der allgemeinen Relativitätstheorie, die heute als „Einstein’sche Feldgleichungen“ weltberühmt sind. David Hilbert kam wenig später auf dasselbe Ergebnis – doch Einstein war schneller gewesen.

      War Einsteins verrückte, bauchgefühlzerrüttende neue Theorie bewiesen, bestätigt und allgemein anerkannt? Natürlich nicht. Wer so haarsträubende Thesen aufstellt wie die von der gravitationsverbogenen vierdimensionalen Raumzeit, muss überzeugende Beweise vorlegen. Die Verschiebung der Merkurbahn zu berechnen ist ein Erfolg, genügt aber nicht.

      Bald gab es aber eine interessante Möglichkeit, die Relativitätstheorie zu testen: Wenn wir einen Stern am Himmel sehen, dann bewegt sich sein Licht auf schnurgerader Bahn zu uns, bis es in unser Auge gelangt. Doch wenn sich knapp neben dieser geraden Linie etwas Großes, Schweres befindet, zum Beispiel unsere Sonne, dann sieht die Sache anders aus. Wenn die allgemeine Relativitätstheorie stimmt, dann wird durch die Sonne der Raum gekrümmt und der Lichtstrahl ein kleines bisschen verbogen. Das bedeutet, dass sich ein Stern, den wir am Himmel knapp neben der Sonne sehen, in Wirklichkeit in einer geringfügig anderen Richtung befindet, als es für uns den Anschein hat. Sternenkonstellationen, die sich knapp neben der Sonne befinden, sollten daher ein bisschen verbogen aussehen, verglichen mit dem unverbogenen Bild, das wir in der Nacht sehen können.

      Das ist zwar eine schöne, einleuchtende, klare Vorhersage, aber es ist ziemlich schwierig, sie im Experiment präzise zu überprüfen. Tagsüber sind die Sterne kaum zu sehen. Die exakte Position von Sternen zu vermessen, die sich knapp neben der Sonnenscheibe befinden, ist genauso hoffnungslos, wie das schüchterne Fiepen einer Maus zu hören, während der Lärm eines Presslufthammers alles übertönt.

      Doch durch einen erstaunlichen, glücklichen Umstand ließ sich dieses Problem lösen: Zufällig leben wir nämlich auf einem der ganz wenigen Planeten, auf dem eine totale Sonnenfinsternis möglich ist. Der Mond hat aus purem Zufall exakt die richtige Größe, um die Sonne vollständig zu verdecken, den Blick auf