Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Florian Aigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Aigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783710604874
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in der Mathematik übrig bleiben. Alles sollte auf Basis unbestreitbarer Logik begründet werden. Gemeinsam mit seinem Kollegen Alfred North Whitehead veröffentlichte er die Principia Mathematica, ein dreibändiges Werk über die Grundlagen der Mathematik.

      Ein Beweis aus den Principia Mathematica wurde besonders bekannt: Nach seitenlangem Hantieren mit logischen Symbolen und Gleichungen gelangen die beiden Autoren schließlich zum Ergebnis 1+1=2. Das hatten wir auch vorher schon stark vermutet, aber seit Russell und Whitehead wissen wir auch, dass es garantiert nicht anders sein kann. Allerdings braucht man ein gewisses Durchhaltevermögen, um diese Erkenntnis in ihrer vollen Tragweite zu verstehen. Wer die Principia Mathematica in der Originalausgabe von 1910 studiert, muss sich bis zur Seite 379 durchkämpfen, um bis zum Ende dieses Beweises zu gelangen.

      Hat sich diese Mühe wirklich gelohnt? Wäre es vielleicht klüger gewesen, die lästige Mengenlehre, die Gottlob Frege in die Verzweiflung getrieben hatte, einfach fallen zu lassen? Für David Hilbert, der inzwischen so etwas wie eine Vaterfigur der internationalen Mathematik geworden war, kam das nicht in Frage. Trotz aller Probleme fühlte er sich in Cantors Mengenlehre nach wie vor recht wohl: „Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können“, war Hilbert überzeugt. Wichtiger als je zuvor erschien es ihm nun, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik sauber zu beweisen.

      Dieses Ziel, das er schon 1900 in Paris zu den wichtigsten Aufgaben der Mathematik gezählt hatte, erklärte David Hilbert in den 1920er-Jahren überhaupt zum zentralen Projekt der Mathematik. Als „Hilbertprogramm“ ging diese große Aufgabe in die Geschichte ein: Die Mathematik sollte als großes formales Gesamtsystem neu definiert werden, und dieses strenge System sollte zwei wichtige Eigenschaften miteinander verbinden: Erstens soll es widerspruchsfrei sein und zweitens vollständig.

      Die Widerspruchsfreiheit ist die Eigenschaft, die Hilbert schon im Jahr 1900 gefordert hatte: Wenn eine Aussage wahr ist, darf keine andere Aussage wahr sein, die ihr widerspricht. Wenn zwei Leute dieselbe mathematische Aufgabe lösen und beide keinen Fehler machen, dürfen sie nicht zu zwei unterschiedlichen, widersprüchlichen Ergebnissen kommen.

      Eine zweite große Forderung kam im Hilbertprogramm noch hinzu, und sie ist ebenso wichtig: Es sollte bewiesen werden, dass die Mathematik vollständig ist – das bedeutet, dass sich jeder wahre Satz beweisen lässt und dass man von jedem falschen Satz beweisen kann, dass er falsch ist. So ähnlich wie man zum Kirschenpflücken auf einem hohen Baum eine ausreichend lange Leiter haben möchte, mit der man garantiert jeden Ast, jeden Zweig und jede Kirsche des Baums erreichen kann, möchte man Grundregeln der Mathematik haben, mit denen man garantiert jede mathematische Wahrheit erreichen kann – und zwar durch einen logischen Beweis, der auf den Grundaxiomen beruht. Am allerschönsten wäre es, jeden beliebigen mathematischen Satz in eine Maschine stecken zu können, die dann nach klar definierten, logischen Regeln berechnet, ob dieser Satz wahr oder falsch ist.

       Kurt Gödel und die Zerstörung des Hilbertprogramms

      Es war eine Zeit hoffnungsvoller Aufbruchsstimmung und enthusiastischer Visionen: „Wir müssen wissen – wir werden wissen!“ war Hilberts Parole, die dann später sogar auf seinem Grabstein eingraviert werden sollte. Die Mathematik hatte begonnen, nicht nur Objekte wie Formeln oder Zahlen mit logischen Methoden zu untersuchen, sondern auch sich selbst. Mit den Methoden der Mathematik wollte man ergründen, was sich mit den Methoden der Mathematik alles ergründen lässt. Man begann dadurch viel klarer zu sehen, auf welche Weise wichtige mathematische Grundgedanken miteinander verwoben sind und was Beweisen eigentlich bedeutet. Es war das goldene Zeitalter der Logik.

      Doch mitten in dieser Phase des Erfolgs, gerade als man dachte, dem großen Ziel Schritt für Schritt immer näher zu kommen, änderte sich plötzlich alles. Der Traum des berühmten David Hilbert zerplatzte im Jahr 1931. Überraschend, abrupt und unwiderruflich war das Hilbertprogramm gescheitert. Und schuld daran war ein merkwürdiger schrulliger junger Mann aus Wien mit dem Namen Kurt Gödel.

      Kurt Gödel war vielleicht eines der größten Genies des zwanzigsten Jahrhunderts, aber ein einfaches Leben hatte er nicht. Er wurde 1906 in Brünn geboren. Schon als Kind plagten ihn Ängste, er bildete sich ein, einen Herzfehler zu haben, der medizinisch aber nie nachgewiesen wurde. In der Schule beschäftigte er sich früh mit komplizierten Themen, er las Goethe, Kant und Newton und grübelte über mathematische Literatur nach, die eigentlich für die Universität gedacht war. An der Universität Wien begann er dann theoretische Physik zu studieren, doch bald erkannte er, dass er sich in der Mathematik eher zu Hause fühlte.

      In Wien wurde damals viel über Logik diskutiert: Viele große Naturwissenschaftler und Philosophen waren damals fasziniert davon, wie man mit mathematischer Präzision, mit einfachen Axiomen und klaren Regeln zu unbezweifelbaren Wahrheiten gelangen kann. Man diskutierte über Gottlob Frege, Bertrand Russell, David Hilbert und viele andere.

      Es ist nicht überraschend, dass Kurt Gödel in diesem Umfeld beschloss, Hilberts Forderung nach einer vollständigen, widerspruchsfreien Mathematik zu untersuchen. Doch dabei stieß er auf ein Ergebnis, das für das Hilbertprogramm vernichtende Konsequenzen hatte: Gödel konnte beweisen, dass Hilberts großer Traum prinzipiell unmöglich war. Jedes mathematische System, das zumindest mächtig genug ist, um eine Theorie der natürlichen Zahlen zu liefern, erlaubt zwangsläufig Aussagen, die zwar wahr sind, sich aber aus den Axiomen niemals beweisen lassen. Eine Mathematik, in der sich vollständig alle wahren Aussagen Schritt für Schritt aus einer kleinen, überschaubaren Zahl wahrer Grundannahmen ableiten lassen, kann es niemals geben.

      Das klingt zunächst so abstrakt, dass man sich darüber wundert, wie so etwas überhaupt bewiesen werden kann. Wir haben in der Schule gelernt, wie sich bestimmte mathematische Gesetze beweisen lassen – der Satz des Pythagoras etwa. Aber wie beweist man die Unvollständigkeit der mathematischen Beweisführung? Oder die Unbeweisbarkeit einer bestimmten Behauptung? Kurt Gödel gelang das mithilfe einer genialen Idee: Er fand einen Weg, wie man nicht nur mit Zahlen oder Variablen, sondern mit mathematischen Sätzen rechnen kann.

      In der Logik hat man es oft mit Aussagen zu tun, die uns etwas über Zahlen verraten – zum Beispiel: „Für alle beliebigen natürlichen Zahlen x und y ist x plus y dasselbe wie y plus x.“ So ein Satz lässt sich in der formalen Sprache der Logik in einer einfachen Formel aufschreiben. Gödel erkannte, dass man solche Aussagen über Zahlen ihrerseits wieder in eine Zahl verwandeln kann. Man muss nur einen passenden Weg finden, den einzelnen Symbolen, die man in der Logik verwendet, Zahlen zuzuweisen und sie dann auf sinnvolle Weise zu einer großen Zahl zusammenzufügen.

      Das ist nichts besonders Geheimnisvolles. Im digitalen Zeitalter sind wir es gewohnt, dass sich fast beliebige Inhalte als Zahl codieren lassen. Auch unsere Urlaubsfotos sind am Computer als lange Zahl abgespeichert, genau wie unsere Lieblingsmusik. Und auf ähnliche Weise lässt sich jeder mathematischen Aussage eine Zahl zuweisen – die sogenannte „Gödel-Zahl“.

      Wenn man eine passende Codierung festgelegt hat, kann man also manche Zahlen als mathematischen Satz lesen. Bestimmte unvorstellbar große Zahlen sind sogar die Gödel-Zahl für einen langen mathematischen Beweis.

      Wenn sich aber nun Zahlen und mathematische Sätze direkt ineinander übersetzen lassen, dann kann man in der Sprache der Mathematik über Mathematik reden. Man kann mathematische Sätze formulieren, die nicht nur Aussagen über Zahlen treffen, sondern auch Aussagen über mathematische Sätze – etwa: „n ist nicht die Gödel-Zahl eines Beweises des Satzes S.“ Und auch diese Aussage lässt sich ihrerseits wieder als Gödel-Zahl aufschreiben.

      Wenn uns nun aber mathematische Sätze etwas über mathematische Sätze erzählen können, dann entsteht auch hier wieder die Gefahr innerer Widersprüche – so ähnlich wie bei Epimenides, dem Kreter, der behauptet, dass alle Kreter lügen. Kurt Gödel gelang es, eine Aussage zu konstruieren, die besagt: „Keine Zahl ist die Gödel-Zahl eines Beweises dieser Aussage.“ Die Aussage behauptet also von sich selbst: „Ich bin nicht beweisbar.“

      Diese Aussage muss entweder wahr oder falsch sein. Wenn die Aussage „Ich bin nicht beweisbar“ falsch wäre, dann würde das bedeuten, dass sie doch beweisbar