Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Florian Aigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Aigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783710604874
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Sorte von Zahlen – die negativen Zahlen. Aus ganzen Zahlen kann man Brüche bilden – die rationalen Zahlen. Das gesamte Gedankengebäude der Mathematik ist auf Basis der natürlichen Zahlen aufgebaut. Oder umgekehrt betrachtet: Die gesamte Mathematik lässt sich, wenn man ausreichend oft „Warum?“ fragt, am Ende auf die natürlichen Zahlen zurückführen, so wie man von jedem winzigen Zweig eines großen Baumes Schritt für Schritt zum Stamm gelangen kann.

      Auf den ersten Blick kann man das für wissenschaftliche Liebhaberei halten, für ein hübsches, aber relativ nutzloses Spiel. Wenn wir an unserer Steuererklärung herumrechnen oder wenn wir herausfinden möchten, wie viele Fliesen wir für die Badezimmersanierung kaufen müssen, dann brauchen wir keine Axiome. Wenn wir auf dem Konto ein Minus vorfinden, ist uns ziemlich egal, wie diese seltsame negative Zahl zu Peanos Regeln passt. In all diesen Fällen befinden wir uns in dem Bereich der Mathematik, für den die meisten Leute ein ziemlich gutes Bauchgefühl haben. Und in solchen Situationen kommen wir auch ohne die logische Strenge eines klar definierten Axiomensystems zurecht.

      Es gibt aber auch komplizierte Gebiete der Mathematik, in denen wir uns mit logischen Rechenregeln gewissenhaft von einer Wahrheit zur nächsten weiterarbeiten müssen, um von einer Wahrheit zur nächsten zu gelangen. Es ist so ähnlich wie beim Klettern im Gebirge: So lange die Sonne scheint, kann man ziemlich frei und unbekümmert mit Blick zum Gipfel einen Schritt nach dem anderen machen. Wenn wir uns aber in Gebiete wagen, wo uns der Nebel die freie Sicht verdeckt, dann wird es gefährlich. Dann müssen wir uns an etwas Zuverlässigem festhalten. Glück haben wir, wenn es eine Leiter gibt, die uns nach oben führt. Die Regeln einer Leiter sind einfach und klar: Wenn man die unterste Sprosse findet und weiß, wie man von einer Sprosse zur nächsten gelangt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis man ans Ziel kommt.

      Leute wie Peano zeigten: Die mathematische Logik dient nicht nur dazu, Zahlen auszurechnen und neue mathematische Wahrheiten zu finden, wir können sie auch verwenden, um die Regeln unseres Denkens genauer unter die Lupe zu nehmen. Dadurch ergaben sich für die Mathematik spannende neue Aufgaben.

       Der Ärger mit der Unendlichkeit

      In dieser Aufbruchsstimmung fand im Jahr 1900 der internationale Mathematiker-Kongress in Paris statt. Aus Göttingen, damals wohl gerade die Welthauptstadt der Mathematik, reiste der junge Professor David Hilbert an. Mit seinen achtunddreißig Jahren galt er bereits als einer der ganz Großen seines Fachs. Man erwartete von ihm eigentlich einen Rückblick, eine Zusammenfassung großer mathematischer Erfolge der Vergangenheit. Doch stattdessen beschloss Hilbert nach vorne zu schauen und dem Publikum eine Liste großer, ungelöster mathematischer Aufgaben zu präsentieren, die im neuen Jahrhundert gelöst werden sollten. Es war die größte Verteilung von Mathematik-Hausaufgaben der Wissenschaftsgeschichte.

      Als die „Hilbert’schen Probleme“ ging diese Aufgabensammlung in die Geschichte ein. Und die Nummer zwei auf dieser Liste sollte die Welt der Mathematik dauerhaft verändern. Es war eine Frage, in der es um die Axiome der Mathematik ging: Lässt sich mathematisch beweisen, dass Peanos Axiome (oder ähnliche andere Konzepte) in sich widerspruchsfrei sind?

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      Das ist vielleicht die wichtigste Forderung, die man an die Mathematik stellen kann: Niemals darf die Mathematik zwei Aussagen zulassen, die einander widersprechen. Die beiden Sätze „A ist B“ und „A ist nicht B“ können niemals beide richtig sein, sonst würde die gesamte logische Struktur der Mathematik zusammenbrechen. Man könnte dann jede beliebige Aussage beweisen – etwa „Acht mal sieben ist vier“ oder „Deine Mutter ist ein Pinguin“.

      Der große Logiker Bertrand Russell erklärte das in einer Vorlesung und wurde dann von einem Studenten gefragt: „Das heißt, unter der Annahme, dass 1=0 ist, können Sie beweisen, dass Sie der Papst sind?“ Für Russell war das kein Problem: „Wir addieren auf beiden Seiten eins – dann bekommen wir die Gleichung 2=1. Die Menge, die nur mich und den Papst enthält, hat zwei Elemente. Aber 2=1, also hat sie nur ein Element, also bin ich der Papst.“

      Ist es möglich, dass aus Peanos Axiomen derart widersprüchliche Aussagen folgen? Lässt sich streng beweisen, dass ein solcher Widerspruch niemals auftreten kann? Das ist doch gar nicht nötig, könnte man vermuten. Peanos Axiome über die natürlichen Zahlen klingen doch so harmlos, so einfach und eindeutig – wie sollten sich daraus innere Widersprüche ableiten lassen? Aber solche Vermutungen sind in der Mathematik nicht genug. Ein zwingender Beweis muss her.

      Dass David Hilbert einen solchen Beweis suchen wollte und dieses Projekt zu den bedeutendsten Aufgaben für die Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts zählte, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass in der Mathematik damals nicht alles so glatt und reibungslos lief, wie man sich das gewünscht hätte. Es gab einige verwirrende Probleme, über die in Mathematikerkreisen heftig gestritten wurde.

      Zu den besonders komplizierten mathematischen Themen, mit denen man im neunzehnten Jahrhundert ziemlichen Ärger hatte, gehört der Begriff der Unendlichkeit. „Unendlich“ ist keine Zahl, mit der man nach den üblichen Regeln rechnen kann. Fünf ist immer fünf, und wenn das Ergebnis einer anderen Rechnung wieder fünf ist, dann ist das genau dasselbe Fünf wie vorher. Aber ist auch das Unendliche immer gleich? Gibt es unterschiedliche Arten von unendlich? Ist unendlich mal unendlich ein größeres Unendlich als unendlich plus unendlich?

      Mit solchen Fragen beschäftigte sich der Mathematiker Georg Cantor. Er begründete die Mengenlehre, um die Gesetze des Unendlichen fassbar zu machen. Wenn die menschliche Intuition versagt, dann muss man eben schwammige Begriffe durch exakte Definitionen ersetzen, schlampige Gewohnheiten fallen lassen und präzise Regeln aufstellen.

      Dabei stieß Georg Cantor auf erstaunliche Überraschungen, etwa als er über folgende Frage nachdachte: Haben auf einer Fläche mehr Punkte Platz als auf einer Linie? Sowohl auf einer Linie als auch auf einer Fläche lassen sich unendlich viele Punkte einzeichnen. Aber eine Fläche kann man sich aus unendlich vielen Linien zusammengesetzt denken. Sollte die Unendlichkeit der Punkte auf der Fläche also nicht noch viel unendlicher sein?

      Verblüfft saß Cantor schließlich vor seinen Ergebnissen und stellte fest: Das stimmt nicht. Beide Unendlichkeiten sind tatsächlich gleich groß. „Ich sehe es, aber ich glaube es nicht“, schrieb er an seinen Freund und Kollegen Richard Dedekind. Wenn es schon Cantor selbst schwerfiel, seinen eigenen Beweisen zu vertrauen, dann darf man sich nicht wundern, wenn manche Fachkollegen die merkwürdigen Unendlichkeitsregeln Cantors noch viel kritischer sahen. Als „Verderber der Jugend“ beschimpfte man ihn, als er seine Thesen unterrichtete.

       Das unendliche Hotel

      Ein bisschen besser verstehen kann man Cantors Schwierigkeiten mithilfe eines Gedankenspiels, das unter dem Namen „Hilberts Hotel“ berühmt geworden ist. Stellen wir uns vor, wir führen ein Hotel mit unendlich vielen Zimmern. Das Hotel ist voll ausgebucht, in jedem Zimmer liegt ein Gast. Wir nehmen unendlich viel Geld ein, dafür müssen wir morgens auch unendlich viele Betten machen. Nun treffen aber noch zehn weitere Gäste ein, die gerne ein Zimmer hätten. Was können wir tun?

      Ganz einfach: Wir bitten den Gast in Zimmer 1, ins Zimmer 11 zu übersiedeln. Der Gast aus Zimmer 2 kommt ins Zimmer 12, Gast 3 ins Zimmer 13 und so weiter. Danach hat jeder der unendlich vielen Gäste wieder ein Zimmer, aber die Zimmer 1 bis 10 sind frei für die neu angekommenen Gäste.

      Das bedeutet also: Unendlich plus 10 ist immer noch unendlich – und zwar genau dieselbe Sorte von unendlich wie vorher. Genau auf diese Weise definierte Cantor, was es bedeutet, wenn man von „gleich großen Mengen“ spricht: Zwei Mengen sind genau dann gleich groß, wenn man immer jeweils ein Element der einen Menge und ein Element der anderen Menge zu Paaren zusammenfügen kann, sodass am Ende in keiner der beiden Mengen ein Element partnerlos übrig bleibt.

      Bei nicht-unendlichen Mengen ist das offensichtlich richtig. Wenn ich fünf Katzen und fünf Schalen Katzenfutter habe, kann ich beweisen, dass die Katzenmenge und die Futterschalenmenge gleich groß sind, indem ich jeder Katze