Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Florian Aigner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Florian Aigner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783710604874
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gibt Politiker, die einfach „Fake News!“ schreien, wenn ihnen ein Argument nicht passt – ganz unabhängig davon, ob es faktisch richtig ist oder nicht. Es gibt Geschäftemacher, die ohne jeden Skrupel wirkungslosen Unsinn verkaufen, solange man damit Geld machen kann – vom Chakren-Balance-Kristall bis zum magischen Zahlenamulett gegen Coronaviren. Es gibt Verschwörungstheoretiker, die anderen Leuten Angst einreden, vor mörderischen Außerirdischen, bösartigen Geheimbünden oder gefährlichen Killerstrahlen.

      Wir sind jeden Tag von so viel Information umgeben, dass es schwierig geworden ist, echtes Wissen von unsinnigen Behauptungen zu unterscheiden. Gleichzeitig ist diese Unterscheidung aber wichtiger als je zuvor. In unsicheren Zeiten spüren wir das ganz besonders. Dieses Buch wurde 2020 fertiggestellt, während sich das Coronavirus SARS-CoV-2 gerade über den ganzen Planeten ausbreitete, in einer Zeit, in der vielen von uns die Bedeutung der Wissenschaft deutlicher bewusst wurde als je zuvor.

      Vorher ist es in den Hauptmeldungen der Abendnachrichten immer um Politik gegangen, nun geht es plötzlich um Virologie und Epidemiologie. Vorher hat man sich über die Ungerechtigkeit der geplanten Steuerreform geärgert, über Wahlergebnisse oder Fußballniederlagen, nun ärgert man sich plötzlich über Ansteckungswahrscheinlichkeiten, Tröpfcheninfektion und Exponentialfunktionen.

      Doch nicht nur die Wissenschaft erlebt in solchen Zeiten einen Aufschwung. Auch Esoterik, Pseudowissenschaft und Hasspropaganda verbreiten sich in einem gesellschaftlichen Klima von Angst, Zweifel und Unsicherheit schneller als sonst: Das neue Coronavirus ist in Wirklichkeit eine Biowaffe, erklären die einen. Viren gibt es gar nicht, und die Krankheit COVID-19 wird in Wirklichkeit von gefährlichen Handystrahlen ausgelöst, behaupten die anderen. Und wieder andere erklären uns, dass sich dunkle Welteliten zusammengeschlossen haben, um mit COVID-19 die Weltbevölkerung zu dezimieren.

      In dieser komplizierten Welt haben wir große, schwierige Fragen zu beantworten: Worauf können wir uns eigentlich verlassen? Was können wir wissen? Und was sollen wir glauben?

      Niemand von uns ist im Besitz der perfekten Wahrheit. Das macht aber nichts – denn wir haben die Wissenschaft, und die ist eine Sammlung kluger Methoden, Theorien und Ideen, die uns helfen, Probleme zu lösen. Wissenschaft ist größer als irgendetwas, was ein einzelner Mensch im Kopf haben kann. Wissenschaft ist das, was stimmt, auch wenn man nicht daran glaubt. Wissenschaft ist das, worauf wir uns gemeinsam verlassen können.

      Davon möchte ich Sie in diesem Buch überzeugen. Als Physiker habe ich natürlich eine von der Physik beeinflusste Sicht auf die Wissenschaft – auch wenn ich den Blick auch auf viele andere Wissenschaftsdisziplinen richte. Selbstverständlich kann kein Buch ein vollständiges Bild der Wissenschaft bieten. Es wäre verrückt, diesen Anspruch zu erheben. Am Ende des Buches ist hoffentlich auch klar, warum ich es gar nicht für zielführend halte, die Wissenschaft auf präzise und allgemeingültige Weise zu definieren. Wir werden uns stattdessen auf eine Abenteuerreise begeben, quer durch die Welt des klaren Denkens

      Wir werden dabei geniale Ideen kennenlernen, und atemberaubende Irrtümer. Wir werden über großartige wissenschaftliche Revolutionen sprechen, und über haarsträubende Fehler. Es wird um Triumphe gehen und um Verzweiflung, um die Entdeckung ferner Planeten und um geflügelte Einhörner, um hellblaue Raben und tödliche Heilmittel. Machen wir also eine Reise durch die Welt der Wissenschaft, um herauszufinden, worauf wir uns wirklich verlassen können.

      FLORIAN AIGNER

       WISSENSCHAFT ODER BAUCHGEFÜHL?

       Warum wir uns auf unsere Intuition nicht verlassen können, warum man als vernünftiger Mensch möglicherweise aufgefressen wird und warum sich gerade die Ahnungslosesten für die Allerklügsten halten: Wir müssen zwischen Bauchgefühl und Wissenschaft unterscheiden, sonst können wir nicht vernünftig miteinander diskutieren.

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      Jede folgenschwere Dummheit, jeder historische Irrtum, jede schreckliche Fehleinschätzung begann eines Tages als kleine Idee, die irgendjemand gar nicht so übel fand. Je mehr wir denken, umso mehr Denkfehler sind denkbar. Der Gedanke, dass wir uns auf unser Gehirn verlassen können, kann nur in unserem Gehirn entstanden sein.

      Vielleicht sollten wir lieber auf unser Bauchgefühl vertrauen? Wer von uns wurde jemals von einer Bauchspeicheldrüse angelogen? Eben. Kein Wunder, dass sich viele Leute lieber auf das Herz verlassen, auf die Intuition oder auf das Solarplexuschakra, aber lieber nicht auf den Verstand.

      Oft ist das auch gar nicht so dumm. Unser Bauchgefühl ist nämlich eine großartige Sache. Wir müssen mit dem neuen Kollegen nur ein paar Minuten plaudern, um ein recht verlässliches Bauchgefühl dafür zu entwickeln, ob wir Spaß daran haben werden, mit ihm zusammenzuarbeiten. Wir kosten die Suppe und erkennen ganz ohne biochemische Messgeräte, dass sie mit etwas mehr Petersilie wohl noch besser schmecken würde. Wir brauchen keine mathematischen Formeln, um mit akzeptabler Genauigkeit vorherzusagen, ob sich die Tante am Geburtstag über ein Quantenphysik-Lehrbuch freuen würde oder eher nicht.

      Unsere täglichen Entscheidungen treffen wir nicht, indem wir alle Fakten auflisten, übersichtlich sortieren und rational abwägen, sondern indem wir unser lückenhaftes Halbwissen zu einer fragwürdigen Brühe verrühren und auf recht undurchsichtige Weise eine Meinung daraus hervorziehen. Erstaunlicherweise liegen wir damit ziemlich oft richtig.

      Ähnlich wie unser rationaler Verstand ist auch das Bauchgefühl eine Form von Intelligenz. Es ist ein grandioser Mechanismus, mit dem es uns Tag für Tag gelingt, mit ziemlich wenig Information in ziemlich kurzer Zeit ziemlich gute Entscheidungen zu treffen.

      Dafür hat die Evolution gesorgt: Über viele Tausend Generationen hinweg hatten unsere Vorfahren dann eine höhere Überlebenschance, wenn sie die vielen verwirrenden Fakten, die ihnen das Leben Tag für Tag an den Kopf warf, ganz intuitiv auf einigermaßen sinnvolle Weise verarbeiten konnten. Wissenschaftliche Präzision hingegen war in unserer Evolutionsgeschichte meistens ziemlich nutzlos.

      Stellen wir uns vor, wie vor Hunderttausenden Jahren ein Rudel unserer entfernten Vorfahren nach langer Wanderung erschöpft unter den Bäumen saß. Plötzlich raschelt es im Gebüsch, eine hungrige Raubkatze springt hervor, packt einen von ihnen und nimmt ihn mit. Die anderen ziehen zitternd weiter, mit beißender Raubkatzenangst im Bauch. Am nächsten Tag suchen sie wieder Zuflucht im Wald, wieder hören sie ein verdächtiges Rascheln im Gebüsch. In Panik springen sie auf und laufen davon – ganz intuitiv, ohne viel nachzudenken.

      „Immer mal langsam!“, würde ein urzeitlicher Wissenschaftler nun vielleicht warnen: „Bleibt doch erst mal sitzen, verlasst euch nicht bloß auf euer Bauchgefühl! Die Faktenlage ist extrem dünn, und auf einer einzelnen Beobachtung lässt sich keine verlässliche Theorie aufbauen. Bevor wir überstürzte Entscheidungen treffen, sollten wir anhand einer größeren Anzahl von Experimenten sorgfältig untersuchen, inwieweit tatsächlich ein statistisch nachweisbarer Zusammenhang zwischen dem Rascheln im Gebüsch und lebensbedrohlichen Raubkatzen nachweisbar ist!“

      Kein Zweifel: Dieser frühzeitliche Naturwissenschaftler wurde aufgefressen. Seine Einwände waren vielleicht methodisch korrekt, aber praxistauglich waren sie nicht. Kein Wunder, dass uns die Evolution nicht auf ganz natürliche Weise mit der Fähigkeit zum wissenschaftlich präzisen Denken ausgestattet hat.

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      Wir sollten dankbar sein, dass wir ein gut entwickeltes Bauchgefühl haben, aber eines ist klar: Verlässlich ist es nicht – zumindest nicht immer. Unser Bauchgefühl schützt uns zwar davor, schlecht gelaunten Raubtieren in der Nase zu bohren. Aber es sagt uns auch, dass Alkohol Spaß macht und daher völlig ungefährlich ist, dass die Jugend immer dümmer und respektloser wird und dass beim Roulette ganz sicher Rot kommen muss, wenn fünfmal hintereinander Schwarz an der Reihe war. Manchmal ist unser Bauchgefühl ein ziemlicher Trottel.

      Unsere Welt sieht heute ganz anders aus als zur Zeit unserer prähistorischen