Das »Da Ernesta«, sah ich beim Weiterscrollen, residierte in einem himmelblauen Bauwerk mit italienisch anmutender Scheinfassade, das offensichtlich aus früheren Jahrhunderten stammte und wunderschön renoviert war. Es besaß kleine Zinnen und Stuckverzierungen über den Sprossenfenstern.
Vor einem breiten Holztor posierte eine aus etwa zwanzig durchweg lachenden Menschen bestehende Gruppe. Die meisten waren dunkelhaarig und steckten entweder in einem schwarzen Outfit oder in einer bis zu den Knöcheln reichenden Kochschürze. Nur die langbeinige Frau in der Mitte, die ich trotz ihrer weißblonden Mähne sofort als Landsmännin aus dem Süden erkannte, trug ein papageienbuntes Kleid, das ihren schlanken und festen, aber ausgesprochen weiblichen Körper betonte. Vermutlich Ernesta, die Inhaberin, umgeben von ihren Angestellten. Sie erinnerte mich an jemanden, ich hätte jedoch nicht sagen können, an wen.
Weiter unten gab es eine beeindruckende Burganlage zu sehen, auf der einen Seite mit Blick auf einen See mit einladend grünblauem Wasser, auf der anderen auf die Salzach, den Grenzfluss zwischen Burghausen und Österreich. Sonnenbeschienene Uferwege, Gässchen zum Flanieren, ein noch wesentlich pittoreskerer Stadtplatz als hier in Straubing. Farbenprächtige, mitunter zinnenbewehrte Bürgerhäuser, gediegene Hotels, zünftige Wirtschaften mit Blumenpracht und oberbayerischer Gemütlichkeit.
Ich dachte an Vincenzo, der jetzt mit seinen Freunden auf dem Weg nach Kallmünz war. An Mona, die bald den Gardasee erreichen würde. An meine Auftraggeber, die sich auf der Nordseeinsel Sylt der Entschleunigung widmeten. Sogar Paolo hatte zwischen seinen Schweigeübungen vielleicht ein wenig Muße für ein paar Schritte am Chiemsee, während ich mich kaum daran erinnern konnte, wann ich mir das letzte Mal einen freien Tag gegönnt hatte.
Mitten in meine Gedanken hinein sang Pavarotti von den trügerischen Frauenherzen: »La donna è mobile …« Maximilians Name erschien auf dem Display meines Mobiltelefons.
»Du bist schon wach?«, begrüßte ich meinen Liebsten erfreut, sprang aus dem Wagen, umrundete ihn in schnellen Schritten und klappte dabei eine Tür nach der anderen zu. »Ich bin praktisch schon auf dem Heimweg, und einen Mordshunger habe ich. Die Sachen für den Brunch sind übrigens im Kühlschrank, bis auf die Spiegeleier habe ich schon alles vorbereitet, die Croissants …«
»Das müssen wir leider auf später verschieben«, unterbrach Maximilian mich zerknirscht. »Ein Anruf aus der Klinik. Tut mir wirklich unsäglich leid, Anna.«
Ein Stöhnen entfuhr mir. »Doch nicht schon wieder ein Notfall?«
»Keine OP dieses Mal. Aber der Kollege, der mich nach Russland begleiten sollte, hat sich beim Mountainbiken zwei Rippen gebrochen. Deshalb muss ich mich jetzt um alles kümmern – die Präsentation vorbereiten, Papers ausdrucken, unsere neuesten OP-Methoden zusammensuchen, alles eben.« Er schnaubte. »Kannst du mir einen Gefallen tun, Anna? Fahr doch bitte im Baumarkt vorbei, wir brauchen dringend Blumenerde für die Rosenbeete. Ich weiß nicht, wie lange das hier dauert, und ich wollte noch unbe…«
»Stai zito!« Wie so oft, wenn ich sauer war, verfiel ich in meine erste Muttersprache. »Basta, hai sentito, basta davvero!«
Eine Frau im viel zu kurzen Kleid, die gerade ihr Handy aus der Tasche zog, blieb stehen und gaffte mich an. Böse blitzte ich zurück. Dann holte ich tief Luft und wechselte ins Deutsche.
»Maximilian, sei mir bitte nicht böse«, sagte ich in bemüht ruhigerem Ton, »aber du wirst doch in Gottes Namen jemanden auftreiben können, der das für dich erledigt. So etwas muss doch nicht immer der leitende Oberarzt höchstpersönlich tun, noch dazu am Wochenende, oder wie siehst du das?«
Er setzte an, sich zu rechtfertigen. Meine Frage war aber ohnehin nur rhetorischer Art gewesen.
»Sosehr ich es zu schätzen weiß, wie vorbildlich du dich um meinen Garten kümmerst – das hat doch Zeit. Am Montag steigst du in den Flieger, dann sehen wir uns die ganze Woche nicht. Und nur so nebenbei«, ein rascher Blick zum Gehsteig sagte mir, dass die Frau im Miniminikleid weitergegangen war, aber selbst das Gegenteil wäre mir egal gewesen, »wann hatten wir eigentlich das letzte Mal Sex miteinander?«
Mein Liebster hatte mir still zugehört. Nun seufzte er.
»Du hast ja recht«, sagte er schließlich, ohne auf meine Frage einzugehen. »Für Jekaterinburg brauche ich ohnehin Verstärkung. Ich werde jemanden organisieren, der mich begleitet und sich im Vorfeld um alles kümmert. Das dauert eine halbe Stunde, höchstens, und dann, hoch und heilig versprochen, komme ich sofort heim.«
»Tu das. Und wenn du da bist, steigen wir ins Auto und fahren weg. So kommst du erst gar nicht in Versuchung, tausend Dinge zu erledigen, die wichtiger sind als ich.« Ich schwieg einen Moment, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Nur wir beide, amore. Seit Ligurien haben wir keinen einzigen Ausflug mehr gemacht.«
Das war im Februar gewesen. Damals hatte ich in einem Fall ermittelt, bei dem ich nach einem verschwundenen Bestsellerautor gesucht hatte.
»Dass wir den Kurzurlaub am Meer dann auch noch viel zu früh abbrechen mussten«, Maximilian lachte, »das war ausnahmsweise nicht meine Schuld.«
»Ausnahmsweise mal«, gab ich zu. »Also, was meinst du?«
»Ein freies Wochenende, weit weg von allem – das klingt tatsächlich verlockend. Hast du schon eine Idee, wohin die Reise geht?«
»Burghausen«, sagte ich prompt. »Das liegt in Oberbayern, im Voralpenland, und soll wunderschön sein. Wusstest du, dass es dort die längste Burg der Welt gibt?«
***
Als wir Burghausen am frühen Abend erreichten, war es so heiß, dass die Luft flirrte. Ich parkte Maximilians Alfa Romeo auf dem Stadtplatz, wo es trotz der sengenden Hitze jedoch alles andere als ausgestorben war. Überall gab es Menschen, Lebensfreude und einen ohrenbetäubenden Radau.
Angesichts des Wetters hatten wir den Maserati stehen lassen und Maximilians Auto genommen, das über eine Klimaanlage verfügte. Je weiter wir in Richtung Voralpenland gefahren waren, umso schwüler und heißer war es geworden. Die ganze Zeit über hatte ich am Steuer gesessen, mein Liebster hatte geschlafen.
Trotz seines Versprechens war er erst spät aus der Klinik gekommen. Die Suche nach einer Vertretung für den verunglückten Kollegen war schwieriger gewesen als gedacht. Doch ich hatte nicht groß nachgefragt, sondern ihn beim schon leicht abgestandenen Brunch gebeten, nach dem Essen so schnell wie möglich zu packen – und zwar nicht nur bis Sonntagabend. Wir würden uns eine weitere Nacht zu zweit gönnen, und am Montagmorgen würde ich Maximilian direkt zum Münchner Flughafen fahren.
Während er sein Rollköfferchen packte und ich das Nötigste für die nächsten beiden Tage in eine Tasche warf und nebenbei unser Hotelzimmer reservierte, hatte ich Nachrichten verschickt. Paolo würde am Sonntagabend wieder zu Hause sein, und ich hatte ihn gefragt, ob er sich bis zu meiner Rückkehr um Vincenzo kümmern könne. Auch wenn mein Sohn im Dezember fünfzehn wurde, so ließ ich ihn nachts ungern allein. Sicherheitshalber hatte ich Benedetta um denselben Gefallen gebeten.
Maximilian und ich stiegen aus dem Alfa Romeo, und sofort fühlte ich mich wohl. Trotz der Geräuschkulisse – eine Blaskapelle gab original bayerische Musik zum Besten – erinnerte mich das Flair, das uns umgab, an meine alte Heimat.
Auf dem Stadtplatz flanierten Spaziergänger, viele davon so herausgeputzt wie im mir vertrauten Süden. Kinder mit Luftballons rannten auf und ab, während ihre Eltern in Grüppchen beieinanderstanden oder an Kneipentischen im Freien saßen und sich lautstark unterhielten. In den meisten der jahrhundertealten, liebevoll renovierten Stadthäuser hatten sich kleine Läden, Gasthäuser oder sonstige Lokale und Bars eingenistet. Über allem thronte, hoch oben auf dem Berg, die berühmte Burg. Die Silhouette ihrer Wehrtürme und Bauwerke mit spitzen Zinnen hob sich vor einer strahlenden Abendsonne in den Himmel.
Unsere Unterkunft,