Dr. Daniel bemerkte den noch immer skeptischen Blick der Patientin und schaltete den Bildschirm wieder ein.
»Sicher kennen Sie Ultraschallaufnahmen von den üblichen Vorsorgeuntersuchungen«, meinte er, doch Hannelore schüttelte nur den Kopf.
»Ich war nie beim Arzt«, gestand sie leise.
»Sie waren nie…«, begann Dr. Daniel fassungslos.
»Ich weiß schon, was Sie jetzt denken«, entgegnete Hannelore voller Bitterkeit. »Sie glauben, das Baby wäre mir gleichgültig, aber so ist es nicht. Es ist mir alles andere als gleichgültig!«
»Das glaube ich Ihnen«, meinte Dr. Daniel und fing dabei den drängenden Blick des Chefarztes auf. Sie hatten jetzt nicht mehr viel Zeit, wenn Hannelore nicht in einen lebensbedrohenden Zustand geraten sollte. Der Blinddarm konnte durchbrechen, ganz zu schweigen von der Gefahr, die von dem toten Fetus ausging.
»Sehen Sie, hier ist das Herz Ihres Babys«, erklärte Dr. Daniel und wies auf eine Stelle des Bildes, von dem Hannelore nur helle und dunkle Schatten erkennen konnte. »Würde es noch leben, könnten Sie die Herztätigkeit sehen.«
»Sie können mir viel erzählen«, entgegnete die junge Frau starrköpfig. »Wenn Sie mein Baby töten, verklage ich Sie. Ich werde die ganze Klinik verklagen!«
»Begreifen Sie doch, es ist tot«, versuchte Dr. Daniel es noch einmal. »Und Sie werden auch sterben, wenn wir nicht bald operieren.« Er griff nach ihrer Hand. »Vertrauen Sie mir, Frau Jung. Ich würde einen solchen Eingriff niemals vornehmen, wenn das Baby noch am Leben wäre.« Er schwieg kurz. »Im übrigen kenne ich Ihre Stiefmutter gar nicht.«
Hannelore sah ihn eine Weile an, dann flüsterte sie: »Doch, Sie kennen sie. Sie wissen wohl nur nicht, daß sie meine Stiefmutter ist.« Sie zögerte einen Moment, ehe sie nickte. »Führen Sie die Operation durch.«
*
»Mit der Narkose muß es jetzt ganz schnell gehen!« drängte Dr. Daniel seinen zukünftigen Schwiegersohn Dr. Jeff Parker, der hier in der Klinik als Anästhesist tätig war.
»Da behaltet ihr die Patientin eine halbe Ewigkeit in der Notaufnahme, aber bei mir muß es dann immer ganz schnell gehen«, grummelte Dr. Parker.
»Du sollst dich nicht beklagen, Jeff, sondern zusehen, daß du…« begann Dr. Scheibler streng.
Abwehrend hob Dr. Parker beide Hände. »Nun friß mich nicht gleich auf. Ich beeile mich ja schon.«
»Hoffentlich«, knurrte Dr. Daniel, während er hinter Dr. Scheibler den Waschraum betrat.
Währenddessen leitete Dr. Parker bei der Patientin die Narkose ein, und dabei kam sogar die routinierte OPSchwester Petra Dölling ins Schwitzen. Sie kannte Dr. Parkers schnelle Arbeitsweise zur Genüge, doch heute war sein Tempo wirklich rekordverdächtig.
»Wollen Sie mich vor der Operation schon fertigmachen?« fragte Petra, als Dr. Parker dabei war, die Patientin zu intubieren.
»Tut mir leid«, murmelte der junge Anästhesist, während er den Tubus schnell aber mit der gebotenen Vorsicht tiefer schob. »Befehl von ganz oben. Der Direktor persönlich hat angeordnet, daß es schnell gehen muß.«
»Bei Ihnen geht’s doch sowieso schnell«, wandte Petra ein, dann nahm sie ihren Platz am OPTisch ein, während Dr. Daniel, Dr. Scheibler, die Oberärztin Dr. Lisa Walther und der Assistenzarzt Dr. Rainer Köhler in den Operationssaal traten.
»Tubus ist drin«, meldete Dr. Parker. »Ihr könnt anfangen.«
Völlig außer Atem stürzte nun auch die zweite OPSchwester Monika Merten herein.
»Sie brauchen mich hier?« stieß sie hervor.
»Ja, Monika, kommen Sie zu mir«, bat Dr. Daniel. »Wir haben eine Missed abortion.«
Monika wußte, was das bedeutete, und bereitete routiniert alle Instrumente vor, die Dr. Daniel dafür benötigen würde. Währenddessen setzte Dr. Daniel bei Hannelore eine Injektion, und Schwester Monika wußte, daß er der Patientin Prostaglandine gespritzt hatte, die eine Wehentätigkeit auslösen sollten.
In der Zwischenzeit hatte Dr. Scheibler schon den Schnitt für die Appendektomie gesetzt.
»Das war wirklich in letzter Minute«, urteilte er aufatmend, während er fachmännisch den entzündeten Blinddarm entfernte.
Dr. Daniel begann indessen vorsichtig, mit Dehnungsstiften die Zervix zu weiten, dann nahm er die Sprengung der Fruchtblase vor.
»Blutdruck fällt, Pulsfrequenz steigt«, meldete sich Dr. Parker zu Wort. »Schockgefahr.«
»Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe«, ordnete Dr. Daniel an. »Danach Dauertropf mit PPL und Venenkatheter. Sobald genügend blutgruppengleiches, gekreuztes Blut bereitsteht, Transfusion einleiten.« Er wandte sich dem Chefarzt zu. »Ich bräuchte Sie jetzt dringend im Labor.«
Dr. Scheibler nickte. »Ich bin hier soweit fertig.«
Ohne Aufforderung übernahm Dr. Lisa Walther seinen Platz und beendete den Eingriff, während der Chefarzt schon die Anweisungen von Dr. Daniel entgegennahm.
»Ich brauche eine Bestimmung des Fibrinogengehalts, außerdem Thrombozyten und Thrombinzeitbestimmung«, erklärte Dr. Daniel.
»In Ordnung«, entgegnete Dr. Scheibler, nahm von Schwester Monika, die die Situation auf Anhieb richtig eingeschätzt und der Patientin Blut abgenommen hatte, die Probe entgegen und eilte damit ins Labor.
»Blutdruck steigt wieder, Puls fast im Normbereich«, meldete sich der Anästhesist.
Inzwischen war das tote Kind durch die Kontraktionen der Gebärmutter in den Geburtskanal gepreßt worden. Blut strömte nach, und Dr. Daniel vermutete, daß die heftigen Blutungen durch die sich ablösende Plazenta verursacht wurden.
»Fibrinogengehalt liegt bei 90 mg%«, erklärte Dr. Scheibler im Hereinkommen.
Dr. Daniel nickte. Er hatte das bereits erwartet. »Also eine massive Gerinnungsstörung.« Er brauchte keine Sekunde, um die nächsten Schritte zu entscheiden. »Geben Sie der Patientin zehn Milligramm Humanfibrinogen als i. v. Infusion. Wenn Sie die Trockenampulle in ein Wasserbad von 37 Grad stellen, dann verkürzt sich die Lösungszeit. Das Fibrinogen schnell einlaufen lassen. Ich muß inzwischen den Uterus ausräumen.«
Dr. Scheibler nickte nur, dann machte er sich an die Arbeit. Er hatte die Infusion gerade angeschlossen, als Dr. Daniel fortfuhr: »Bluttransfusion anschließen, und wenn das Fibrinogen eingelaufen ist, spritzen Sie in die Armvene zweihunderttausend Einheiten Trasylol. Anschließend DauertropfInfusion von Trasylol, hunderttausend Einheiten pro Stunde – vorerst für vier Stunden.«
Während Dr. Scheibler diese Anordnungen befolgte, holte Dr. Daniel das tote Kind mit Hilfe der Zange, dann nahm er eine vorsichtigte instrumentelle Ausräumung vor, wobei er besonders darauf achtete, den brüchigen Gebärmutterhals nicht zu verletzen.
Mit unverhohlener Bewunderung sah Dr. Scheibler ihm zu. Er hatte selbst lange genug im gynäkologischen Bereich gearbeitet, um zu wissen, daß die Ausräumung bei Missed abortion einer der riskantesten Eingriffe der Abortbehandlung überhaupt war, eben weil es infolge der Gerinnungsstörung zu lebensbedrohlichen Blutungen kommen konnte und wegen der gefährlichen Brüchigkeit der Zervixwand.
»Die Blutung kommt zum Stehen«, stellte Dr. Scheibler jetzt fest.
Dr. Daniel nickte nur. Der äußerst riskante Eingriff hatte ihn erschöpft, dazu kam noch die Niedergeschlagenheit, weil es ein totes Baby war, das er hatte holen müssen.
»Ich bringe den Fetus in die Pathologie«, bot Dr. Scheibler an, weil er Dr. Daniel gut genug kannte, um zu wissen, wie nahe ihm ein solcher Zwischenfall