Vom aufgeregten Polizeimeister Liszt erfährt Benedict ergänzend, dass die erst für Mittwochnachmittag geplanten Sicherungsmaßnahmen für den Staatsbesuch auf heute 19 Uhr vorverlegt worden sind. Der Bereich Schloss Benrath muss sofort abgeriegelt werden. Die eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen seien dann bis zum Verlassen der Staatsgäste am Donnerstagnachmittag aufrechtzuerhalten.
»Mensch, müssen die in Panik sein«, sagt der ISAT-Leiter und legt gereizt den Hörer auf.
»Na wenn schon«, meint der Engländer lässig, »so kann doch wirklich nichts mehr schiefgehen!«
Hauptkommissar Benedict, der aus vielen ähnlichen Einsätzen um die Koordinationsschwierigkeiten bei der Abstimmung unterschiedlicher Einsatzkräfte weiß, fühlt die Eiswand den Rücken hinaufkriechen. Und das waren normal im Zeitplan laufende Einsätze gewesen, ohne Alarmstart. Und bei Tageslicht. Ihn schaudert.
»Habt ihr ’ne Ahnung!«, sagt er leise.
Ab 19 Uhr 17 treffen die ersten der so kurzfristig alarmierten Einheiten ein. Vor dem Schloss, auf dem freien Platz zwischen Freitreppe und Teichufer, ist ein großer Kommandowagen des Einsatzleiters aufgefahren. Zwei zusätzlich aufgebaute Standscheinwerfer tauchen die nähere Umgebung in grelles Licht.
Mit dem Megafon in der Rechten und dem schriftlichen Einsatzplan in der anderen Hand bemüht sich der Einsatzleiter, unter den Ankommenden die für die festgelegten Positionen eingeteilten Beamten zu ermitteln und in Marsch zu setzen. Der Polizist am Funkgerät des Kommandowagens versucht, ihm inmitten des Uniformengewirrs Positionsmeldungen weiterer herannahender Einheiten zuzurufen.
Grüne Mannschaftsbusse biegen mit Blaulicht von der Benrather Schlossallee auf den Vorplatz ein und blockieren den nachfolgenden Einsatzfahrzeugen den Weg.
In den Häusern gegenüber gehen die Lichter an. Erschrockene Köpfe schauen aus den geöffneten Fenstern.
»Position 3!«, schreit der Mann am Megafon. »Verdammt noch mal, meldet euch! Position 3!«
»GSG liegt vor Unfallstau auf der Autobahn fest! Unbestimmte Ankunftszeit!«, ruft der Funker aus der Kabine herüber.
»Hauptmeister Thalmann, Einsatzführer. Wir sind für Position 7 bestimmt. Wie kommen wir da denn hin?«
»Ihr habt doch einen Wegeplan, oder?«
»Ja, aber jetzt im Dunkeln?«
»Mensch, verpisst euch! — Weg mit den Bussen! Ihr blockiert doch die ganze Zufahrt!«
Auf der Schlossallee übt ein Straßenbahnfahrer Dauerläuten.
Autofahrer fühlen sich animiert und hupen. Erste Menschengruppen versammeln sich sensationsgeil an den Zufahrten des Schlosses.
»Wo sollen wir die denn hinfahren? Wir kommen nicht raus! Hinter uns ist alles dicht!«, schreit der Busfahrer genervt zurück.
In der Nähe des Schlosses läuft ein atemloser Alter mit einem knurrenden Schäferhund an der Leine auf den Megafon-Mann zu. »Was ist denn hier los?«, brüllt der um Luft ringende Mann, der eine graue Uniform der städtischen Parkwächter trägt.
»Was sind Sie denn für einer?« In herrischem Ton klärt der Einsatzleiter die Situation. »Wir sind jetzt hier für die Sicherheit verantwortlich. Nur wir! Geh schlafen, Opa!«
Während immer mehr Beamte auf dem Schlossplatz durcheinanderlaufen, schickt der Einsatzleiter zunächst mehrere von ihnen zur Verkehrsregulierung an die Straße zurück. »Und treibt die Neugierigen da weg!«, brüllt er ihnen hinterher. Das Megafon noch vor dem Mund, sagt er dann laut und für alle vernehmlich: »Scheißladen! Ist das ein Scheißladen!«
*
Als die Anführerin des Special Active Service Units mit dem Decknamen General Munroe auf ihre Armbanduhr sieht, ist es genau 18 Uhr 55. Die Ladungen am Benrather Bahnhof und in dem schon in der letzten Woche geparkten PKW sind scharf und auf die Multi-Impulsfrequenz eingestellt. Die drei IRA-Kämpfer steigen wieder in den Pickup-Wagen und fahren langsam die Börchemstraße hoch. Die Ampel an der Straße vor dem Schloss zeigt Rot. An der Ecke steht ein großes Wohnmobil. Die Ampel springt auf Grün. Munroe biegt rechts ab. Um 19 Uhr 10 verlässt der Kleinlaster die Straße am Rheinufer und fährt hinter dem Schlosspark auf das Wiesengelände. Munroe schaltet das Standlicht ein und lenkt das holpernde Gefährt an einem Bauplatz vorbei an die geplante Stelle. Sie schaltet das Licht aus. Der Wagen steht jetzt in der Verlängerung des großen Baums am Ende des Spiegelweihers. Allerdings auf der anderen Seite. Um auf das Parkgelände zu kommen, müssen sie den Schlossbach überwinden, der das Gelände umfließt.
Donahue und South, denen der Schweiß unter dem warmen Stoff der vermummenden Balaklava herunterperlt, springen leichtfüßig aus dem Wagen. Unter Bauschutt, der sich auf der Ladefläche türmt, ziehen sie eine Metallstange hervor. Während South die Stange hält, schlägt der lange Donahue sie mit durch Stofflappen gedämpften Hammerschlägen fest in den weichen Boden. Beide prüfen mit kräftigen Armzügen die Stabilität. Wieder gräbt Donahue im Bauschutt, er zieht eine Kiste heraus und stellte sie auf den Boden. Als er sich wieder aufrichtet, hält er das Greener-Harpunengewehr in der Hand und zielt Richtung Park. Ein dumpfes Plopp erklingt! Das schwere Geschoss mit dem Haken krallt sich in den Baum auf der anderen Seite des Baches und zieht die sirrende Spezialleine hinter sich her. Das geschieht fast unsichtbar im Abenddunkel.
In der Zwischenzeit hat South an der Spitze der in den Boden gerammten Stange zwei Metallstopper mit Hakenverschluss aufgeschraubt. Jetzt nimmt er das Ende der Leine und zieht es straff. Klick! Der Verschluss rastet ein. Das Stangenende mit Stoppern und verkoppeltem Leinenende schiebt er teleskopartig in die Höhe, Mit dem Daumen fühlt er nach der Kerbmarkierung. Erneut macht es klick. Straff spannt sich die Leine in zwei Meter Höhe über den Bach. Beide Männer hängen sich die Maschinenpistolen über und hangeln nacheinander lautlos an der Leine entlang. Der zuletzt kommende South führt eine zweite Leine mit sich.
Als sie das Zittern der Stange nicht mehr fühlt, schickt Munroe an der zweiten Leine die Behälter mit den Rauchminen und den Werkzeugen auf die andere Seite. Dann stellt sie sich, die Maschinenpistole in der Armbeuge, an den warmen Motor des Wagens. Donahue und South müssen jetzt dort drüben auf sich selbst aufpassen. Hier steht sie auf Posten, um ihren Rückmarsch vor Überraschungen sichern. Wahrscheinlich werden sie in 45 Minuten zurück sein.
General Munroes Armbanduhr zeigt neunzehn Minuten nach sieben.
*
»Wir müssen uns ja wohl auch bald in das Getümmel stürzen!«, sagte McGrath lakonisch.
Aus dem Lautsprecher der großen Funkanlage in Harts Campingwagen kommen hektische Meldungen. Drüben auf dem Schlossplatz leuchten die ersten Scheinwerfer auf.
»Besser erst mal warten, bis sich die Situation geordnet hat!«, beharrt der Hauptkommissar steif auf seinen Erfahrungen vergangener Großeinsätze.
Über ein getrenntes Funksystem empfängt der englische Captain jetzt auch noch den Funkverkehr seiner eigenen Leute. Das Gequäke deutscher und englischer Befehle füllt den engen Raum.
»No smoking!«, schreit der Engländer scharf, als O’Connell seine Pfeife rausziehen will. Jetzt dreht der also auch schon durch.
Das Summen des Telefons ist in dem Geknatter der Funkfetzen kaum zu hören. Schließlich nimmt O’Connell den Hörer auf. »Für dich!«, grinst er Benedict an. »Die lisztige Maus aus dem >Weißen Haus<!«