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Frustration. Ministerialdirektor Riechmann verklammert die Finger beider Hände ineinander und lässt die Gelenke knacken. Ein unangenehmes Geräusch für Mithörer. Aber Johann Riechmann sitzt an diesem Donnerstag allein in seinem Zweckbüro im Bundeskanzleramt.
Er fühlt sich düpiert. Seine Pläne haben nicht funktioniert. Man hat ihn aufs Kreuz gelegt, ihn, den alten Fuchs.
Zwei Stunden feilschten sie damals mit dem noch gerisseneren Philipps um diese verflixte Klausel der TWC-Bedingungen. Aber Philipps blieb knallhart. Die Bedingungen des Vertrages seien auch dann zu erfüllen, wenn der Vertragsgegenstand - die unbeschadete Rückkehr der Staatsbesucher - aus anderen Gründen erreicht wird als im Vermögen der beteiligten Vertragspartner liegende.
Ein solcher Fall würde jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten. Obwohl der Beschluss zur Aussparung des Düsseldorfer Besuches von der Bundesregierung selbst gekommen war, würde Dr. Rappertswyl am Montag die geforderte Summe auf das Nummernkonto zugunsten der nordirischen Terrororganisation einzahlen. Und auch an den zweiten Teil der Vertragsbedingungen waren sie gebunden. Eine einseitige Aufkündigung des Vertrages mag Riechmann gar nicht in Betracht ziehen. Die IRA und die TWC zu Feinden haben? Die Konsequenzen wären nicht auszudenken.
Es würde lange dauern, diese Schlappe wieder auszubügeln.
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Ärger. Arvi Hattunen ist sauer. Einer der wenigen Aufträge, die er nicht erfolgreich abgewickelt hat. Es würde keine Job-Prämie für das Alert-Team geben. Sein Aktions-Report würde ihm sicherlich Minuspunkte im TWC-internen Bewertungssytem einbringen. Vielleicht sogar eine Neubewertung der Gehaltsberechnung zum Ende des Jahres. Ärgerlich.
Hattunens Job-Report würde auch im Zentralrechner der TWC Inc. in Connecticut gecheckt und zu den Akten genommen werden. Sollte es zu irgendwelchen Auffälligkeiten, Unregelmäßigkeiten oder sonstigen Anomalien während des Einsatzes gekommen sein, würde der Rechner sie feststellen, codieren und mit einer geheimen Prioritätskennung versehen. Und mit jeder erneuten Auffälligkeit rutscht der Vorgang im Datenregister eine Prioritätsstufe höher. Liegt dann irgendwann eine Überschreitung der zulässigen Auffälligkeitstoleranzen vor, landet die Akte automatisch auf dem Tisch des Security Supervisors. Der entscheidet, ob die Sache weiterverfolgt werden soll. Ab einer bestimmten Priorität geht der Fall ohne Verzögerung auf den Schreibtisch von Adrian Simmons, Präsident der TWC Inc. in New York. Aber so weit ist es noch nicht. Der Name Vitus H. Benedict wird im November dieses Jahres seine zweite Prioritätskennung erhalten.
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Am Nachmittag sitzt Benedict hinter seinem Schreibtisch im zweiten Stock des Präsidiums am Jürgensplatz. Alles ist ungewohnt und wieder neu. Lustlos liest er sich durch einige neue Anweisungen des Polizeipräsidenten.
Um 15 Uhr hat er die Nase voll.
Zusammen mit Ganser fährt er ins Benrather Krankenhaus, um die verletzte Kollegin zu besuchen. Als sie in Gansers rotem Sportflitzer am Schloss vorbeifahren, sieht der Kriminalhauptmeister diskret auf die andere Seite.
Maria Leiden-Oster geht es augenscheinlich besser. Der Kopfverband hat einem großen Kinnpflaster Platz gemacht. Sie kann bereits wieder richtig sprechen, wenn auch noch ziemlich leise und wegen der fehlenden Zähne mit leichtem Lispeln.
Nach den üblichen Besuchsverlegenheiten kommt die Kommissarin schnell zur Sache. Viel Zeit habe sie gehabt zum Nachdenken in den letzten Tagen. Über ihr Verhalten und so weiter. »Ich möchte Sie als erste von meiner Entscheidung in Kenntnis setzen, den Polizeidienst zu quittieren! Sofort nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus!«
Da muss sich Gernot Ganser erst mal hinsetzen. Der Hauptkommissar schluckt sichtbar, bleibt aber wie angewurzelt im Zimmer stehen. Lange Zeit ist es still in dem hellen Raum. Dann durchbricht Benedict endlich die lastende Stille: »So einfach ist das nicht, Kollegin. Kannst du uns mal ein paar Minuten allein lassen, Gernot? Bitte!«
Widerspruchslos verlässt der angehende Kommissar den Raum.
Die Minuten werden für den draußen Wartenden zu einer endlosen Zeit. Nach einer dreiviertel Stunde öffnet sich die Tür, und der zögernd Eintretende blickt in zwei Gesichter, die von großer Nachdenklichkeit gezeichnet sind.
Über den Inhalt des Krankenhausgespräches zwischen Kommissar Leiden-Oster und Hauptkommissar Benedict wird keine Menschenseele je etwas erfahren.
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Festbeleuchtungen spannen sich seit einem Monat schon über Altstadt, Schadowstraße und Königsallee. Die Natur spielt auch mit: Kurz nach vier knipst die Sonne ihr bleiches Winterlicht aus.
Hoffentlich schneit es wenigstens diesmal an Weihnachten, denkt Benedict hoffnungsvoll. Einen schönen Iceberg-Pullover würde er sich unter den von Lore geschmückten Baum legen. Er hat da einen auf der Kö gesehen mit Sherlock Holmes vorne auf der Brust. Bloß nicht wieder dieses deutsche Regengepladdere und >Süßer die Glocken nie klingen !<
Kommissar Doemges singt. Benedict kann ihn durch die nur angelehnte Tür des Nebenzimmers hören. »Küss die Hand, schöne Frau, Ihre Augen sind so blau!« Es ist ja nicht direkt ein Weihnachtslied, aber auch Ausdruck der Freude. »Tirili, Tirila, Tirilo-hooo!« schallt es laut und falsch von nebenan.
Der Hauptkommissar steht von seinem Schreibtisch auf und zieht die Tür fest zu. Der hat gut singen, fliegt in zwei Tagen nach Fuerteventura. Auch ein Weihnachten. Mein Gott, Fuerte! Was wohl der Comisario macht? Ob seine alte Zauberin immer noch lebt?
Er würde, wie üblich, hier Junggesellen-Weihnachten feiern und vielleicht im Januar für eine Woche nach Langeoog fahren, um sich von der steifen Seebrise die letzten drei Monate aus den müden Knochen blasen zu lassen.
O’Connell und McGrath sitzen schon lange wieder in ihren Büros an Phoenix Park und Brooklyn Knock. Jerry Hart ist seit dem lächerlichen Nachtscharmützel im Benrather Schloss mit seinem Wohnwagen verschwunden. Bei seiner Dienststelle im Rhine Center am Nordpark gibt man auch auf Benedicts wiederholte Anfragen keine Auskunft.
Das >Weiße Haus< beherbergt wieder ganz normale Dienststellen der Kripo. Der Dank des Polizeipräsidenten war spärlich ausgefallen. »Na, jetzt wird wieder richtig gearbeitet, Benedict!« oder so ähnlich.
Die Leiterin des Benrather Schlossmuseums ist inzwischen wieder glücklich. Ein Bote lieferte vor 14 Tagen eine Kiste bei ihr ab, in der die aufgeregte Professorin inmitten polsternder Holzwolle das unversehrte Original ihrer Joly-et-Roy-Kaminuhr fand. Wenigstens ein letzter Rest Kulturrespekt, dachte Benedict, sie hätten die Uhr ja auch genauso gut auf den Müll schmeißen können.
Kriminalhauptmeister Ganser drückt seit fünf Wochen erneut die harten Bänke des Duisburger KD-Lehrgangs und büffelt kriminalistische Theorie.
Die weitere Vernehmung des festgenommenen Michael Helbig war für die Beamten des 1. K keine Quelle wahrer Freude. Helbig befand sich offenbar in einem hochgradigen Verwirrungszustand, redete von Siegen über schmutzige Feinde, Rache für verspottete Brüder und Kämpfen gegen drohende Stimmen. So telefonierte der Hauptkommissar nach einem Nervenspezialisten, der den vor sich hin murmelnden Helbig erst mal mit einer Spritze ruhigstellte und dann seine Einweisung in das Landeskrankenhaus in Grafenberg verfügte. Dort hält Helbig sich noch immer auf, und vor einer Woche hat Benedict einen Bericht der behandelnden Ärzte auf dem Tisch gehabt. Danach war es zweifelhaft, ob dieser kranke Mensch jemals wegen seiner Verbrechen - immerhin auch ein Mord und ein Mordversuch -