Neugierig beobachtet Riechmann das Gesicht des Innenministers von Nordrhein-Westfalen, als dieser die drei Fotos vor sich auf den Tisch legt, sie nach einem kurzen Blick umdreht und die Rückseiten langsam liest. Seine Kieferknochen beginnen zu mahlen, Sehnen spannen sich, unter dem linken Auge, da, wo sich erste Anzeichen von Tränensäcken zeigen, zuckt ein Nerv. Dann schiebt er die Fotos an seinen Referenten weiter. Gespannte Aufmerksamkeit pflanzt sich mit der Bilderwanderung am Tisch fort und erreicht schließlich den wartenden Riechmann. Auch auf ihm ruhen jetzt die Blicke. Donnerwetter! Wenn das kein Erfolg ist! Die Legende auf den Rückseiten bestätigt schlimmste Befürchtungen. Eine Frau auch dabei. Sogar der Kopf. So weit ist es also gekommen. Aber das kennen wir ja schon von der RAF. Die Weiber sind am schlimmsten.
»Danny McCann, Sean Savage und Mairead Farrell wurden von mehreren Positionen aufgenommen und einwandfrei identifiziert. Sie kennen die besonderen Qualifikationen dieser Personen von den Beschreibungen auf den Fotos. Es besteht somit Klarheit darüber, wer die Attentäter sind, wo das Attentat stattfinden soll und wann: am 5. November, während des großen Empfangs auf Schloss Benrath! Und um Ihren diesbezüglichen Fragen zuvorzukommen ...«, die wieder schleppende Stimme des Hauptkommissars hat etwas Abschließendes, »von zwei Sachen haben wir zur Zeit noch keine Kenntnis: erstens, auf welche Weise das Attentat durchgeführt werden soll, und zweitens, wo sich das Kommando aufhält! Vielen Dank!«
Der Leiter der Spezialistengruppe lässt sich schwer auf seinen Stuhl zurückfallen.
»Und dafür haben Sie höchstens noch fünf Tage Zeit!«
Ob er es mal mit dem Finger im Hals versuchen soll? Lange hätte er diese Versammlung von Dummschwätzern und Wichtigtuern nicht mehr ausgehalten. Sein ganzer Körper scheint eine einzige Brutstätte unbekannter Krankheiten zu sein: Schwerelos, wäre das ein schöner Zustand. Auf dem langen Flug nach Beteigeuze! Ist es nun der Kopf oder der Bauch? Auch entzündete Weisheitszähne sollen Ursache aller möglichen Krankheiten sein.
Da war er ja gerade noch mal so vorbeigeschlittert. Zum Glück war ihm noch die Idee mit der Schlossbesichtigung gekommen. Eine der Schlossführerinnen hatte die Frau auf dem Foto sofort erkannt. Und den Pfarrer ... na ja, den hatte er sich noch dazugelogen. So konnte er wenigstens mit zwei klaren Identifizierungen vor seine Kollegen treten. Er sei einfach mal mit ein paar Fotos losgezogen, hatte er ihnen gesagt, und die Farrell sei jetzt einwandfrei bestätigt. Die noch fehlende Dritte, seine Moira! Jerry Harts Blick war zwar sehr eigenartig gewesen, aber geschluckt hatte er es trotzdem. Wenn auch die Stimmung sehr heikel war. Ach Moira! Und Maria Leiden-Oster? Der verschwundene Racheengel kann jede Sekunde als weiteres Verhängnis in Erscheinung treten. Es ist zum ...
Ja, vielleicht hilft der Finger am Zäpfchen!
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Victory! Victory! Victory! Top Score! You are the champion! - Victory! Victory! Victory! Top Score! You are the champion! - Victory! Victory! Vict... Immer noch mal verkünden elektronische Fanfaren seinen Sieg. Während Millionen goldener Sterne auf dem pulsierenden Blau des Bildschirms zu flimmernden Funkenschwärmen zerplatzen, bringt die geschlagene Herrscherin von Atlantis ihm demutsvoll ihre Opfergaben dar, ihm, dem Sieger! Ein heißes Glücksgefühl durchströmt ihn. Erstmals hat er es geschafft. Die klangvollen Töne des Sieges wandern aus dem Griff des Zauberschwertes Joy, das seine Hände kraftvoll umschlossen halten, in seinen erwartungsvollen Körper, aktivieren die Kraftfelder seines magischen Ringes, dessen Farben zu leuchten beginnen. Sensible Gehirnbahnen leiten die stimulierenden Impulse in das Zentrum seines Wollens. Es ist so weit. Der Ausgang seines großen Kampfes gegen die mächtige Herrscherin von Atlantis hat auch die schrillen Stimmen von draußen zum Verstummen gebracht. Sicher lauschen sie in ihren Verstecken, jammern vor Entsetzen, verbergen sich angstvoll vor den Schritten des Siegers.
Nun ist es an der Zeit, strahlend vor sie zu treten, im Glanze der Waffen. Es ist an der Zeit, das Feld der letzten Schlacht zu bereiten, der endgültigen Rache!
Der Mann nimmt die schwitzenden Hände vom Griff des heißen Joysticks, holt ein paar lederne Stiefel aus dem Wandschrank, zieht sie an und schlüpft in eine schwarze Lederjacke mit vielen Reißverschlüssen. Aus dem Versteck hinter den aufgereihten Computerprogrammen nimmt er die Gaspistole und das schwere Messer heraus. Er hält die Klinge kurz in das Licht der Lampe, braune Flecken auf bläulichem Glanz, wischt dann nachlässig damit über den Ärmel der Jacke und steckt dann beide Gegenstände ein. Vom Schrank nimmt er noch den schwarz lackierten Helm mit dem dunklen Visier. Der Mann öffnet die Tür nach draußen.
Die halb aufgerauchte Zigarette fliegt im Bogen durch die Nacht. Ganser verflucht im Geiste Personalknappheit, englischen Hochadel und die Leiden-Oster. Nicht in dieser Reihenfolge, aber in der Mischung und in Sekundenschnelle, denn er muss blitzschnell entscheiden, was zu tun ist.
Nach Tagen geduldigen Wartens verlässt die Gestalt am Mittwochabend um 21 Uhr 53 endlich das Laubengefängnis im Garten des Hauses Siedlerweg 69. Sie bewegt sich direkt auf den observierenden Kriminalhauptmeister Ganser vom Ersten Kommissariat zu. Keine Tür im Zaun! Bevor die dunkle Gestalt die letzten abschirmenden Büsche vor dem Zaun erreicht hat, macht Ganser einen gewaltigen Satz die Böschung hinauf und landet auf der anderen Gleisseite im Schotter. Laut schreit er auf, als er mit den Knien auf spitzen Steinen aufkommt. Noch einmal hat er Glück an diesem Abend. Der heranrumpelnde Güterzug übertönt die Schmerzenslaute des Polizisten. Unter den vorbeifahrenden Tankwagen hindurch versucht er die andere Seite zu beobachten, sieht aber nur verwischte Schatten und die starren Umrisse schon kahler Bäume.
Das rote Schlusssignal der langen Waggonschlange verschwindet Richtung Bahnhof Eller. Die Gestalt am Zaun ist verschwunden. Ohne zu überlegen, hetzt Ganser nach links zur Straße, wo auch sein Wagen geparkt ist. Wieder lächelte die Glücksfee dem Beamten zu. Den Schmerz im Knie vergessend, rennt er um die Ecke. Er bleibt abrupt stehen, als er sieht, wie in fünfzig Metern Entfernung die dunkle Gestalt eine Abdeckplane von einem Motorrad entfernt. Das Geräusch eines Kickstarts, dann stört das Knattern einer nicht sehr schweren Maschine die Idylle der nächtlichen Siedlung. Ganser steigt erst in seinen Wagen, als die Gestalt auf dem Motorrad die Beleuchtung einschaltet und in die Dreher Straße abbiegt. Bis zur Glashüttenstraße bleibt er dann gerade so weit hinter dem Motorrad, dass er es nicht an einer Ampel aus den Augen verliert. Dann wird der Verkehr dichter, sodass er näher heranfahren kann, ohne bemerkt zu werden. Er greift zum Mikrofon und ruft die Einsatzzentrale im Präsidium. »Düssel 23-4 bei Verfolgung verdächtiger Person von Objekt Rotkäppchen Richtung Unterbach. Verdächtiger fährt Motorrad mit dem Kennzeichen D-KN 854. Überprüfung des Halters! Ende.«
Ganser hängt das Mikro wieder in die Halterung neben dem Radio, kommt dabei mit der Hand an sein rechtes Knie und schreit leise auf. Er tastet hinunter und fühlt Feuchtigkeit. Im Licht der eingeschalteten Innenleuchte sieht er einen großen Riss in der Hose und eine blutende Wunde am Knie.
»Schon wieder eine Hose hin!«
Das Motorrad biegt jetzt in schneller Fahrt auf den Autobahnzubringer zum Kreuz Düsseldorf-Süd. Der Lautsprecher knarrt. »Düssel für Düssel 23-4. Kommen!«
Nur die Bestätigung seiner Vermutung. Der Halter der Maschine heißt Helbig, Michael. Polizeilich gemeldet in Düsseldorf, Siedlerweg 69. »Ende Düssel 23-4!«
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Auf Anweisung des Innenministeriums wird für die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ein überraschender Einsatz angeordnet: Fahndung nach terroristischen Gewalttätern