Bevor die Kommissarin auch nur versuchen könnte, die erste Zeile des anschließenden Berichtes zu lesen, nimmt er die Zeitung rasch wieder runter und legt sie auf einen Tisch an der Wand des Krankenzimmers. Der für diese Art Zeitung sehr späte Bericht beginnt nämlich mit den Worten: »Viele Ungereimtheiten enthalten nach wie vor die Darstellungen der Düsseldorfer Polizei zu den Vorfällen von Mittwochnacht! Im Umfeld der überraschenden Verhaftung des unter dem Namen >Spritzer von Düsseldorf< berüchtigten Sexgangsters gibt es viele dunkle Stellen!«
Nein, das musste sie noch nicht lesen. Die Schlagzeile des Erfolgs genügt für den Moment. Erfolg? Na ja. Da fehlt noch etwas. Die Indizien sind schön und gut. Für das Gericht sicher ausreichend. Die Mutter hat sich inzwischen darauf berufen, dass sie natürlich nicht wissen konnte, dass ihr Sohn sich heimlich über den Zaun davonmachte. Ganz wie der Kriminalhauptmeister sich das gedacht hat. Es fehlt aber ein richtig sauberes Geständnis von Helbig. Und das hat selbst der große Häuptling persönlich bis heute nicht geschafft. Dass sich Chef Benedict trotz seiner anderweitigen Inanspruchnahme in die Sache so plötzlich eingeschaltet hat, liegt nur an der schwer verwundeten Frau vor ihm. In dem Moment, in dem ihre Identität klar war, schaltete der Hauptkommissar die Beamten Ganser, Doemges und Läppert einfach aus. Mit drei von anderen Kommissariaten überstellten Kollegen begann er dann die Vernehmung des stummen Helbig. »Ihr habt mir einfach zu viel Wut im Bauch. Da kann nichts Gutes bei rumkommen!«, hatte er gesagt und sie abgefertigt. Mit Häme denkt Ganser an diesem Sonntagmorgen, dass Entscheidendes ja auch bei Benedict bis jetzt nicht herausgekommen ist.
Die Augen zwischen den Verbänden haben einen fragenden Ausdruck, hinter dem aber der Schmerz lauert.
Der Kriminalhauptmeister reißt sich zusammen.
»Maria! Alle grüßen dich!«
Die leidende Mumie senkt die Augenlider und hebt die rechte Hand zu einer Geste der Bestätigung.
»Maria! Hör bitte genau zu! Wir haben noch kein Geständnis des Festgenommenen. Du bist die einzige lebende Zeugin. Dann hätten wir ihn. Verstehst du? Wenn ja ... kannst du noch mal den rechten Arm heben?«
Die Frau im Bett hebt wieder den Arm.
»Gut. Ich habe hier ein Foto des Mannes, den wir vor vier Tagen festgenommen haben. Wenn das der gleiche Mann ist ... aus dem Yuppi Du... heb' den rechten Arm!«
Die weit aufgerissenen Augen bestätigen nur noch die aufgeregte Bewegung des Armes.
»Danke, Maria. Wird dir sicher bald besser gehen!«
*
Am Nachmittag vor der Ankunft von Prinz Charles und Lady Diana in Westdeutschland fahren die ISAT-Leute nochmals sämtliche Sicherungsstationen im Bereich von Schloss Benrath ab.
Nachdem die letzten Tage keine weiteren Hinweise auf den Verbleib des Special Active Service Units der IRA gebracht haben, ist die Stimmung aller Beteiligten zum Zerreißen gespannt. Benedict hatte noch eine wenig erfreuliche Auseinandersetzung mit dem Innenminister höchstpersönlich. Dieser forderte, Anzeichen beginnender Panik im Amt, vom ISAT die Veröffentlichung der drei Terroristenfotos in der Tagespresse und im Fernsehen.
Nicht nur, dass sich dadurch die Panik des Ministers auch noch auf den Rest der Düsseldorfer Bevölkerung übertragen hätte, nein, die abgetauchten Terroristen wären damit auch noch zusätzlich davor gewarnt worden, irgendwo auch nur eine Nasenspitze zu zeigen. Ebenso hätten sie ihr Äußeres entsprechend den gezeigten Aufnahmen bis zur völligen Unkenntlichkeit verändern können. Dadurch wären die Chancen des ISAT schlechter als Null geworden.
Schließlich drohte Benedict dem verwirrten Mann in der Haroldstraße mit der Schließung der ISAT-Zentrale, wenn er diesen Unsinn nicht ließe. Er scheute sich durchaus nicht, den Begriff Unsinn dem Minister gegenüber zu verwenden, so gespannt war die Situation.
Also machten sie weiter wie bisher. Alle noch verfügbaren Leute liefen im Düsseldorfer Süden mit den Fotos der drei herum und befragten jeden, dessen sie habhaft werden konnten. Fehlanzeige.
Seit vergangenem Sonntag, an dem Benedict letztmals ein Mitglied des Kommandos zu Gesicht bekommen hatte, war niemand mehr von ihnen gesehen worden. Als seien sie vom Erdboden verschluckt. Der deutsche Hauptkommissar hatte immer noch die vage Hoffnung, dass die Iren den tödlichen Plan aufgegeben hatten. Eine Narretei, die man vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Belastung durch zwei schwierige und völlig andersgeartete Ermittlungsprobleme wohl nachsehen mag.
An allen Stationen sieht es gut aus. Die Überwachungsroutinen laufen normal. »Keine besonderen Vorkommnisse, Herr Hauptkommissar!«
Beunruhigt steigen die vier ISAT-Kollegen wieder in den Wagen.
Captain Hart erbittet einen kleinen Umweg über das Hauptquartier der englischen Rear Combat Zone in Düsseldorf-Lohausen. Mit ihm verschwinden O’Connell und McGrath in dem bewachten Eingang der Carnavan Barracks am Flughafen.
Benedict wartet neben dem Schild HQ RCZ am Tor auf die Rückkehr des ausländischen ISAT-Teils.
Nach einer Viertelstunde kommen die drei wieder herausgeschlendert. Hauptkommissar Benedict sieht, dass sich jetzt auch die Jacken von O’Connell und McGrath kräftig ausbeulen.
Es geht also los.
Kurze Zeit später teilt Ganser Benedict telefonisch mit, dass Kommissarin Leiden-Oster den Helbig auf einem Foto identifiziert hat. Innerlich diesen Edelpolizisten Ganser mit seinem Bedürfnis nach sauberen Geständnissen verfluchend, geht er wieder rüber in den Vernehmungsraum des Präsidiums.
Um 22 Uhr 45 ist es so weit. Michael Helbig bricht zusammen.
Zu Benedicts Verblüffung sind es nicht die umfassenden Indizien oder die Aussage der überlebenden Beamtin, die die Mauer des Schweigens schleifen, sondern ein ganz anderer Umstand:
Mit einem hysterischen Schrei springt der übermüdete Mann von seinem Stuhl auf. In seinen zuckenden Augen spiegelt sich fassungsloses Entsetzen. Die Hände werden ziellos in die Luft geworfen.
Gerade will der Wachbeamte sich auf ihn stürzen, da klappt Michael Helbig einfach auf dem Stuhl zusammen. Wie ein Taschenmesser.
Zwischen heiseren Schluchzern bricht es verzweifelt aus ihm heraus.
»Sie lebt? Sie lebt! Lebt! Lebt! Ich ... nicht der Sieger!!!«
Montag. 2. November. Auf dem britischen Militärflughafen in Berlin-Gatow landet die Maschine von Prinz Charles und Lady Diana zur ersten Station ihres Staatsbesuches in West-Berlin.
19
Um 16 Uhr startet auf dem englischen Militärflughafen Lyneham in Wiltshire eine grün-gelb gefleckte Hercules-Transportmaschine der Royal Air Force.
Ihrem Start voraus gingen mehrere ernste Telefonanrufe des Group Captain Casson aus Mönchengladbach und ein direkter Befehl aus Whitehall am heutigen Montag. Dieser Befehl aus dem englischen Verteidigungsministerium ergeht über das Joint Operations Centre an das SAS Command & Control Center in den Duke of York’s Barracks in London. Die Order erreicht binnen kürzester Zeit das fünfzehnköpfige Peloton II der D-Staffel, auch Sabre D genannt. Der