Ja. Es würde eine Menge Fragen geben.
21
Leere. Nach den hektischen ISAT-Tagen nun völlige Leere. Mit taubem Gefühl sitzt Hauptkommissar Vitus H. Benedict an seinem fast aufgeräumten Schreibtisch im >Weißen Haus<. Keine Feldbetten mehr. Nicht mehr O’Connells Pfeife. Nicht McGraths Geraunze. Und auch nicht die spöttischen Bemerkungen des unauffindbaren S.I.B.-Captains. Kein Funkgerät und kein nervtötendes Schrillen der Telefone. Was ist mit Liszt und Herrmann? Auch sie verschwunden. Aus ISAT II tragen Angestellte der Fotofirma die letzten Kartons mit den geliehenen Geräten hinaus.
Wohl zum zwanzigsten Mal spitzt Benedict an diesem Morgen den einzig verbliebenen Bleistift im Spitzer an. Er hat nur noch einen Stummel in der Hand.
Heute hätte der Tag sein sollen, der Höhepunkt der aufreibenden Arbeit der vergangenen Wochen. Aber statt auf Schloss Benrath dinieren Prinz Charles und Lady Diana im Münchner Prinz-Carl-Palais.
Ein interfraktioneller Untersuchungsausschuss des Düsseldorfer Landtags wird sich mit der sogenannten >Nacht von Benrath< befassen. Schon gestern Abend wurde dieser Beschluss von allen Fraktionen auf einer Sondersitzung gefasst. Kein Wunder. Bei der schlechten Presse! Viel würde gefragt werden, und viel würde vertuscht werden müssen. Oder wie sollte man der sogenannten Öffentlichkeit erklären, dass die angeblich so gut ausgebildeten Spezialeinheiten ihre Schießausbildung am Flipperkasten gemacht haben müssen. Schließlich wird man kaum zugeben können, dass die überraschend zusammengezogenen Einsatzkräfte nur unzulänglich munitioniert am Einsatzort eingetroffen waren, dass die deshalb dort bereitgestellte Munition durch ein Versehen der Logistik aus Übungs- und Leuchtspurgeschossen bestanden hatte, dass die Polizeiführung Leute ohne Geländekenntnis bei Dunkelheit einen unsinnigen Auftrag durchführen ließ. Nachdem die ersten scharfen Runden aus dem Mannbestand hektisch verschossen worden waren, gab es also nur ein munteres Platzpatronengefecht, umrahmt von sinnlosen Leuchtspurgarben. Das alles sollte mal jemand versuchen, der Öffentlichkeit zu erklären.
Benedict schüttelt den Kopf. Man wird sich sehr viel Mühe geben müssen, nicht allzu entlarvende Begründungen zu präsentieren.
Sein immer noch leerer Blick geht hinüber zum Klotzbau des Präsidiums. Durch die aufgerissene Wolkendecke tauchen Sonnenstrahlen das riesig wirkende Gebäude in gleißendes Licht.
*
Wut. Enttäuschung. Trauer. Noch immer toben die Gefühle in ihrem Inneren. Wie in Trance hörten sie am Tag nach ihrer geglückten Flucht aus dem Park die Nachricht und hielten es kurzzeitig sogar für eine gerissene Finte. Aber dann beobachtete Sean Savage, wie die Sicherheitsvorkehrungen am Schloss abgebaut wurden. Da begriffen sie langsam, dass all ihr Einsatz umsonst gewesen war. Gestern Abend war im Fernsehen zu sehen, wie die beiden Objekte ihrer Planungen in München von einem dicken Ministerpräsidenten begrüßt wurden. Donahue spuckte voller Hass auf den Bildschirm. Ende. Alles vorbei.
Aus halbgeöffneten Augen beobachtet Mairead Farrell ihre beiden Kampfgefährten, die auf der rüttelnden Ladefläche neben ihr liegen. Sean und Daniel haben die Augen geschlossen. Ob sie wirklich schlafen? Oder geht es ihnen wie mir?
Im Halbdunkel des geschlossenen TIR-LKW richtet sie ihren Oberkörper auf und lehnt sich an die klappernde Seitenwand. Bald würden sie in Antwerpen sein. Von da aus ging es auf einem Frachter nach Eire und über die grüne Grenze. Aber dann ...
Wieder steigt ein heftiger Schmerz in ihr auf, würgt in ihrer trockenen Kehle. Also keine Trikolore auf ihrem Sarg, in den stolzen Farben grün-weiß-orange. Keine standing ovations auf dem nächsten Ard Fheis Congress von Sinn Féin für die mutige Heldin Farrell. Und auch kein hallender Salut von den Kameraden mit den dunkelgrünen Baretten - am Grab der gefallenen Märtyrerin Farrell.
Und alles nur wegen der jämmerlichen Angst eines englischen Prinzleins.
Dabei war bis zum bitteren Schluss noch fast alles planmäßig gelaufen, trotz des unverhofften Zusammentreffens mit diesem verfluchten Deutschen in der Kirche. Daran war nur ihre Schwester schuld, die sie im Urlaub unbedingt verkuppeln wollte, und ihre eigene, verborgene Sehnsucht nach ein wenig so lange entbehrter Zärtlichkeit. Auch an diesem Montag hatten sie es geschafft. Und am Ankunftstag hätten sich Daniel und Sean in den Uniformen der GSG rechtzeitig unter die verschiedenen Polizisten gemischt, so wie sie es schon erfolgreich während des Besuches von Mitterand in Benrath gemacht hatten. McCann hätte seine Position auf dem Baum eingenommen, die Savage unten bewacht und abgeschirmt hätte. Bei ihm wäre das Funkgerät für die Auslösung der Ladungen gewesen, obwohl das alles wahrscheinlich überflüssig gewesen wäre. Ihr eigener, tödlicher Einsatz war so sicher geplant, so sicher, wie die ganze Aktion schon bei der ersten Kenntnis vom Ablauf des Staatsbesuches geplant worden war. Die sicherste Möglichkeit hatten sie im Schloss selbst gesehen, während des Festessens. Aber da würden sich nur die bekannten, persönlich geladenen Ehrengäste aufhalten — und das Bedienungspersonal! Der Schläfer hatte nicht lange gebraucht, um jemanden zu finden, der für einhunderttausend Deutsche Mark seinen Seelenfrieden verkaufen würde. Diese Person, Kellner eines Düsseldorfer Hotels, war schon des öfteren bei derartigen Anlässen als Bedienung eingesetzt gewesen, bei denen sich die Bedienungsmannschaft aus zusammengewürfeltem Personal verschiedenster Hotels und Restaurants zusammensetzte. Ein Freizeitjob, nicht mal besonders bezahlt, 12 Mark die Stunde und die Ehre. Er gehörte mittlerweile schon zum Stammpersonal derartiger Festempfänge und wurde auch bei bestehender Personalknappheit um die Vermittlung anderer Kellner und Kellnerinnen gebeten. Ihm war es ein Leichtes, dem mit der Ausrichtung des Empfanges beauftragten Hotel Nikko eine Kellnerin zu empfehlen, die äußerliche Ähnlichkeit mit Mairead Farrell aufwies. Die Frau sagte zu, und der Kontaktkellner ließ sich von ihr den Personalausweis geben. Wegen der erforderlichen Sicherheitsüberprüfung, wie er der Frau sagte. Dafür hätte allerdings die mündliche Übermittlung ihrer Personaldaten ausgereicht, denn nur diese wurden beim BKA überprüft. Nach erfolgter Sicherheitsbestätigung werden normalerweise zwei Lichtbilder der betreffenden Person über das Hotel an das BKA weitergeleitet, wo ein Zugangsausweis angefertigt wird. Für diese Bilder, die dann ans BKA gingen, hatte sich Mairead Farrell nach dem Foto des Personalausweises der Kellnerin zurechtgemacht. Am Mittwochabend hätte der Kontaktkellner dann die Frau angerufen, um ihr mitzuteilen, dass ihre Hilfe leider nicht mehr benötigt würde. Den Ausfall freilich bekäme sie erstattet, und ihren Ausweis brächte er ihr am nächsten Tag vorbei. Er selbst hätte am Donnerstagmorgen Krankheit vorgetäuscht, während Farrell sich am Sammelpunkt eingefunden und gegen Vorlage ihrer falschen Personaldokumente den Zugangsausweis erhalten hätte. Mit dem restlichen Personal wäre sie dann in dem Sammelbus nach Schloss Benrath gefahren. Wie der Kontaktkellner sagte, wurde die Kontrolle bei dem schon sicherheitsüberprüften Bedienungs- und Küchenpersonal äußerst nachlässig gehandhabt. Ohne Probleme hätte sie die an ihrem Körper befestigten Sprengladungen eingeschleust. Wie gut, dass sie ihrer Schwester manchmal aus Spaß im Restaurant ausgeholfen hatte. Jedenfalls wäre es ihr sicher gelungen, sehr dicht an die beiden Engländer heranzukommen, und dann hätte sie die Ladungen gezündet.
Auf einmal war alles vorbei. Statt des Fanals zum letzten Kampf nun vielleicht ein Disziplinargericht beim Belfaster Armeerat, hunderttausend Mark, die unwiederbringlich verloren sind, und keine neuen Balladen über