Die Grüne Feder. Petra Teufl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Petra Teufl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783863270575
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habe, konnte ich es nicht fassen“, erzählte sie. „Da haben wir Grabbeigaben gefunden, in die eindeutig Schriftzeichen geritzt waren. Die Gegenstände sind um einiges älter als die Keilschrifttafeln aus Mesopotamien! Eindeutig! Aber was sagen die Kollegen der Fachwelt dazu?“ Tante Edith sah uns an, als forderte sie uns zum Duell heraus. „Gar nichts! Das sei keine Schrift, sagen diese bornierten Wissenschaftler!“, schimpfte sie. „Aber denen werde ich beweisen, dass ich recht habe!“

      Papa und ich lachten zwar über ihre Aufregung und Wut. Doch sie meinte es bitterernst. Tantes Leidenschaft für ihr Fachgebiet hatte ich schon als Kind bewundert. Jetzt merkte ich, dass ich meiner Großtante in Bezug auf diese sprühende Energie ziemlich ähnlich war.

      Das alte Haus, in dem wir wohnten, lag mitten in der Altstadt und in der Nähe der Donau. Von hier aus führte Tante Edith uns wie eine geübte Stadtführerin durch die Gassen und über die Plätze der Stadt. Sie wusste unendlich viele geschichtliche Daten zu den Gebäuden und erzählte von den berühmten Menschen, die hier einmal gelebt hatten. Über die Schreiber der Stadt redete sie besonders lang. Diese hatten vor dreihundertfünfzig Jahren eine wichtige Stellung inne, als Kaiser, Könige und die verschiedenen Reichsfürsten ihre Angelegenheiten im Reichstag zu Regensburg verhandelten. Die hohen Herren kamen nur selten persönlich. Lieber schickten sie Vertreter und ließen sich von Boten über die Entwicklungen informieren. Die Schreiber führten Protokoll über die Sitzungen, versandten wichtige Informationen und fertigten Verträge und Gesetzestexte an. „Eine äußerst mächtige Stellung“, sagte Tante Edith. „Wer weiß, wie oft die Schreiber in ihren Dokumenten gelogen haben, um die Geschehnisse zu beeinflussen.“

      „Fake News im 17. Jahrhundert!“, lachte Papa.

      Mir ging etwas anderes durch den Kopf. Mama hätte aus dem, was Tante Edith erzählte, einen dicken, spannenden Roman schreiben können. Zu jedem alten Haus und Turm, zu jeder Brücke wären ihr Geschichten eingefallen. Dieser Gedanke schmerzte und deshalb sprach ich ihn nicht aus. Ich wollte die unbeschwerte Stimmung, in der wir uns durch diese Tage bewegt hatten, nicht zerstören. Das übernahm wenig später ein Anruf von Vaters Assistent Herr Späth. Als Papas Handy klingelte, standen wir gerade in einem Laden. Papa und ich probierten Pullover und Jacken an, um unsere Indien-Sommerkleidung mit wärmeren Klamotten zu ergänzen. Papa nahm das Gespräch an und ging damit vor die Tür, um in Ruhe telefonieren zu können. Zu Tante Edith, die ihn missbilligend ansah, flüsterte er eine Entschuldigung. Ich nahm den Stapel Jeans, Shirts und Jacken und verzog mich in die Umkleidekabine. Nach dem dritten Outfit, mit dem ich mich vor dem Spiegel gedreht hatte, stöhnte Tante Edith ungeduldig auf. „Ist doch egal, was du nimmst, Lara. Sieht doch alles irgendwie gleich aus.“ „Das ist gar nicht egal“, erwiderte ich empört. Obwohl ich mir sonst nicht so viel Gedanken um meine Kleidung machte, war ich nervös. Was trugen meine zukünftigen Mitschüler? Was war in und was war out? Ich wollte an meinem ersten Schultag auf keinen Fall durch Klamotten auffallen, die von gestern waren oder einfach keinen Stil hatten. Als ich mich endlich für zwei verschiedene Jeans und drei Shirts entschieden hatte, trug ich meine Ausbeute zu Tante Edith und Vater, die die Köpfe zusammensteckten.

      „Was ist los?“, fragte ich.

      „Morgen muss ich in die Firma“, antwortete Papa ernst.

      „Wenn das so ist, wird es Zeit, einen Kaffee im Schloss trinken zu gehen“, stellte Tante Edith fest.

      „Edith, muss das jetzt sein?“, stöhnte Vater gequält.

      „Ich kann mit Lara allein gehen, wenn es dir zu schwer fällt“, antwortete Tante Edith.

      „Nein, ich will dabei sein.“

      „Was ist denn los?“, fragte ich, während ich Papa, dem Mann mit der Kreditkarte, die Klamotten in die Arme drückte. „Nichts weiter“, antwortete Tante Edith. „Wir müssen dir nur etwas über deine Mutter erzählen. Und über dich.“

      Tante Ediths Worte wirkten wie ein kleines Loch in einem Luftballon. Spürbar und stetig wich die unbeschwerte Laune. Was würde Tante Edith mir über meine Mutter erzählen? Was musste sie so gewichtig ankündigen? So entschlossen und ernst, wie Tante Edith meinen Vater ansah, würde es nicht um „Nichts“ gehen, wie sie behauptet hatte. Vor sieben Jahren, mit dem Umzug nach Indien, hatte ich meine ganze Traurigkeit und Sehnsucht nach meiner Mutter innerlich in eine Kiste gepackt. Ich befürchtete, dass Tante Edith heute ihre Hand auf den Deckel dieser Kiste legen würde, um sie zu öffnen.

      Während mein Vater Edith die Tür zum Café aufhielt, das in einem ehemaligen Lagergebäude des Schlosses untergebracht war, kam der Kellner lächelnd auf uns zu. „Schön, dass Sie uns wieder einmal beehren, Frau von Schelling“, sagte er.

      Da wurde ich hellhörig. „Warst du schon öfter hier, Tante Edith? Hast du hier schon geforscht? Die haben sicher eine riesige Bibliothek, oder?“, fragte ich, als ich ihr zu einem Tisch folgte.

      „Ich bin praktisch Stammgast hier“, antwortete Tante Edith und bestellte für uns. Als wir schweigend in unseren Cappuccini rührten, platzte mir dann irgendwann doch der Kragen. Mir ging diese ganze Geheimnistuerei mächtig auf den Senkel und dass ich alles nur häppchenweise zu hören bekam, hatte mich schon auf dem Flug mit meinem Vater fast in den Wahnsinn getrieben.

      „Was wollt ihr mir erzählen? Ihr seht so düster aus, wie auf einer Beerdigung“, platze es unüberlegt aus mir heraus.

      „Edith und ich haben beschlossen, dir so viel von unserer Situation in dieser Stadt zu erzählen, wie möglich. Du sollst nicht in die Schule gehen, ohne zu wissen, was los ist“, sagte Papa.

      „Du hast doch schon erklärt, dass du Nachforschungen zu Mamas Unfall anstellen willst.“

      „Es ist alles komplizierter, als du denkst“, stammelte Papa und sah Tante Edith eindringlich an.

      „Lara, hast du das Schild vorne am Tor gesehen?“, fragte Tante Edith und übernahm das Gespräch.

      „Meinst du das Wappen von dieser Fürstenfamilie aus dem Schloss?“

      „Nein, das andere meine ich. Gilde der Schreiber steht darauf. Die Gilde hat in diesem Schloss ihren Hauptsitz und ich arbeite seit vielen Jahren für sie. Deine Mutter war Mitglied der Gilde. Als sie damals in Regensburg war, hat sie an einem Treffen der Gilden-Mitglieder teilgenommen. Genau von hier ist sie losgefahren, als sie ihren Unfall hatte.“

      Auf einmal erschien mir die prunkvolle Fassade des Schlosses nicht mehr so strahlend.

      „Mama hat damals gesagt, sie fahre zu einem Schriftsteller-Treffen“, sagte ich leise. Ich hatte bisher nie konkret über Mamas Unfall geredet. Es fiel mir schwer, zu atmen. Es fühlte sich an, als würde ich zwischen zwei Felsbrocken unaufhaltsam zerquetscht werden.

      „Die Gilde kann man mit einem Berufsverband für schreibende Berufe vergleichen“, erklärte Tante Edith, wobei sie in ihre Tasse starrte, als lese sie dort ab, was sie sagen sollte. „Sie ist aber mehr. Wir beschützen verfolgte Journalisten und Blogger auf der ganzen Welt und fördern besondere Schreibtalente.“ Sie ließ ihren Blick durch das Café schweifen. „Sophie, deine Mutter, war eines dieser Talente. Es ist eine spezielle Art des Schreibens. Wir nennen es wahrhaftiges Schreiben. Man kann es nicht erlernen. Diejenigen, die dieses Talent haben, müssen geschult werden, damit sie die Gabe handhaben können. Denn die Texte von wahrhaftigen Schreibern sind so kraftvoll, dass sich deren Leser ihrem Inhalt nicht entziehen können. Die Texte haben quasi eine hypnotische Wirkung.“

      Ich rührte mit regelmäßigen Bewegungen den Rest meines Kaffees in der Tasse zu einem Strudel, während mein Kopf versuchte, Tante Ediths Worte zu begreifen und Papas ernste Miene einzuordnen.

      „Natürlich konnte Mama hypnotische Texte verfassen“, sagte ich. „Sie war aus gutem Grund eine erfolgreiche Schriftstellerin.“

      Tante Edith beugte sich mit einem wissenden Lächeln über den Tisch zu mir herüber. „Es war mehr als das. Deine Mutter hätte hier und jetzt auf einen Zettel ein paar Worte schreiben können, die einen Gast am Nebentisch dazu auffordern, etwas für uns zu erledigen. Dann hätte sie diesen Zettel dem Gast gereicht. Der hätte ihn gelesen und wäre auf der