Dieses Tagebuch schreibe ich in der Geheimschrift, die ich vor Jahren mit der Grünen Feder entwickelt habe. Kein Schriftforscher, kein Kryptograph, nicht einmal Tante Edith wird sie entschlüsseln können. Auch Charles Braxton nicht. Diese Datenkrake mit seiner elektronischen Waffenkammer voller Software, Programmen, Apps und fieser Spyware würde sich die Zähne an dieser Schrift ausbeißen, sollte er sie in die Hände bekommen. Das wird aber nicht passieren. Ohne meine Hilfe liest keiner diese Aufzeichnungen. Denn in dieser Schrift steckt die Magie der Grünen Feder. Außer Lara vielleicht. Ihr bringe ich gerade mit viel Freude diese Schrift bei. Sie saugt jedes Zeichen, jeden Strich neugierig in sich auf. Gestern fand ich einen Zettel in meinem Bett, auf den sie „Gulte Nocht“ in der Geheimschrift geschrieben hat. Ich schrieb ihr gleich eine Botschaft zurück. „Guten Morgen, Lara“. Bin gespannt, ob sie das entziffern kann. Aber auch Lara wird dieses Tagebuch nicht lesen. Warum sollte sie? Ich werde es wie die anderen am Ende meiner Zeit als Federschreiberin am 31. Oktober verbrennen.
2 .
Einige Stunden später kauerte ich neben meinem Vater in einem breiten Sitz der Businessclass einer Air-India-Maschine und starrte aus zehn Kilometer Höhe auf die kargen Berge Pakistans. Bis zur Landung in Frankfurt lagen endlos viele Stunden vor mir. Ich drehte die Lautstärke meines Handys hoch und füllte mir Ohren und Kopf mit den Bollywood-Hits meiner Lieblingsplaylist. Gedankenverloren zählte ich die weißen Schaumwolken, die sich in dem weiten Blau tummelten. Doch weder die tolle Aussicht noch die indischen Tanzrhythmen konnten mich aufheitern. Ich vermisste Aisha und Amal, meine Schulfreundinnen und einfach alles, wovon wir uns gerade mit einer Riesengeschwindigkeit entfernten. Ich wollte einfach nicht dahin, wo dieser Flieger uns absetzen würde. Das hatte ich auch meinem Vater laut und deutlich entgegengeschleudert, als er vor einigen Wochen mit diesem Brief in mein Zimmer kam. Ich wollte nicht nach Deutschland und schon gar nicht nach Regensburg. Nicht in diese Stadt, in der meine Mutter vor sieben Jahren in ihr Auto gestiegen war, um niemals bei uns zu Hause in München anzukommen.
„Ich weiß“, hatte Papa geantwortet.
„Ja und? Lässt du mich jetzt hier in Neu-Delhi bei Aisha? Fliegst du allein?“, fragte ich spitz, weil ich seine Antwort schon kannte.
„Nein.“
Stattdessen hatte er erneut mit diesem Brief vor meinem Gesicht herumgewedelt und rezitiert: „Wir bestätigen den Eingang ihres unterschriebenen Arbeitsvertrages für BRAXWORLD in der Europazentrale in Regensburg. Wir freuen uns ... bla, bla, bla ...“
„Ich habe es gelesen. Na und? Du willst einen neuen Job. Was habe ich damit zu tun?“, fauchte ich.
Klar war das eine Superchance für meinen Vater. Schließlich war er ein international bekannter Spezialist für alles, was mit Computern zu tun hatte. Und BRAXWORLD war der international erfolgreichste Computerkonzern. Er entwickelte, produzierte und verkaufte das Betriebssystem DOORS, mit dem praktisch jeder Computer auf dieser Welt betrieben wurde. Dazu bot er den meistgenutzten Internet-Browser und andere Onlinedienste an. Jeder, der sich nicht mit der Vielfalt des IT-Universums auskannte, glaubte, ohne BRAXWORLD würde sich die digitale Welt nicht drehen. Dass mein Vater für deren Europazentrale arbeiten wollte, leuchtete mir ein.
„Bitte erkläre mir, warum ich deshalb auch umziehen soll“, bohrte ich weiter.
„Weil die Stelle in Deutschland ist. Das ist zu weit weg für eine Vater-Tochter-Fernbeziehung.“
„Wieso? In den letzten Jahren warst du auch beruflich mehr unterwegs als zu Hause. Und? Bin ich deshalb verlottert? Von Deutschland aus kannst du auch alle paar Wochen kommen. Du könntest auch von Indien aus arbeiten. Bei dem ganzen elektronischen Schnickschnack, den BRAXWORLD bietet, wird das doch wohl möglich sein.“ Ich lehnte mich erschöpft in den Sessel zurück. Papa rieb sich nervös die Hände, stand auf und tigerte durch das Zimmer. Fehlten ihm die Worte oder überlegte er, ob mein Vorschlag machbar wäre? Hoffnung keimte auf. „Kannst du nicht in Paris für BRAXWORLD arbeiten“, fragte ich vorsichtig, „oder in Schottland oder Finnland, egal wo, nur nicht in Regensburg!“
Jetzt drehte sich mein Vater um und sah mich mit versteinerter Miene an. Ich hatte absolut keine Chance, das erkannte ich sofort.
„Eben weil diese Stelle in Regensburg ist, habe ich mich beworben und eben deshalb ziehen wir dorthin.“
„Papa ... “, brauste ich auf.
„Nein, Lara“, unterbrach er mich. „Jetzt hör mir mal zu.
Für uns beide wird es Zeit, diese Flucht zu beenden“, sagte er eindringlich, wobei er meine Hand in seine nahm.
„Du kannst ja beenden, was du willst“, fauchte ich und entzog ihm meine Hand. „Ich bleibe hier bei Aisha!“
Als Papa wieder durchs Zimmer wanderte, wirkte er, als trage er einen Zentnersack Orangen.
„Es ist auch für mich nicht einfach“, gab er zu. „Es ist aber eine Chance.“
„Eine Chance für wen, für was?“
„Eine Chance für uns beide, mit der Vergangenheit abzuschließen und letzte Fragen zu dem Unfall deiner Mutter zu klären.“
„Was denn für Fragen? Mama ist gegen einen Baum gefahren und gestorben. Aus und fertig!“
Vater drehte sich zu mir um und sah mich prüfend an. „Ja und Nein. Ja, deine Mutter fuhr gegen einen Baum und sie starb dabei. Nein, es ist nicht alles ganz aufgeklärt worden. Den Zeugenaussagen habe ich nie ganz geglaubt. Deshalb will ich genau dorthin, wo das Unglück passierte. Genau dort werde ich die Fragen klären, die mich seit sieben Jahren quälen.“ Mein Vater ist ein gut aussehender, großer Mann mit sportlicher Statur, braun gebrannt und mit entspannten Gesichtszügen. Aber so, wie er in dem Augenblick vor mir stand, gebeugt, grau im Gesicht und mit unbeweglicher Miene, hatte ich ihn nur einmal gesehen. Bei der Beerdigung meiner Mutter. Er holte tief Luft. „Ich kann mich nicht darauf konzentrieren, wenn ich mir gleichzeitig Sorgen um dich machen muss“, gestand er leise. „Ich bitte dich, mach es mir nicht noch schwerer, als es sowieso schon ist.“
Das war der Moment, in dem etwas in mir einknickte. Dass Papa unsere stille Übereinkunft, nicht über Mamas Tod zu reden, brach, musste einen triftigen Grund haben. Er würde mich sonst nicht diesem stechenden Schmerz aussetzen.
„Und wenn ich Heimweh habe, darf ich dann zurück?“, fragte ich.
„Gib mir ein halbes Jahr“, bat Papa.
„Gut“, willigte ich ein. „Aber dann darf ich für mich entscheiden.“ Ich kroch aus meiner Sesselhöhle, ging auf ihn zu und wir umarmten uns so fest wie seit Jahren nicht mehr. „Danke“, hauchte Papa.
Die Stewardess war schon einige Male vorbeigekommen. Sie hatte lächelnd Getränke und Essen serviert, das Geschirr eingesammelt und Kopfhörer für den Film angeboten. Ich suchte mir gerade auf dem Display in der Lehne vor mir einen Hollywood Blockbuster aus, als Papa meinen Arm festhielt. „Wir müssen reden“, sagte er.
„Worüber denn?“, seufzte ich. Genervt sah ich zu ihm rüber. Mein Vater hatte den Laptop aufgeklappt und einen USB-Stick angesteckt. Das Logo von BRAXWORLD erschien auf dem Monitor, dann tauchte das schmale, kantige Gesicht von Charles Braxton, Gründer und Präsident des Konzerns auf. Mit wenigen Worten erklärte die Bildunterschrift, dass dieser Mann innerhalb weniger Jahre aus einem kleinen Start-up-Unternehmen im Silicon Valley in den USA ein gigantisches Imperium gemacht hatte.
Eine kurze Einführung endete mit der Vision, die Charles Braxton zu seinen Taten antrieb:
Jeder Mensch auf der Erde soll gleichberechtigt an den Möglichkeiten