Ich sah ihn fragend an. Konnte er nicht alles erzählen, ohne dass ich ständig nachfragen musste?
Papa reagierte sofort und erzählte weiter: „Edith hat das zur Bedingung gemacht. Sie meinte, ihr beide würdet euch in einer normalen Wohnung in der Altstadt wohler fühlen. Außerdem hasst sie BRAXWORLD und vor allem Charles Braxton.“ „Echt? Wie soll das dann gehen, du und sie in einem Haushalt?“, fragte ich lachend.
„Tja, wir werden uns eben zivilisiert benehmen müssen“, antwortete Papa.
Ich ließ meinen Kopf gegen die Kopfstütze sacken und zählte die Punkte im Muster auf der Dachbespannung. Ich hatte genug Neuigkeiten gehört. Erschöpft nickte ich ein.
Ich öffnete erst wieder die Augen, als die Limousine in einer engen Straße über Kopfsteinpflaster fuhr und vor einem dreistöckigen Haus aus einem längst vergangenen Jahrhundert anhielt. Herr Späth öffnete die Autotür und half mir beim Aussteigen. Da sich meine Beine wie Pudding anfühlten, ließ ich es zu. Ich sah an der Fassade entlang nach oben. Anscheinend war nur die erste Etage renoviert worden. Hier waren moderne Fenster eingebaut, während die oberen aus alten Holzrahmen mit abblätternder Farbe und verschmierten Scheiben bestanden. Ich zeigte zum Haus. „Hinter welchen Fenstern wohnen wir?“, fragte ich.
„Natürlich im renovierten Teil des Hauses! Charles Braxton hat es extra für uns herrichten lassen“, antwortete Papa.
„Okay, dann bist du also wirklich ein ziemlich hohes Tier in dieser BRAXWORLD“, staunte ich. Dass ein Konzernchef für einen Angestellten mit Tochter und misstrauischer Großtante eine Wohnung renovieren ließ, fand ich ungewöhnlich. Papa legte seine Hand auf meinen Rücken und führte mich zur Haustür. „Ja, das bin ich“, flüsterte er mir ins Ohr.
Herr Späth gab eine Nummernfolge in eine Tastatur neben dem Klingelschild ein. Dann steckte er einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Ich bemerkte eine Überwachungskamera neben der Haustür.
„Sind wir überfallgefährdet oder sind das die normalen Sicherheitsvorkehrungen für hohe Tiere?“, fragte ich und deutete auf die Kamera.
„Letzteres, denke ich mal“, erwiderte Papa.
Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, winkte Herr Späth uns in die Eingangshalle. Eine breite, geschwungene Holztreppe führte in die oberen Etagen. Als wir nach dem ersten Abschnitt um die Kurve bogen, erwartete uns Tante Edith. Ich erkannte sie sofort wieder. Als wäre sie keinen Tag älter geworden, stand sie in ihrem grauen Kostüm, Blümchenbluse und ihre langen Haare zu einem Knoten zusammengesteckt mit ausgebreiteten Armen am Treppenabsatz.
„Thomas! Lara! Endlich seid ihr da!“, rief Tante Edith. Ihre Stimme klang hell und beschwingt durch den Hausflur. Unwillkürlich musste ich lächeln. Tante Edith hatte für mich immer nach Optimismus und Zuversicht geklungen.
„Edith, ich freue mich, dich wiederzusehen!“, sagte Papa und die beiden küssten sich auf die Wangen. Dann drehte Papa sich um und deutete auf mich. „Und Lara habe ich auch dabei.“
Als Tante Edith auf mich zukam, wurde mir mulmig zumute. Ich hatte vergessen, dass sie genauso große, braune Augen hatte wie Mama. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, legte sie behutsam die Arme um mich. Ein Hauch von Veilchenduft umgab sie und sie fühlte sich weicher an, als ich in Erinnerung hatte. So lang wie früher war sie auch nicht mehr.
„Lara, meine Liebe! Du siehst Sophie so ähnlich. Genauso hübsch — der gleiche Wuschelkopf, braunen Augen. Ach, ist das schön, dich zu sehen!“, seufzte sie und musterte mich aufmerksam von allen Seiten, bevor sie mich nochmals fest an sich drückte.
Ich atmete tief durch und erwiderte ihre Herzlichkeit. Ich war erschöpft von dem Abschied, der Reise und Papas tollen Neuigkeiten und jetzt war Tante Edith da, eindeutig Mitglied der Familie meiner Mutter, und schloss mich freundlich in ihre Arme. Das war fast zu viel! Ich schluckte, um aufsteigende Tränen davon abzuhalten, loszurollen. Tante Edith schien das zu merken. Sie lotste uns freundlich in die Wohnung und verabschiedete Herrn Späth mit knappen Worten — und schon schwang die Wohnungstür zu.
4.
Die folgenden Tage verbrachten Tante Edith, Vater und ich in einem ausgesprochenen Ausnahmezustand. Wir machten Urlaub! Wir nahmen uns frei von der komplizierten Situation, die uns zusammengebracht hatte. Bis zum Schulanfang waren es noch ein paar Tage hin, und ich wurde immer gespannter auf meine neue Schule, meine Lehrer und Mitschüler. Mein Vater ließ seinen Laptop ausgeschaltet in einer Schublade liegen. Das hatte ich noch nie erlebt. Wenn er dann aber doch einen kurzen Blick auf sein Smartphone warf, um seine Nachrichten zu checken, schimpfte Tante Edith wie eine Oberlehrerin.
„Thomas!“
„Edith, bitte, ich schau nur schnell nach, was in der Arbeit so läuft“, antwortete Vater.
„Du weißt, ich kann diese Dinger nicht leiden. Schon gar nicht in meiner Gegenwart.“
„Schon gut, ich schalte es wieder aus und lege es weg.“ Vater drückte demonstrativ auf den Knopf an der Seite des Smartphones und legte es weg.
„Danke“, sagte Tante Edith und widmete sich wieder ihrer Tätigkeit.
„Hast du Angst vor den Strahlungen der Smartphones, Tante?“, fragte ich.
„Nein, Lara“, antwortete Tante Edith und sah mich ernst an. „Aber ich will mich ungestört mit euch unterhalten und nicht mit Charles Braxton.“
„Wie meinst du das?“
„Deine Tante meint“, platzte Vater dazwischen, „Charles Braxton würde jedes elektronische Gerät überwachen, das mit seinem Betriebssystem Doors läuft. Edith, das ist lächerlich.“
„Ist es nicht, Thomas und das weißt du genau!“, erwiderte Tante Edith genervt. Papa hob die Hände in die Höhe und ergab sich, die Augen rollend, ihrem Wunsch. Ich lächelte über diesen Streit. Er erschien mir wie die typische Auseinandersetzung zwischen einem Technikfreak und einer alten Dame, die moderne Geräte für Teufelswerk hielt. Mein Eindruck bestätigte sich, nachdem ich einmal einen Blick in Tante Ediths Zimmer werfen durfte. Sie verschloss es in der Regel sorgfältig und hatte mir eingeschärft, dass ich in ihrem Reich nichts zu suchen hätte. Das ist nur fair, dachte ich, solange sie es genauso mit meinem Zimmer hält. Als sie die Tür öffnete und mich hereinbat, stockte mir der Atem. Tante Ediths Leidenschaft war offensichtlich: Stöbern in alten Büchern, Studieren seltsamer Schriften und Rätseln über die Bedeutung von Symbolen. Der Raum war vollgestellt mit überquellenden Bücherregalen, einem riesigen, mit Papieren und Büchern beladenem Schreibtisch, einem Glasschrank, in dem vergilbte Papyrusrollen und Pergamente lagerten, und Tischchen, die als Ablage für verschiedene Schreibinstrumente, Mappen und Ordner dienten. In der Ecke standen ein schmales Bett und ein eintüriger Kleiderschrank. Das waren die einzigen Zeichen dafür, dass Tante Edith hier auch wohnte und nicht nur forschte. Während ich neugierig durch das Zimmer ging, zupfte sie an Papieren herum und rückte einen Stiftebecher hin und her. „Normalerweise verschwinde ich für Tage in diesem Durcheinander. Da ich allein lebte, hat das niemanden gestört. Aber ich werde mich bemühen, rechtzeitig rauszukommen, wenn du mich brauchst, Lara“, gestand sie verlegen.
„Und ich werde mich bemühen, dich nicht zu stören. Dein Zimmer ist ja der Wahnsinn. Zeigst du mir mal, was du hier alles rumstehen hast?“, fragte ich neugierig und strich mit den Fingern leicht über eine Pergamentrolle, die ich am liebsten sofort ausgerollt hätte, um zu sehen, was darauf zu entdecken war. „So wie früher, Tante Edith, da hast du mir oft aus alten Büchern vorgelesen, erinnerst du dich?“
„Natürlich, Lara. Dass du das noch weißt, freut mich.“ Sie lotste mich wieder auf den Flur, als könnten meine Blicke ihre undurchschaubare Ordnung durcheinanderbringen.
Beim Essen erzählte Tante Edith dann von ihren Forschungen an den verschiedenen Universitäten in der ganzen Welt. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie diese Frau in ihrem