„Lara, schön, dass du es noch geschafft hast. Heute ist ein großer Tag für dich. Du darfst in deine Heimat zurück“, sagte er mit sanfter Stimme, obwohl er wusste, dass ich den Umzug ganz anders bewertete. Ich hatte ihm oft genug erklärt, dass Indien, dass Neu-Delhi meine Heimat sei. Aber das glaubte er mir einfach nicht. „Warte es nur ab“, sagte er dann. „Wenn du erst wieder in Deutschland bist, wirst du es spüren.“
Amal hob den Deckel seines Tisches an und nahm etwas heraus, das er mit beiden Händen umschloss, kurz an seine Brust drückte und mir schließlich entgegenstreckte. Er öffnete die Hände und mir stockte der Atem. Amal hielt mir den Waterman entgegen. Dieser Füllfederhalter war aufgrund seiner Geschichte etwas ganz Besonderes.
Vor ungefähr hundert Jahren hatte ein englischer Offizier diesen Füller mit nach Indien gebracht und ihn Amals Urgroßvater, der als Schreiber für ihn tätig war, geschenkt. Damit begann die Tradition der Schreiber in der Familie Yadav. Bei einem meiner ersten Besuche bei Amal sah ich ihn mit diesem Waterman einen Brief schreiben. Mir fiel sofort die Federspitze des Füllers auf. Sie war nicht wie üblich bei alten Füllfederhaltern aus Gold, sondern aus einem braunen Material. Sie passte gar nicht auf diesen Waterman. „Was ist das für eine Federspitze?“, fragte ich den Schreiber. „Sie sieht seltsam aus.“
Amal hielt den Waterman in die Sonne und das Licht leuchtete goldbraun durch die Federspitze.
„Ein Geschenk von einer besonderen Freundin“, antwortete Amal und drehte den Füller im Licht. „Sie ist ein einzigartiges Kunstwerk aus Horn und Gold. An der Spitze steckt ein winziger Rubin als Schreibkugel. Wunderschön, nicht wahr?“, schwärmte er. Ich staunte mit offenem Mund. „Darf ich sie mir einmal genau ansehen?“, fragte ich und streckte meine Hand nach dem Waterman aus.
„Nein!“, entschied der sonst so sanfte Amal streng, schraubte die Kappe auf den Füller und legte ihn in die Schublade. „Du darfst diesen Waterman niemals in die Hand nehmen!“, befahl er.
„Warum?“, fragte ich überrascht.
„Das geht dich nichts an.“
Seitdem packte Amal den Waterman immer schnell weg, wenn ich mich seinem Schreibplatz näherte. Auch, wenn ich sein Verhalten sehr verwunderlich fand und die harsche Zurechtweisung nicht ganz zu dem sanftmütigen Amal passen wollte, dachte ich über diese Eigenwilligkeit des alten Mannes nicht weiter nach. Schließlich hatte jeder Mensch seine ganz persönlichen Heiligtümer, die er mit niemandem teilen wollte. Warum also nicht auch der alte Schreiber Amal Yadav?
Und jetzt hielt er mir diesen Waterman als Abschiedsgeschenk entgegen?
„Dieser Füllfederhalter soll dich auf deinem Weg begleiten“, sagte Amal mit weicher Stimme.
„Aber du hast mir doch verboten, ihn anzufassen“, erwiderte ich erstaunt.
„Ich habe es mir anders überlegt. Das dürfen alte Männer doch, oder?“, lächelte Amal.
„Das kann ich nicht annehmen“, entgegnete ich leise. „Der gehört in deine Familie, deinem Sohn oder deiner Tochter!“
Amal nickte ernst, so wie er es stets tat, wenn er sich überlegte, ob das, was ich sagte, Sinn ergab.
„Du hast recht, trotzdem sollst du ihn haben!“, bestimmte er.
Zögernd nahm ich den Füller aus seinen Händen. Seine Oberfläche war schwarz und glatt, wie poliert, mit einigen Kratzern darauf - Zeichen seines Alters.
„Meine Kinder“, lachte Amal fröhlich, „sind gute Kinder! Aber sie sind keine Schreiber.“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Dieser alte Waterman will zu einem Schreiber — und du bist eine Schreiberin, Lara. Er ist ein Geschenk. Als Dank für deine Hilfe. Du hast mir durch dein Schreiben viele zufriedene und glückliche Kunden gebracht.“
Ich ließ den Füllfederhalter vorsichtig durch meine Hände gleiten und schraubte die Kappe ab. Eine goldene Federspitze blitzte in der Sonne und nicht die seltsame Spitze, die mich vor Jahren fasziniert hatte.
Dann hielt mir Amal ein kleines Holzkästchen entgegen. „Für diese Federspitze bist du noch nicht bereit, Lara“, erklärte Amal, öffnete das Kästchen, in dem die mit Goldadern durchzogene Hornspitze lag. Bevor ich sie neugierig aus dem Kästchen nehmen konnte, klappte Amal den Deckel wieder zu.
„Versprich mir“, forderte er eindringlich, „dass du die Hornspitze erst auf den Waterman steckst und benutzt, wenn du sie beherrschen kannst. Solange schreibst du mit der Goldspitze.“
„Woran merke ich das? Wenn ich in der Schule in Literatur ein A als Note bekomme?“, fragte ich.
Amal lachte. „Nein, Lara. Du wirst es spüren“, er deutete auf seine Brust. „Mit dem Herzen, verstehst du?“ Ich nickte, weil ich nicht zugeben wollte, dass ich keine Ahnung hatte, wovon der alte Schreiber sprach.
„Du wirst beides in Deutschland brauchen. Damit wirst du so schreiben wie deine Mutter“, fuhr Amal fort und ergriff meine Hände.
„Ich werde sicher nie so eine gute Schriftstellerin wie Mama.“
„Sie war mehr als eine weltbekannte Autorin“, erwiderte Amal. „Sie war eine wahrhaftige Schreiberin.“
Ich hörte zwar Amals Worte, doch ich hielt sie für eine seiner rätselhaften Weisheiten.
Bevor meine Tränen auf unsere Hände tropften, zog ich sie zurück und durchwühlte meine Taschen nach Schätzen, die ich verschenken könnte. Ich zog einen pinkfarbenen Kuli hervor, an dessen Ende an einem rosa Bändchen ein Plastikherz baumelte. Verlegen reichte ich ihn Amal.
„Ich habe nicht viel dabei. Mit einem so großen Geschenk von dir habe ich nicht gerechnet“, sagte ich.
Amal nahm den Kuli und lachte. „Er ist ganz wunderbar! Danke, Lara, er wird mich immer an dich erinnern!“
Eine junge Frau näherte sich schüchtern dem Schreiber. Ich stand auf und grüßte Amal mit gefalteten Händen. „Ich werde dir schreiben“, versprach ich und machte den Platz für die Kundin frei.
Aufzeichnungen der Federschreiberin Sophie Ritter, geborene von Schelling:
Januar des siebten Jahres mit der Grünen Feder:
Ich sollte nicht wieder damit anfangen. Aber ich kann nicht anders. Ich muss schreiben. Ohne Schreiben ertrage ich diese ganze Situation nicht. Meine Tagebücher der letzten sechs Jahre als Schreiberin der Arundoveridis, dieser magischen Grünen Schreibfeder, habe ich an Silvester verbrannt. Der Wind verteilte die Asche in alle Richtungen. Es wird keine schriftlichen Zeugnisse meiner Zeit als Federschreiberin geben. Denn alles, was auf Papier festgehalten wird, kann gestohlen, der Inhalt falsch verstanden, manipuliert und irreführend verbreitet werden. Das ist zu gefährlich. Dieses Risiko will ich nicht eingehen. Wenn ich Ende Oktober nach Regensburg fahre und die Arundoveridis dem Vorstand der Gilde der Schreiber zurückgebe, wird sie sich einen neuen Schreiber wählen. Dann erst werde ich mündlich von dem feigen Abkommen zwischen der Gilde und dem machtgierigen Datenfürst von BRAXWORLD, Charles Braxton, berichten. Ich werde den Gilden-Mitgliedern erzählen, dass Unrecht, Erpressung und Angst mich daran hinderten, die Kraft dieser Feder zum Wohle der Menschen